Trotz EGMR-Urteil - Türkei besteht auf Religionspflicht

ürkei besteht auf Religionspflicht

Gerade erst hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Aufhebung des verpflichtenden, einseitigen Religionsunterrichts in der Türkei verlangt, da kommen schon die diversen Dementis.

In der Türkei ist Religion ein Pflichtfach. Vermittelt wird allerdings ausschließlich der sunnitische Islam, an dem z. B. auch alevitische Schüler teilnehmen müssen. Alle türkischen Kinder sind gezwungen, am staatlichen Unterricht für Religionskultur und Ethik teilzunehmen, in dem "die sunnitische Konfession", um es milde auszudrücken, "im Vordergrund" steht. Das werfen alevitische Eltern dem türkischen Bildungsministerium seit Jahren vor.

Die alevitische Gemeinschaft ist in der Türkei die zweitgrößte muslimische Konfession, die sich in ihrem Religionsverständnis und ihren religiösen Praktiken stark von den Sunniten unterscheidet. So tragen, als äußere Erscheinungsform, ihre Frauen kein religiöses Kopftuch, sie beten nicht in Moscheen sondern in extra dafür eingerichteten Gebetsstätten (Cemevi) und sie pilgern auch nicht nach Mekka. Während christliche und jüdische Türken in der Türkei das Recht besitzen, dem staatlichen Religionsunterricht fernzubleiben, gilt diese Regelung nicht für Muslime, zu denen in der Türkei auch Aleviten zählen.

Insbesondere wenn es um die Aleviten geht, sträubt sich die Türkei dagegen, diese als Konfession anzuerkennen. 2005 stellten über 1000 Aleviten einen Antrag beim türkischen Bildungsministerium, alevitische Glaubensinhalte in den staatlichen Unterricht zu integrieren. Türkische Gerichte lehnten den Antrag bis in die letzte Instanz mit der Begründung ab, bei den Aleviten handele es sich nicht um eine Konfession, sondern um eine kulturelle Strömung. 14 türkische Aleviten beschlossen daraufhin, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.

Die europäischen Richter fordern die Türkei nun auf, unverzüglich Reformen durchzusetzen, welche die Freistellung vom Religionsunterricht erlauben, ohne dass die Eltern ihre religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen angeben müssen. Die Reaktion in Ankara folgte prompt. "In der Türkei werden alle Religionen gleich behandelt und im Religionsunterricht berücksichtigt", sagte der neue türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Er wies das Urteil zurück. Die Türkei werde am verpflichtenden Religionsunterricht festhalten, weil man damit Tendenzen zu Radikalisierungen vorbeuge, die durch unvollständiges Wissen über Religion befördert würden.

"Davutoglus Aussagen verstoßen gegen die Menschenrechtskonvention. Seit der Gründung der türkischen Republik wird der sunnitische Islam gefördert und das Alevitentum systematisch bekämpft", sagt Yilmaz Kahraman, Islamwissenschaftler und Sprecher der Alevitischen Gemeinde Deutschland gegenüber der Zeitung "Welt". Es könne nicht sein, dass mehr als 20 Millionen Aleviten in der Türkei keine Rechte genießen. In Deutschland leben heute mehr als 700.000 Aleviten, seit 2007 sind sie eine anerkannte Religionsgemeinschaft.

Bereits 2007 urteilte der EGMR im Fall Hasan and Eylem Zengin, dass die Inhalte der türkischen Religionslehrbücher die alevitische Konfession außer Acht ließen. Die Richter stellten damals fest, dass die religiöse Schulbildung in der Türkei nicht die notwendige Bedingungen für die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins der Schüler böten. Mit Steuermitteln gefördert werden vornehmlich sunnitische Einrichtungen, türkische Aleviten erhalten keine finanzielle Unterstützung für ihre Gebetshäuser, da religiöse Fragen vom staatlichen Ministerium für religiöse Angelegenheiten betreut werden.

Im aktuellen Urteil erkannten die Richter zwar an, dass es Reformen der Lehrinhalte gegeben habe. Allerdings dominierten weiterhin die Inhalte des sunnitischen Glaubens den Unterricht, so das Urteil. Deshalb verletzte der Kanon die Religionsfreiheit und diskriminiere alevitische Schüler. "Es hätte eigentlich nicht so weit kommen dürfen, dass der EGMR eingreifen muss", kritisiert die Berliner Anwältin und Menschenrechtlerin Seyran Ates die Lage in der Türkei. Das EGMR-Urteil fiel einstimmig aus, unter den Richtern ist auch die türkische Juristin Isil Karakas. "Nach diesem Urteil darf es keinen verpflichtenden Religionsunterricht in der Türkei geben", sagte Karakas. "Die Türkei soll sich ein Beispiel an Deutschland nehmen", verlangt Yilmaz Kahraman, der Sprecher der Alevitischen Gemeinde Deutschland.

Elf Schüler aus Izmir, die den sunitischen Religionsunterricht boykottieren oder dagegen juristisch vorgehen, hatten in Berlin jetzt Gelegenheit, alevitischen Religionsunterricht an einer Berliner Grundschule zu besuchen. Die Lehrerin projiziert ein Bild an eine Leinwand. Darauf zu sehen: ein Mann mit einem langen weißen Bart. Auf seinem Schoß sitzen ein Löwe und eine Gazelle. Die Kinder fangen an, das Bild zu beschreiben, und ihre Beschreibungen werden für die türkischen Besucherkinder übersetzt.

Einer der Besucher ist der 18-jährige Akin Onur, Gymnasiast aus Izmir: "Es ist sehr schön. In meiner Heimat kann ich in der Schule nichts über meinen Glauben lernen. Hier bin ich zu Gast und besuche alevitischen Religionsunterricht. Die Aleviten müssen sich hier glücklich schätzen."

Die 14-jährige Nazli Şirin bleibt dem Fach Religion seit fünf Jahren fern. Und das kostet sie und ihre Familie viel Kraft, sagt sie: Nazli Şirins Vater hatte jahrelang Prozesse geführt, um in seinem Ausweis die Religionsbezeichnung "Islam" entfernen zu lassen. Das Feld ist nun zwar frei, aber "Alevit" darf er nicht eintragen lassen. Alle Lokalzeitungen berichteten über die Prozesse der Familie; denn solch einen Prozess führt so gut wie nie jemand in der Türkei. Nach ihrem Umzug nach Izmir ging Nazlis Protest gegen den sunnitischen Unterricht weiter. Im Herbst kommt sie ins Gymnasium.

"Im Gymnasium gibt es drei Religionsfächer. Alle behandeln aber den Islam. Neben dem allgemeinen Islamunterricht gibt es Fächer über das Leben von Mohammed. Wenn man dem Unterricht fernbleibt, bleibt man sitzen. Wir müssen aber dagegen vorgehen, damit die nachfolgenden Generationen es nicht noch schwerer haben."

Eine aktuelle Gesetzesänderung der türkischen Regierungspartei AKP sieht die Einrichtung islamischer Gebetsstätten an staatlichen Schulen vor, wenn entsprechende Anträge von Eltern gestellt werden. Könnte es also schon bald alevitische Gebetsräume an türkischen Schulen geben, in denen mehrheitlich alevitische Schüler sind? "Wenn Anträge gestellt werden, bearbeiten wir diese", heißt es dazu aus dem türkischen Bildungsministerium. Sicher ist nur, dass die Straßburger Richter sich nicht das letzte Mal mit der Frage der Religionsfreiheit in der Türkei beschäftigt haben dürften.

Der Berlin-Besuch hat sich gelohnt, sagt Nazli Şirin, nicht nur weil sie einen anderen Religionsunterricht erfahren und unterschiedliche Religionen kennen gelernt habe:

"Wir haben uns mit Politikern unterhalten und sie gebeten, uns zu unterstützen. Denn die Unterstützung aus Deutschland ist für uns sehr wichtig."

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