Vor 10 Jahren - UNESCO-Preis für Journalisten A. Şık

Internationaler Tag der Pressefreiheit

Am 3. Mai jährte sich erneut der Tag der Internationalen Pressefreiheit, der auch in der Türkei respektiert wird, allerdings ein Grund mehr zur Besorgnis hinsichtlich der Entwicklungen in dem Land bedeutet.

Im neuen Jahresbericht von Freedom House zum Thema Medien- und Pressefreiheit ist der EU-Beitrittskandidat Türkei auf den Status "unfrei" abgerutscht. Platz 134 von 197 Ländern weltweit, deren Pressefreiheit die US-amerikanische NGO bewertet und 17 Plätze minus innerhalb nur eines Jahres sind nicht mit unerheblich abzutun.

"Wir gehen rasch auf ein totalitäres System zu", stellte der türkische Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu am 2. Mai vor ausländischen Journalisten dazu fest. Am Tag nach der Polizeiblockade in Istanbul am 1. Mai und vor dem internationalen Tag der Pressefreiheit griff der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP die Regierung hart an. "Wir beobachten Dinge, die wir nicht einmal unter der Militärherrschaft gesehen haben", sagte Kiliçdaroglu vor den Journalisten der internationalen Presse. Er spielte dabei unter anderem auf den Kauf von der Tageszeitung Sabah und des Fernsehsenders ATV an, für den Regierungschef Tayyip Erdogan und sein Sohn Bilal offenbar einen Kreis von Geschäftsleuten anhielten, Geld beizusteuern. "Keine Militärregierung in der Türkei hat für sich selbst einen Medienpool organisiert", sagte Kiliçdaroglu. "24 Stunden am Tag verabreichen sie der Öffentlichkeit eine Gehirnwäsche."

Unesco-Preis der Pressefreiheit für türkischen Journalisten Şık

ahmet sık 1Diese Entwicklung war, als ein internationales Zeichen der Solidarität vielleicht mitentscheidend für die Vergabe des diesjährigen UNESCO-Preises der Pressefreiheit an den türkischen Journalisten und Buchautor Ahmet Şık. In ihrem Plädoyer zu ihrer Entscheidung der diesjährigen Preisvergabe würdigte die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) den 44-jährigen Enthüllungsjournalisten am Freitag als "glühenden Verteidiger der Menschenrechte. In seinen Artikeln prangere Şık "Korruption und Gewalt gegen Meinungsfreiheit" an. Die UNESCO-Generalsekretärin Irina Bokova übergab Şık die Auszeichnung am Sitz der Organisation in Paris.

Die Preisträger des jeweiligen "World Press Freedom Prize" werden von einer internationalen Journalistenjury ausgewählt. Die Verleihung der mit 25'000 Dollar (18'000 Euro) dotierten Auszeichnung erfolgt aus Anlass des internationalen Tags der Pressefreiheit am jährlich am 3. Mai.

In seiner Laudatio erklärte der Journalist Şık dazu, dass viele seiner Kollegen in der Türkei oder anderswo den Preis sicherlich "mehr verdient" hätten als er. Einige hätten ihr Leben verloren, andere ihre Freiheit. Diese Auszeichnung gelte deshalb auch all seinen Freunden.

Şık war im März 2011 aufgrund der damaligen Hetzjagden im so genannten Ergenekon Verfahren zusammen mit seinem ebenfalls prominenten Kollegen Nedim Sener und einem Dutzend anderer "Verdächtiger" festgenommen worden. Die Justiz beschuldigte sie seiner Zeit, den rechtsgerichteten Geheimbund Ergenekon zu unterstützen.

Ergenekon hätte nach Einschätzung der türkischen Staatsanwaltschaft einen Staatsstreich gegen die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vornehmen wollen. Laut Erdogan-Gegnern missbrauchte die Regierung die Ermittlungen gegen mehrere hundert mutmaßliche Ergenekon-Mitglieder für eine Hexenjagd gegen Kritiker.

Ein Jahr in Untersuchungshaft

ahmet sik 2Damals kamen die beiden Journalisten nach etwa einem Jahr in Untersuchungshaft auf freien Fuß. Der Prozess ist allerdings noch nicht abgeschlossen, so droht den beiden Journalisten im Fall ihrer Verurteilung jeweils bis zu 15 Jahre Gefängnis. In einer ersten Stellungnahme nach seiner Freilassung hatte Şık daran erinnert, dass in der Türkei immer noch rund hundert Journalisten hinter Gittern säßen. Hinzu kämen mehrere tausend Menschen, die im Zusammenhang mit Vorwürfen der Unterstützung für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ebenfalls wegen Meinungsäußerungen in Untersuchungshaft gesteckt worden seien.

"Wir werden weiter für sie kämpfen", sagte Şık, dessen Verhaftung kurz vor der geplanten Veröffentlichung seines Buchs über die mutmaßliche Unterwanderung der türkischen Polizei durch islamistische Kreise erfolgte.

Şık, geboren 1970 in Adana, absolvierte an der Fakultät der Kommunikationswissenschaften an der Universität Istanbul eine Ausbildung zum Journalisten. Zwischen 1991 bis 2007 arbeitete er für die türkische Zeitschrift Nokta und die türkischen Tageszeitungen Milliyet, Cumhuriyet, Evrensel, Yeni Yüzyıl und Radikal. Für Reuters war er außerdem als Fotograf tätig. Seine gewerkschaftlichen Tätigkeiten sollen zu Konflikten mit seinen Arbeitgebern geführt haben, so dass er sein Arbeitsfeld vom Journalismus zur akademischen Beschäftigung verschob. Şık ist Mitglied in der Gewerkschaft der Journalisten Türkiye Gazeteciler Sendikası (TGS) und dem Verein zeitgenössischer Journalisten Çağdaş Gazeteciler Derneği (ÇGD). Er ist bekannt für seine Artikel zu Menschenrechtsangelegenheiten und Arbeitsethik in Publikationen von Nichtregierungsorganisationen. Şık gehörte zu den Autoren des Magazin Nokta, die 2007 in einem Artikel über Putschversuche der Streitkräfte berichteten und damit zur Ergenekon-Enthüllung beitrugen.

Gerichtsverfahren

Wegen einer Reportage nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, in der er das Militär dazu aufrief sich nicht in die innere Sicherheit einzumischen, und einer Reportage über eine Inhaftierte im Bayrampaşa-Gefängnis wurde gegen Şık wegen eines Verstoßes gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs Anklage erhoben. Im April 2008 wurden er und die interviewte Frau freigesprochen.

Im Juni 2010 wurden Ertuğrul Mavioğlu und Ahmet Şık wegen ihres Buches Vierzig Maulesel, vierzig Hackbeile (tr: Kırk Katır, Kırk Satır), das sich in zwei Bänden mit dem Ergenekon-Verfahren auseinandersetzt, unter dem Vorwurf, gegen die Geheimhaltung von Dokumenten verstoßen zu haben, angeklagt. Die erste Verhandlung vor dem 2. Strafgericht in Kadıköy (İstanbul) wurde am 8. Oktober 2010 gehalten. Das Gericht vertagte sich auf den 21. Januar 2011. Am 3. März 2011 wurden elf Personen in Istanbul und Ankara festgenommen, darunter Ahmet Şık und sein Kollege Nedim Şener. Die Polizei durchsuchte Räume und beschlagnahmte Computer, CDs und die gesamten Archive. Die Festnahme verursachte Schock und Entrüstung. Neun der elf festgenommenen Personen, darunter Şık und Şener, kamen am 6. März 2011 unter dem Vorwurf, Mitglied des Geheimbundes Ergenekon zu sein, in Untersuchungshaft.

Am 14. April 2011 fand eine weitere Verhandlung statt. Ahmet Şık war nicht zur Verhandlung gebracht worden, angeblich, weil für den Transport vom Gefängnis Silivri kein Fahrzeug zur Verfügung stand. Die Verhandlung wurde auf den 13. Mai 2011 vertagt. Am Ende dieser Verhandlung entschied das Gericht auf Freispruch, da der Straftatbestand nicht erfüllt sei.

Im Zusammenhang mit den Festnahmen ließen die Ermittlungsrichter das bislang unveröffentlichte Buch Imamın Ordusu (dt: Die Armee des Imam) verbieten. Das Buch ziele auf die Desinformation der Öffentlichkeit und lasse den Ergenekon-Mitgliedern moralische Unterstützung zukommen, deshalb handle es sich um das Dokument einer terroristischen Vereinigung, welches zu beschlagnahmen sei. Wer das Dokument nicht den Behörden übergebe, könne gemäß Artikel 124 des türkischen Strafgesetzbuches bestraft werden. Dadurch soll sogar der Besitz des Manuskripts unter Strafandrohung gestellt worden sein. Die Şık vertretende Anwaltskanzlei, ein Verlag und die Räume der Tageszeitung Radikal wurden durchsucht. Die Verhaftung von Ahmet Şık war ein Mitgrund für den im März 2011 aus Protest erfolgten Rücktritt der Richterin Emine Ülker Tarhan in Ankara. Tarhan kritisierte, die Meinungs - und Pressefreiheit werde in der Türkei „mit Füßen getreten“, obwohl sie durch internationale Abkommen und die Verfassung geschützt sein sollte.

Manuskript "Die Armee des Imams"

ahmet sik 3In dem noch unveröffentlichten Buchmanuskript mit dem Titel "Die Armee des Imams" geht es um den Einfluss der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen auf die türkischen Sicherheitskräfte. Die Behörden halten das Werk des Journalisten Ahmet Şık für eine Auftragsarbeit für die mutmaßliche Putschistengruppe Ergenekon. Am 31. März 2011 wurde eine Kopie des Entwurfs "Die Armee des Imam" unter dem Titel ″Wer berührt, verbrennt″ (tr: dokunan yanar) ins Internet gestellt. Bereits am ersten Tag wurde das Manuskript über hunderttausend Mal herunter geladen. Der facebook-Gruppe ″Auch ich habe das Buch von Ahmet Şık″ (Ahmet Şık'ın Kitabı bende de var) waren bis zum 6. April ebenfalls mehr als 100.000 Leute beigetreten.

Das Buch beschreibt, wie Anhänger von Fethullah Gülen seit Mitte der achtziger Jahre systematisch die Polizei unterwandert haben. Ahmet Şık habe herausgefunden, so sein Anwalt Fikret İlkiz, dass bereits 80 Prozent des türkischen Polizeiapparates zur Gülen-Bewegung gehören. Dem Buch zufolge begann die Unterwanderung in der Personalabteilung der Polizei. Es gibt Angaben zu Beförderungen und Versetzungen von Beamten, die zur Gemeinde gehören oder ihnen kritisch gegenüber stehen. Die Frage, ob die Polizei der bewaffnete Arm der Gemeinde sei, führte zum Titel des Buches. Der Islam-Experte Ruşen Çakır sagte: "Das Buch reicht nicht aus, um die Fethullah-Gülen-Bewegung zu verstehen. [...] Die Gülen-Bewegung ist vor allem gesellschaftlicher Natur. [...] Das Buch, das im Internet herumgereicht wird, ist nur ein Entwurf.."

Reaktionen

Tausende Journalisten haben mehrfach gegen die Verhaftung von Ahmet Şık, Nedim Şener und insgesamt 66 weiterer Kollegen protestiert. Der Fall hat national und international heftige Kritik ausgelöst. Das türkische P.E.N.-Zentrum prangerte den Polizeieinsatz an. Die Organisation Reporter ohne Grenzen kritisierte die Staatsanwaltschaft und zweifelt daran, ob es tatsächlich um kriminelle Vorwürfe geht oder nicht in Wirklichkeit um Politik. Drei türkische Presseorganisationen verurteilten die Beeinträchtigung des Rechts frei zu schreiben als eine Verletzung des Artikels 29 der türkischen Verfassung. Kritik kam auch aus dem Büro des EU-Erweiterungskommissars Stefan Füle. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sah in den Festnahmen eine abschreckende Wirkung (chilling effect) auf die Pressefreiheit in der Türkei. Amnesty International rief die Türkei auf, ihre Gesetze zur Pressefreiheit zu überdenken. Der leitende Sonderstaatsanwalt Zekeriya Öz wurde im April 2011 wegbefördert.

Die Europäische Union zeigte sich in einer Resolution vom 9. März 2011 mit dem Titel ″Fortschrittsbericht 2011 zur Türkei″ besorgt über eine Verschlechterung im Bereich der Pressefreiheit; betonte, dass eine unabhängige Presse entscheidend für eine demokratische Gesellschaft ist, und beschloss, die Fälle von Nedim Şener, Ahmet Şık und anderen Journalisten zu verfolgen, die polizeilicher oder juristischer Schikane ausgesetzt sind. Laut taz hat sogar der türkische Präsident seine Besorgnis in Zusammenhang mit Şıks Festnahme geäußert. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan dagegen habe Kritik der EU zu diesem Thema mit diesem Kommentar von sich gewiesen: "Die EU soll sich an ihre eigene Nase fassen, wir setzen unseren Weg zu unserer Demokratie weiter fort".

Die Medienexpertin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Dunja Mijatovic appellierte in einem offenen Brief an Außenminister Ahmet Davutoğlu und die Regierung in Ankara, die türkischen Mediengesetze den OSZE-Richtlinien zur Pressefreiheit schnellstmöglich anzugleichen. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan wurde für den 13. April 2011 zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg geladen, wo er Stellung zur Pressefreiheit beziehen sollte.

Anklage und Haftentlassung im März 2012

Ende August erschienen die ersten Meldungen in der türkischen Presse über eine Anklageschrift. Die 134-seitige Anklageschrift nennt 14 Verdächtige, 12 von ihnen in Untersuchungshaft. Im Zentrum steht das Internet Portal OdaTV. Den Angeklagten wird vorgeworfen, die bewaffnete Terrororganisation "Ergenekon" gegründet, geleitet oder angehört zu haben, der Organisation geholfen, das Volk zu Hass und Feindschaft aufgestachelt zu haben, Dokumente über die Sicherheit des Staates bzw. geheime Dokumente besorgt zu haben, das Recht auf Privatsphäre verletzt zu haben, persönliche Daten gespeichert und den Versuch unternommen zu haben, faire Gerichtsverfahren zu beeinflussen.

Es ist die erste Anklageschrift, die der neu gegründeten 16. Kammern für schwere Straftaten in Istanbul vorgelegt wurde. Der Anklageschrift zufolge werden Ahmet Şık und Nedim Şener beschuldigt, der Terrororganisation geholfen zu haben. Darauf steht eine Strafe von 7,5 bis 15 Jahren Haft. Die erste Verhandlung sollte am 22. November 2011 im Gerichtsgebäude von Çağlayan (Istanbul) stattfinden.

Şık wurde am 13. März 2012 mit seinem Kollegen Nedim Şener durch das Strafgericht Istanbul aus der Haft entlassen. Er äußerte nach seiner Entlassung die Überzeugung, dass eine fehlgeleitete Justiz dem Land weder Recht noch Demokratie bringen könne, und wies darauf hin, dass das Problem der Meinungsfreiheit nicht nur Journalisten betreffe, sondern sich auch noch 600 Studenten und 6.000 Personen im Rahmen des KCK-Verfahrens in Haft befänden. Diejenigen Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die hinter diesem Komplott steckten, würden hinter Gittern wandern. Diejenigen von der Gemeinde, die wie eine kriminelle Vereinigung innerhalb der Bürokratie agierten, seien hierfür verantwortlich.

Alle demokratischen Staaten hätten dieselben Bedenken wie die CHP angesichts der Entwicklung der Türkei, sagte Kiliçdaroglu. Die EU rief er auf, die Beitrittsverhandlungen nun nicht zu stoppen, sondern vielmehr neue Kapitel zu öffnen. Erdogan wolle, dass die Verhandlungen eingefroren werden. "Er will nicht zur EU. Er will, dass die Türkei ein Land des Nahen Ostens wird."

Ein regierungstreuer Staatsanwalt versuchte diese Woche, Kiliçdaroglu trotz seiner parlamentarischen Immunität zur Einvernahme vorzuladen. Bilal Erdogan hatte den Oppositionschef verklagt.

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