Suche nach Identität zwischen Ost und West
Orhan Pamuks Frühwerk besticht durch eine einer verblüffenden Altersweisheit und Reife
Es gab eine Zeit, da war es sehr still um den späteren Nobelpreisträger Orhan Pamuk: Mit 23 Jahren fasst er den Entschluss, Schriftsteller zu werden und widmet sich fortan ganz dem Schreiben. Von der Mutter finanziell unterstützt, zieht er sich in das abgeschiedene Ferienhauses der Familie auf einer kleinen Insel vor Istanbul zurück und schreibt jede freie Minute. Für sein erstes, über 800 Seiten starkes Manuskript „Cevdet Bey und seine Söhne“ erhält er sogar eine Auszeichnung, doch er findet keinen Verleger. Pamuk schreibt acht Jahre lang unbeirrt weiter, Jahr um Jahr ohne öffentlichen Widerhall und ohne Publikation.
Keineswegs still war es um Orhan Pamuk herum Ende der 1970er Jahre. Da stand sein Heimatland am Rande eines Bürgerkriegs. Angst und Agonie herrschten überall, sämtliche Ostprovinzen des Landes standen unter Kriegsrecht. Politische Splittergruppen kämpften gegeneinander: Nationalisten, Faschisten, Traditionalisten, Sozialisten, Kommunisten – alle Gruppierungen, die das politische Spektrum für eine Gesellschaft auf der Suche nach Orientierung bereithielt, waren auf den Straßen. Die Zahl der Toten überstieg tagtäglich das Dutzend. Bis am 12. September 1980 das Militär mit einem blutigen Putsch eingriff und „für Ruhe sorgte“. Diese schlimme Zeit kurz vor dem dritten Putsch in derGeschichte der türkischen Republik ist auch die Zeit der Handlung von Pamuks Frühwerk „Das stille Haus“.
Dieses alte, dem Verfall geweihte Haus liegt inmitten von Neubauten am Ufer des Marmarameeres, mit dem Auto eine knappe Stunde von Istanbul entfernt. Bewohnt wird es von der 9o-jährigen traditionsbewußten Großmutter Fatma, die ihre Marotten und leider auch Giftigkeiten an ihrem zwergwüchsigen Diener Recep ausläßt, der ihr voller Hingabe dient.
Einmal im Jahr kommt Leben in das stille Haus, wenn die drei Enkelkinder im Sommer Istanbul fliehen und Großmutter Fatma besuchen, die sie ehrfürchtig siezen. Die drei haben früh ihre Eltern verloren und hängen unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben nach. Der älteste von ihnen ist Faruk, ein Geschichtsdozent, der über die Trennung von seiner Frau nicht hinwegkommt und sich dem Alkohol hingibt. Sein jüngerer Bruder Metin besucht noch das Gymnasium, wohnt bei seiner Tante, erteilt Kindern reicher Familien Nachhilfe, träumt aber von einem neuen Leben in den USA. Die Schwester Nilgün hingegen träumt von einer Revolution in ihrer Heimat, hängt dem Sozialismus nach und tröstet sich mit den Versen von Turgenjew über den lethargischen Alltag hinweg.
Über und in dem alten Haus schwebt der ruhelose Geist des Großvaters Selahattin, einem Arzt und Freigeist, der nicht in seine Zeit paßte. Weil er sich politisch betätigte und sich vehement gegen den Islam und einzig für das Wissen aussprach, blieb ihm nichts anderes übrig, als in das selbst auferlegte Exil im kleinen Küstenort zu gehen. Hier widmete er sich einem gigantischen Projekt der Aufklärung: einer 49-bändigen Enzyklopädie über sämtliche rationale Wissenschaften.
Selahattin scheiterte auf ganzer Ebene: Als Arzt, Wissenschaftler und auch als Ehemann der streng religiösen Fatma, weswegen er sexuelle Ablenkung bei der Dienstbotin und Trost im Alkohol suchte. Das „Resultat“ dieser Eskapaden war ein früher Tod und zwei uneheliche Söhne, denen wir auch begegnen.
Das Schicksal von Selahattin und auch die Geschichte um die Eltern der drei Kinder erfahren wir aus Rückblenden und Monologen, denn Pamuk hat für seinen Roman keine Hauptperson und auch keinen Erzähler auserkoren. Stattdessen lässt er jedes Kapitel aus der Perspektive einer anderen Person in der Ich-Form erzählen.
Viele andere Autoren wären sicher an dieser Last gescheitert, die sie den Figuren aufbürden. Pamuk aber nicht. Er dringt geschickt und überzeugend in seine Figuren ein, findet für jede einzelne eine eigene Sprache, einen charakteristischen Duktus und lässt uns mit großer psychologischer Sensibilität teilhaben an ihren Wünschen, Frustrationen und Sehnsüchten.
Dabei verschwimmen oft die Grenzen zwischen der Außen- und Innenwelt, weil Pamuk trickreich Dialoge mit Monologen, Rückblenden mit aktueller Handlung vermischt. Man vermag nicht zu sagen, bei welcher Person dies am Beeindruckendsten geschieht, so raffiniert verflicht Pamuk die literarischen Mittel miteinander. Allein schon die Kapitel aus der Perspektive der herrischen, dem Realitätsverlust entgegen hinkenden Großmutter sind ein literarischer Hochgenuss.
Pamuk hat schon zu Anbeginn seines literarischen Schaffens einen Roman vorgelegt, der mit einer verblüffenden Altersweisheit und Reife versehen ist. Und er hat damals schon sein zentrales Thema gefunden: die brüchige Suche nach Identität zwischen Ost und West. Eine manchmal schmerzliche Suche in einer Zeit des Übergangs, in der die Nachwirkungen des osmanischen Erbes mit der radikalen Verwestlichung nach Atatürk zusammenprallen. Wer noch daran zweifelt, ob Pamuk den Nobelpreis in 2006 verdient hat, sollte ruhig „Das stille Haus“ lesen: Der Mann hat schon mit 31 Jahren einen (sogar seinen zweiten!) Roman abgeschlossen, nach dem andere Autoren womöglich bis ins hohe Lebensalter streben.
Nevfel Cumart
Orhan Pamuk: Das stille Haus. Hanser Verlag München, 2009. 366 Seiten. 24,90 Euro