Götterdämmerung im Feuersturm / Werner Koschan

Feuersturm / Werner Koschan

Nach der Veröffentlichung erster Kurzgeschichten und eines Kurzromans zeigt sich Alaturka hocherfreut, auch den bereits am 23. November 2009 veröffentlichten Roman "Götterdämmerung im Feuersturm" von Werner Koschan  in Abschnitten veröffentlichen zu dürfen.

Jeweils in wöchentlichen Teilabschnitten werden wir die spannende Geschichte um Jakob Löwenthal im Portal veröffentlichen.

13. Februar 1945, Faschingsdienstag: Jakob Löwenthal erfährt, dass er nur noch drei Tage zu leben hat - obwohl er sich seit Jahren immer weiter zurückzieht in der Hoffnung, man möge seine winzige Existenz übersehen.

In der Nacht zum Aschermittwoch jagt ihn das flammende Inferno des Bombenkriegs in ein ihm sicher erscheinendes Bankgebäude. Dort nimmt ihm ein Sterbender das Versprechen ab, dessen Koffer mit dem Familienerbe von Dresden nach München zu transportieren.
Unmöglich! Besonders für einen Halbjuden in Nazideutschland.
Es ist gerade dieser Auftrag, der Jakob den längst verloren geglaubten Lebenswillen wiedergibt. Zwölf Jahre lang hatte er sich damit abzufinden versucht, in den Augen seiner Mitmenschen unwert zu sein. Doch nun will er unbedingt dieses Vermächtnis erfüllen.
Er ist kein heldischer Heldenheld; ganz im Gegenteil, denn Jakob ist intelligent - in einer Zeit, in der Intelligenz nicht erwünscht ist, sondern Marschtritt den Mann ausmacht.
Jakob nimmt die Herausforderung an und macht sich auf den Weg.

Für Mario,
dem Freund und Vorbild zugeeignet

 

Sinngemäß könnte man das folgende Gedicht mit einem Wort übersetzen: Menschlichkeit

No man is an island,
entire of itself;
every man is a piece of the continent,
a part of the main.
If a clod be washed away by the sea,
Europe is the less,
as well as if a promontory were,
as well as if a manor of thy friend’s
or of thine own were.
Any man’s death diminishes me,
because I am involved in mankind;
and therefore never send to know
for whom the bell tolls;
it tolls for thee.
John Donne

Die Übersetzung aus dem Altenglischen lautet:

Niemand ist eine Insel,
ganz für sich allein;
jeder Mensch ist ein Stück vom Ganzen.
Wenn eine Landzunge vom Meer weggespült wird,
ist Europa etwas kleiner,
als wäre es ein Stück Gebirge,
als wäre es ein Rittergut eines Freundes
oder wessen sonst.
Jedes Menschen Tod macht mich ärmer,
denn ich bin hineinverstrickt in diese Menschenwelt;
Und deswegen frage nie,
wem die Stunde schlägt;
sie schlägt immer für dich.
John Donne

PROLOG

Mit beiden Armen rührte die junge Frau kräftig den groben Holzstab im Waschzuber herum, um die Wäsche in dem dampfenden Wasser zu bewegen. Die Ärmel hochgekrempelt, ein Kopftuch um den Kopf geschlungen, schwitzte sie in der Waschküche. Auch diesen Waschtag brachte sie wie alle vorherigen in stoischer Ergebenheit hinter sich. Und Waschtag war, seit sie für ihre Familie die Wäsche besorgte, stets jeden zweiten Donnerstag des Monats, ebenso an diesem 14. Mai 1896.

Die Waschküche befand sich in einem Haus in einer Stadt in Oberösterreich und die Hausfrau und Mutter, die in dem dampfenden Waschtrog rührte, hieß Klara und war sechsunddreißig Jahre alt. Um ihre Beine spielten drei Kinder Nachlaufen. Die knapp vier Monate alte Paula schlief in einem Weidenkörbchen neben der Tür.

Angela, mit zwölf Jahren die Verständigste, hätte eigentlich auf Paula im Körbchen achten sollen, aber sie bemühte sich stattdessen, den sieben Jahre alten Bruder davon abzubringen, den am Boden krabbelnden Edmund zu ärgern. Edmund war gerade zwei Jahre alt geworden und lutschte an allem, was man ihm hinhielt. Der größere Bruder hatte Edmund soeben ein Stück Kernseife hingehalten, was die besonnene Angela sehr erboste.

Mama Klara hatte Mühe, das heiße Wasser nicht aus dem Zuber auf die Kinder zu spritzen. Gleichzeitig gab sie Acht, nicht mit den derben Schnürstiefeln, die ihr Halt auf dem nassen Kachelboden geben sollten, auf eines der Kinder zu treten.

Es klopfte an der Waschküchentür. Der Briefträger Jakob Grünstein kam herein. Er schaute zunächst in das Weidenkörbchen und strahlte dann die herumtobenden Kinder an, denn er liebte Kinder. Und die Kinder liebten ihn. Na ja, nicht ihn direkt, sie genossen seine Gewohnheit, die Kinder, die er auf dem täglichen Weg traf, mit sauren Drops zu beschenken; den gelben, den leckeren.

Jakob Grünstein hatte selbst keine Kinder, die er hätte beschenken können, denn er war Junggeselle. Die Leute freuten sich zwar, wenn der Briefträger ihnen die Post brachte, nur mit Jakob Grünstein selbst mochten sie privat nicht gerne bekannt sein - sie nannten das unter sich bleiben.
Manchmal, zum Beispiel wenn ein Kind krank war oder sich wehgetan hatte, tröstete der brave Briefträger es sogar mit einer Lutschstange.
Jakob Grünstein legte an diesem Morgen einen wichtigen Brief auf den Tisch neben dem Waschzuber und reichte der schwitzenden Frau einen Stift, weil sie den Erhalt des Schreibens quittieren musste. Dazu drückte er die Ecken der Quittung mit den Fingerspitzen auf die Holzplatte des Tisches und Frau Klara unterschrieb mit Vor- und Nachnamen.

Mittlerweile hatten die Kinder die Nähe des Briefträgers gesucht. Saure Drops haben magnetische Kräfte.
Der größere Bub wirkte einen Augenblick lang nachdenklich. Dann stolperte er im Stehen, ließ sich auf den Hosenboden fallen und stupste mit der Schulter gegen eines der Tischbeine. Der Popo des Jungen steckte in einer widerstandsfähigen Lederhose und der Kopf hatte eigentlich gar nicht das Tischbein berührt. Trotzdem weinte der Junge und schrie aus Leibeskräften.

Angela schaute ärgerlich, denn Jakob Grünstein war natürlich auf die Finte ihres Bruders hereingefallen und reichte ihr und dem kleinen Edmund nur zwei Drops; der energische Schreihals am Tischbein erhielt eine der begehrten Lutschstangen und verstummte sogleich.

»Ach«, sagte Jakob Grünstein, »der Kleine ist ja wirklich etwas arg Liebes.«
»Das stimmt«, antwortete Mama Klara, »er ist das rechteste Kind der Welt. Und seine Unnachgiebigkeit ist beachtlich. Er gibt nicht eher Ruhe, bis er seinen Willen durchgesetzt hat.« Sie lächelte ihren Sohn liebevoll und stolz an.

»Ja«, beteuerte Jakob Grünstein, »der Junge ist gewiss Ihr größter Schatz. Er wird Ihnen sicher noch sehr viel Freude bereiten!« Jakob Grünstein streichelte dem Bub mit dem Lutscher im Mund den Kopf. »Nicht wahr, Adolf!«
Dann verabschiedete er sich. »Servus, Frau Hitler.«

ERSTES BUCH

1.

Dienstag. Faschingsdienstag und mir ist überhaupt nicht nach Fasching oder irgendwie nach Frohsinn. Ich bin nämlich Pessimist. Ich befürchte stets das Schlimmste und bin dann froh, wenn das weniger Schlimme eingetreten ist. Das ist heute am Faschingsdienstag nicht anders! Meinem Pessimismus zum Trotz haben Carola und ich diesen Tag ohne größere Aufregungen hinter uns gebracht. Nichts Schlimmes ist uns passiert und hierüber bin ich froh. Nicht im Sinne von Frohsinn, sondern von Durchatmen. Ich bin ja ohnehin zufrieden über jeden Tag, den ich lebend hinter mich bringe und im Kalender ausstreichen kann.
Nicht nur heute, wo dieser Faschingsdienstag zu allem Übel ausgerechnet auf einen 13. fällt. An einem 13. passiert mir dauernd irgendetwas. Mal was Gutes, mal was Schlechtes. Meistens was Schlechtes. Heute ist mir noch gar nichts passiert. Dem Himmel sei Dank.
Genau genommen spielt es gar keine Rolle, ob nun heute der 13. Februar ohne schlimme Folgen vorübergegangen ist oder im Sommer der 13. Juli ohne persönliche Katastrophe verstrichen sein wird.

Eigentlich! Aber ich weiß ganz genau, sofern ich den 13. Juli dieses Jahres ohne Katastrophe hinter mich gebracht haben werde, könnte jeder neue Morgen tatsächlich endlich ein klitzekleines Stück dauerhafter Zukunft bedeuten. Wenn ich dann noch lebe. Das ist im Moment mehr als unwahrscheinlich. Trotzdem bleibe ich dabei, jeden Tag im Kalender abzustreichen, mit dem Gefühl der Verwunderung trotz allem am Leben zu sein. Musste bisher schon ein Irrtum sein. Oder ein Versehen. Ich streiche jeden Tag ab, weil uns jeder Tag der Erlösung näher bringt. Mich nicht mehr wirklich. Dessen ungeachtet bedeutet für mich jeder überlebte Tag ein unbeschreibliches Geschenk. Pfui Spinne, wie rede ich denn? Unbeschreiblich - auch so eine geschmacklose Propagandaphrase, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat, geradezu widerwärtig. Genauso wie: Nation, Reich, Bewegung, Schicksal. Einlullende Worthülsen, die uns über den Unsinn der Zeit hinwegtäuschen sollen. Überhaupt ist alles nur eine einzige Täuschung, wenn ich es richtig bedenke. Heim ins Reich zum Beispiel. Gott, haben wir über diesen Blödsinn gelacht - meist hinter vorgehaltener Hand, weil man nicht genau wusste, wer neben einem steht. Manchmal haben wir unvermittelt laut gelacht, wenn es mal wieder gar zu dämlich klang. Einmal, als während einer meiner Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium ein Primaner trockenen Tons ausführte: »Goebbels ist seit ein paar Tagen in Afrika und studiert den Negern Sprechchöre ein: ›Wir wollen heim ins Reich!‹«, bebte der Klassenraum vor Gelächter.

Na, nicht nur das Lachen ist uns einstweilen vergangen. Und die Tage sind mittlerweile eher recht leicht zu beschreiben. Morgens herrscht reichsweit Angst und Hunger; mittags herrscht große Angst und großer Hunger und abends - kann man Angst eigentlich steigern? - herrscht maßlose Angst und Mordshunger.
Bis vor ein paar Jahren musste ich oftmals grinsen, wenn Schriftsteller das Gefühl der Angst beschrieben hatten. Der Atem bliebe stehen, das Herz krampfe und das Blut koche in den Adern. Schwacher Stil, hatte ich stets gedacht. Inzwischen muss ich zugeben, dass es gar nicht so vollkommen platt beschrieben war. Man ist kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig. Und dazu grummelt immerzu der Magen. Ein völlig neues Scheißgefühl.
Allerdings habe ich gehört, dass die hingebungsvolle Regierung für gerade frisch Ausgebombte wahrhaft eindrucksvoll sorgen soll. Besonders in Berlin und im Ruhrgebiet. Für jeden Ausgebombten, der schnell genug aus den Trümmern seiner bisherigen Existenz zur nächsten Gulaschkanone kriechen kann, gibt es einen Schlag warmen Eintopf.

Trotz meines ständigen Hungers verzichte ich gern auf solch einen Schlag Eintopf und streiche lieber den heutigen Tag aus dem Kalender. Dresden hat während des ganzen Krieges nur wenig abbekommen. Wir sind zum Glück wohl entweder zu weit östlich oder vielleicht nur militärisch zu uninteressant. Von mir aus darf das durchaus so bleiben, bis der ganze Spuk vorbei ist.

Ich sitze in meinem geliebten Erker unserer Wohnung in der 2. Etage im sogenannten Judenhaus in der Sporergasse 2 und blicke auf das Residenzschloss hinüber. Wäre wirklich zu schade, wenn hier was zerstört würde. Wenn ich das Residenzschloss betrachte, fällt mir automatisch unser lieber König Friedrich August III. ein. Er warf dem Volk, nachdem man ihn abgesetzt hatte im November 1918, im Verlauf seiner Abdankung, die Brocken vor die Füße. »Macht doch euren Dreck alleene«, hatte er lapidar festgestellt und überließ das Volk sich selbst. Dann übernahmen Politiker, die besten Freunde der Militaristen, die junge Republik! Und nun steckt Deutschland im allertiefsten braunen Dreck. Wenn diese Pest in Uniform bloß verrecken würde!
Carola blickt mich schon wieder ungnädig an. Ich habe ihr vor ein paar Tagen unvorsichtigerweise von meinen Gedanken erzählt, wenn ich den Kalender in der Hand halte und einen Tag abstreiche. Ich sollte sie vielleicht besser etwas ablenken.
»Sag mal, Carola, kennst du den Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland?«
Sie blickt mich skeptisch an und schüttelt den Kopf.
»Wenn es in der Schweiz frühmorgens an der Tür klopft, bringt der Bäcker die Brötchen. Ha ha.«
»Ja und? Was ist daran lustig?«
»Wenn es in Deutschland frühmorgens an der Tür klopft, holt die Gestapo die Bewohner. Ha ha.«

Carola lacht nicht. Sie mag es nicht, wenn ich so rede. Obwohl das stimmt. Wenn sich aus der Nacht der Tag nähert und um fünf Uhr früh niemand kräftig an die Tür geklopft hat, ist man dieses Mal verschont geblieben. Dann ist einem der Tag geschenkt. Der ständige Hunger bleibt einem selbstverständlich treu, aber daran bin ich gewöhnt. Irgendetwas findet man ja doch. Und wenn es nur ein paar Blätter Löwenzahn sind, die am Elbufer zumindest im Frühling und Sommer besonders gut gedeihen. An Kartoffeln oder ein Stück Brot kommt man allerdings schwieriger. Tagsüber zu hungern ist beinahe erträglich, hauptsächlich nachts quält mich der Hunger, weil es keine Ablenkung gibt. Tagsüber lastet der geistige Hunger viel schlimmer auf mir. Ich darf mich nicht beim Zeitunglesen erwischen lassen, aber ich mag die Lektüre nicht aufgeben. Natürlich habe ich meine Quellen und bekomme die Morgenzeitung und das Abendblatt vom Vortag in die Hände. Ich verstecke mich dann und lese trotz des Verbotes. Das dürfte Carola niemals wissen, sonst wäre ein Streit unvermeidlich, ich lebe nämlich nur noch, weil sie zu mir hält. Meist lese ich auf einer Friedhofsbank, weil die Kerle dort niemals erscheinen. Sterben ist für die Brut etwas Heldenhaftes, nur die einfachen Toten sind ihnen lästig. In den Zeitungen wird stets von Helden berichtet, daneben wird immer häufiger im Abendblatt exakt das Gegenteil als unwiderruflich festgestellt, was in der Morgenzeitung mit ergreifend glühenden Worthülsen für tausend Jahre unverrückbar im Bleisatz verankert war. Ich schrecke aus den Gedanken auf. Carola spricht mit mir.
»Ich wünsche, dass du diesen vermaledeiten Kalender nun beiseitelegst. Ich ahne, was dir durch den Kopf geht und du weißt ganz genau, dass ich das nicht wünsche!«
Ojweh. Hätte ich Carola nur nichts von meinen Gedanken erzählt.


2.

Draußen ist es stockfinster und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie spät es sein mag. Vielleicht ist es neun Uhr abends, vielleicht etwas früher oder später. Ich darf ja keine mechanische Uhr besitzen und meine innere Uhr tickt nicht mehr so richtig - und das nicht nur wegen der im Reich eingeführten Sommerzeit, die helfen soll, den Krieg zu gewinnen. So ein Blödsinn! Der Krieg ist längst verloren! Bloß kann niemand sagen, wie lange seine Agonie dauern wird. Ich schaue hinaus aufs Schloss. Wie war das früher schön, als es hell erleuchtet stand. Nun ist alles stockfinster, eben herrliche Zeiten - auch so eine Phrase.
Carola hat Tee aufgebrüht. Sie sieht mir wieder mal an, was ich denke. Ich will ja gar nicht, aber es denkt sich ganz von alleine. Das versteht sie nicht.
»Wer weiß, ob die Gestapo nicht sogar Gedanken lesen kann«, flüstert sie manchmal und schaut mich vorwurfsvoll an.
Ich höre ja schon auf und nicke ihr freundlich zu. Gleich lege ich den Kalender weg. Komisch, dass die Gedanken mit mir durchgehen, wenn ich das Ding in die Hand nehme. Albert Mitteldorf hatte recht, als er uns im August 1944 zu Carolas Geburtstag besuchte und nach einigen Gläsern Bier - das er selbst mitgebracht hatte - mit lockerer Zunge bemerkte: »Die Herren von der Kunstakademie in Wien hätten den Kerl aus Braunau bei sich studieren lassen sollen. Hätte keinem geschadet, der Welt hingegen wäre vermutlich viel erspart geblieben.«

Dies stelle ich mir unentwegt vor. Sicherlich würde ich dann immer noch als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Strafrecht meine Kanzlei führen. Und zum Privatvergnügen nebenbei am Gymnasium Nachhilfe geben und dem einen oder anderen Schüler Deutsch beizubringen versuchen. Deutsch ist wirklich eine sehr interessante Sprache, obwohl sie in den letzten zwölf Jahren vergewaltigt worden ist.
Carola gießt den dünnen Tee ein. Den brüht sie nach ihrer ganz persönlichen Methode, denn auch Tee ist Mangelware. Carolas Tee-Methode geht folgendermaßen: Den ersten Aufguss genießen wir am Sonntag. Montag bereitet sie aus zwei Portionen aufbewahrtem Teesatz eine neue Portion Tee. Und heute ist bereits Dienstag. Da färben die Reste das heiße Wasser allenfalls ein wenig. Von würzigem Geschmack will ich da gar nicht erst reden. Lausige Zeit, diese deutsche Heldenzeit - wieder so eine Phrase. Ich lächle Carola möglichst unschuldig an.

Gestern war ich bei meinem Freund Mäßig zu Besuch, der besitzt einen Volksempfänger und normalerweise wenn ich bei ihm bin, stellt Mäßig den Apparat aus. Ich darf ja nicht hören. Gestern hat er ihn eingeschaltet gelassen.
»Ich komme später zurück«, hatte ich gesagt, aber Mäßig hatte mich auf einen Stuhl gedrückt und laut gelacht.
»Bleib hier, Mensch, Kaltenbrunner versucht Hochdeutsch zu sprechen. Hör mal zu. Das klingt, als hätte eine schwangere Elefantenkuh Blähungen.«
»Wieso schwanger?«, hatte ich wissen wollen.
Mäßig winkte ab. »Die Stimme klingt so furzig, dass ich den Lulatsch mit den Schmissen in der kantigen Mörderfresse geradezu vor mir sehe! Hahaha.«
Mäßig hatte eigentlich völlig recht mit diesem Vergleich. Die Nazis sind doch bloße Blender, überhaupt alles in dieser Bewegung ist reines Blendwerk, schlichtester Betrug. Und deswegen würde ich Carola am liebsten offenbaren, dass ich mir sicher bin, dass die Kerle keine Gedanken lesen können. Wäre ja noch schöner. Aber ich halte lieber meinen Mund. Schließlich lebe ich nur noch, weil ich mit ihr verheiratet bin; nein andersherum, sie mit mir, denn ich genieße den Schutz des Halbjuden durch die Ehe mit einer reinrassigen Arierin. Welch ein idiotischer Begriff! Man muss Massel haben, wenn man den Tod überleben will. Rosenzweig hatte Pech, seine arische Ehefrau war von einer dieser komischen Bomben erschlagen worden.

Ich kann mich genau daran erinnern. Am 8. Oktober war das, im vergangenen Jahr. Dazu an einem Sonntag. Im ganzen Reichsgebiet wurde ein Wehrertüchtigungstag veranstaltet, in dessen Verlauf der Jahrgang 1928 sich als Kriegsfreiwillige melden sollte. Ein Kindergarten, angeführt von ein paar Hitlerjungen mit Befehlsbefugnis, marschierte durch die Stadt und passenderweise gab es den ersten Luftangriff auf Dresden.
Was haben wir gestaunt, als wir aus den Kellern kamen und entdeckten, dass überhaupt nichts zerstört war, sondern lediglich eine Menge Zeitungen im Kleinformat auf den Straßen herumflatterten. Die durfte man selbstverständlich nicht behalten, sondern musste sie sofort abgeben. Gelesen haben wir sie trotzdem und danach sprach es sich unter der Hand herum, dass wahrhaftig diese alliierten Teufelskerle ihr Leben eingesetzt hatten, um Propagandabomben auf uns niederregnen zu lassen, die nicht Tod und Verderben brachten, sondern alliierte Informationen zum Stand des Krieges. Eine dieser Propagandabomben hatte Rosenzweigs Frau sehr unglücklich getroffen und getötet. Und ihn, als nun nicht mehr durch die Ehe beschütztem Juden, hat man umgehend ins KZ geschickt. Gehört habe ich nichts mehr von ihm.

Jeden Tag, wenn ich den Kalender zur Hand nehme und einen überlebten Tag ausstreiche, besteigen mich diese Gedanken. Und das meine ich genau so, denn es bedrückt nicht nur. Das mag auch daran liegen, woher ich den Kalender habe. Bierlos hat ihn mir nämlich geschenkt. Bruno Bierlos. Am Silvesterabend. Habe ich mich schon beinahe dran gewöhnt, obwohl ich weiterhin ›Rosch ha-Schana‹, unser Neujahrsfest feiere. Zumindest begehe ich dieses Fest still und leise mit mir selbst.


3.

Bruno Bierlos. Sehkraft wie ein Maulwurf. Trotzdem übersahen seine klugen Augen hinter den minus 12 Dioptrien starken Gläsern auf der Stupsnase nichts Wesentliches. Als 1933 der Schulsport völkische Pflicht wurde, hat er sich vom Kletterseil fallen lassen und sich eine Hüfte gebrochen. Er hinkt infolgedessen leicht, und war seitdem von zumindest der vormilitärischen Pflichtübung der Körperertüchtigung befreit. Dass er sich bewusst fallen lassen hatte, konnte man ihm nie beweisen. Keiner der neuen Helden nahm ihn für voll, denn er grölte keine Parolen. Allerdings brachten ihm seine schlagfertigen Argumente gelegentlich Prügel ein. Er galt als Außenseiter. Aber sein Gehirn war aufnahmefähig wie ein feuchter Schwamm.

Seit Mitte der Zwanzigerjahre war die Arbeitslosigkeit gestiegen und der Staat konnte sich kaum Lehrkräfte leisten. Es herrschte reichsweit Lehrermangel und ich gab deswegen zu meinem eigenen Vergnügen und völlig kostenlos Nachhilfestunden in Deutsch am Gymnasium. Bis mich im Frühsommer 1933 der Deutschlehrer der Anstalt, Herr Oberstudienrat Güntz ansprach. Er wunderte sich über die urplötzlich nur noch bestenfalls genügenden Leistungen von Bruno Bierlos im Deutschunterricht. Güntz wusste, dass mir Bruno Bierlos etwas förderungswürdiger erschien als die meisten anderen und bat mich, mit Bruno zu reden. Bis dato hatte er in sämtlichen Fächern gut oder besser gestanden und so fragte ich ihn nach dem Grund seiner schlechten Deutschnoten.
»Mein lieber Herr Doktor Löwenthal, Deutschtum ist ja nun Pflicht und das liegt mir nicht so«, hatte er schmunzelnd erklärt. Der junge Mann zeigte Charakter, die meisten Menschen in Deutschland vor lauter Dickfelligkeit nicht einmal Rückgrat.

Bruno schwieg zwar, um nicht aufzufallen, aber er verweigerte sich konsequent den völkischen Pflichten. Sich aus Parteiorganisationen herauszuhalten gelang ihm leicht, denn seine körperliche Schwäche blieb augenscheinlich. Krüppel passten bereits damals nicht in Goebbels Propagandabild. Wer mag schon an die eigene Missbildung erinnert werden?
Anfang 1934 durfte ich nicht mehr ins Gymnasium. Die arische Jugend dürfe nicht Nachhilfe von einem Untermenschen erhalten, so hieß es. Juden unerwünscht! Mir hatte man lediglich einen Zettel an unsere Wohnungstür genagelt, auf dem geschrieben stand: ›Juden dürfen das Schulgelände bei Strafe nicht mehr betreten. Ab sofort! Unwiderrufliche Entscheidung der Reichsschulleitung. Widerspruch zwecklos.‹ Hakenkreuzstempel und unleserliche Unterschrift.
So verlor ich Bruno leider aus den Augen. Und wenn man auf der Abschussliste steht, hält man sich besser zurück, forderte Carola.

Am Montag, den 16. September 1935 wurde mir der Beschluss über mein Berufsverbot als Jurist eingeschrieben zugestellt. Ich sei kommunistischer Umtriebe überführt, lautete die Begründung, da ich mit der Sonntagsausgabe des Neuen Vorwärts vom 8.9.1935, in welcher Otto Wels gegen die nationalsozialistische Rassenhetze eintrat, auf dem Neumarkt angetroffen worden war. Man unterzog mich eines Schnellverfahrens ohne Anhörung. Folge, wie gesagt, das Berufsverbot und der Einzug meines Vermögens sowie Androhung weiterer Repressalien. Seit dem Tag bin ich vorsichtiger denn je. Schließlich habe ich sogar noch Glück gehabt.
Riebelutz, der Nachbar Kowalskis aus der Wilsdruffer Straße hatte mir erzählt, dass der Familie Kowalski einen Monat zuvor weit Übleres geschehen war. Kowalski hatte mit seinem Handkarren einem arischen Mädchen nicht rechtzeitig ausweichen können, das an der Hand ihrer Mutter übermütig herumtollte und gegen den Karren gestolpert war. Für diesen Verkehrsunfall mit Personenschaden (Urteil: Körperverletzung durch Übertretung der Fahrzeugverordnung) erhielt er 10 Mark Strafe. Das reichte, um bei Kowalski das ›Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen zum Schutze des deutschen Blutes‹ von 1935 anzuwenden, ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und mit Frau und den Töchtern nach Polen abzuschieben. Gerade mal zwei Stunden Zeit hatten sie gehabt, persönliche Gegenstände in zwei Koffer zu packen, denn mehr war nicht erlaubt, dann wurden sie mit anderen Ausgewiesenen auf der Ladefläche eines Wehrmacht-Lkw unter bewaffneter Bewachung zum Bahnhof Neustadt transportiert. Als Fremdblütigen, nunmehr Ausländern, war es ihnen untersagt, sich bei der Sparkasse mit Bargeld vom eigenen Konto zu versorgen. Ob Kowalskis in Polen angekommen waren, wusste Riebelutz nicht. Als er mir dies erzählte, hatte ich wütend die Fäuste in den Manteltaschen geballt.

Aber schon im großen Krieg, der mittlerweile der Erste Weltkrieg heißt, habe ich mir, frei nach Shakespeare, immer gesagt: Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht. Und in dem idiotischen Taumel, in dem wir heute leben, halte ich mich äußerst strikt an diese Devise, denn gegen die großdeutsche Gesinnung kann man im Augenblick nichts machen. Ich verhalte mich wie ein Kamel, ja wie eine Seele von einem Kamel und bin damit bisher sogar ohne größere Vergeltungsmaßnahmen durchgekommen. Carola hält mich für einen Feigling, das weiß ich. Doch ich bin erst während der vergangenen zwölf Jahre zu einem Feigling geworden.
Und außerdem hat Carola mich ja darin bestärkt, keine Rechtsmittel gegen die Reichsschulleitung einzulegen, weil Recht in Deutschland mittlerweile eine sonderbare Sache geworden ist. Recht hat nämlich nur Rechts, der Rest hat die Schnauze zu halten. Und das tue ich, denn ich halte Schweigen im Moment für wesentlich klüger. Glück braucht man natürlich auch und beinahe schäme ich mich für meinen Massel.


4.

Als uns im Dezember 1944 ausgerechnet Bruno Bierlos als Blockwart zugeteilt wurde, staunte ich nicht schlecht. Wir trafen uns im Judenkeller unseres Hauses wieder. Ob Dresden Ziel des Angriffs sein würde, war unklar. Die Erde zitterte noch nicht, das Licht schien ruhig. Bruno stand am Eingang, den Eimer und die Feuerpatsche in der Hand. Er hatte mir kurz zugenickt, dann meinen Stern entdeckt. Auf der Faust, die den Eimer trug, traten die Knöchel weiß hervor. Dann öffnete sich die Faust und der Eimer fiel mit einem Knall und laut scheppernd zu Boden, sodass alle Leute im Keller angstvoll zuckten und die Köpfe einzogen. Die Feuerpatsche landete neben dem Eimer. Bruno ergriff meine Hände und drückte mich an sich.
»Ach, Herr Doktor. Es ist schön, Sie zu sehen. Wenngleich unter diesen unerfreulichen Umständen.« Er ließ mich los und betrachtete meinen Stern. »Jetzt begreife ich, weshalb Sie so plötzlich verschwunden waren. Man hatte uns erzählt, dass Sie ... na, ist ja egal. Ich fürchte, dass nicht mehr viele übrig sind.«
»Das befürchte ich auch, mein Junge. Und dass ich noch hier bin, liegt womöglich nur daran, dass ich mit einer Arierin verheiratet bin. Bislang ist das nicht verboten.«

»Nicht nur deshalb wünsche ich Ihrer Frau ein langes Leben.«
Er küsste Carolas Hand und schaute sich im Bunker um. Obwohl von draußen nichts zu hören war, umfing uns leises Beten und das schwache Wimmern eines übermüdeten Kindes. Jeder schien nur mit seiner Angst beschäftigt zu sein. Ich wunderte mich trotzdem über Brunos Worte. So herzlich hatte uns seit Langem niemand mehr begrüßt.
Er grinste über das ganze Gesicht und flüsterte: »Der ganze Zauber dauert nicht mehr lang, Herr Doktor. Die Stimmung kippt schon langsam um. Vor ein paar Tagen habe ich eine beeindruckende Szene beobachtet. Mir kam auf der Langemarckstraße beim Reichsplatz ein zittriger älterer Mann entgegen, der während des Gehens versonnen an einem Päckchen in den Händen schnupperte und beinahe in einen Luftwaffenoffizier gelaufen wäre. Im letzten Augenblick hob das Männchen den Kopf und blieb abrupt stehen. Natürlich ließ er das Paket angsterfüllt zu Boden fallen. Ein Stück Fleisch hüpfte aus dem Papier und der kleine Mann stand zitternd vor dem Flieger und duckte sich. Zunächst hatte ich befürchtet, der Hüne scheißt den Hungerleider jetzt wegen der Unachtsamkeit zusammen. Schließlich ist Fleisch Mangelware. Und richtig, er hob das Fleischpäckchen auf, griff den einfachen Volksgenossen am Ärmel und stellte ihn aufrecht, ich konnte den Stern deutlich leuchten sehen. Die halbe Portion schlotterte vor Angst und stammelte mit zittriger Stimme: ›Behalten Sie es ruhig, gnädiger Herr.‹ Der Flieger ließ den Ärmel los, stemmte die Faust in die Hüfte, ruderte mit dem Fleischpäckchen in der anderen Hand und fragte lautstark: ›Was glauben Sie eigentlich, in welcher Zeit wir leben?!‹ Das Männchen starb geradezu und sagte leise: ›Ich bin Nichtarier.‹ Da lachte der andere kurz, schüttelte den Kopf, drückte dem Verdutzten das Fleisch in die Hand zurück und verabschiedete sich mit einem barschen: ›Das ist mir doch scheißegal!‹
Sie sehen, Herr Doktor, der Karren kippt um. Es geht langsam aufwärts, obwohl der Milchtopf nicht ganz vom Feuer ist. Ach, übrigens Milch, wie geht es dem Mäxchen?«

»Seit dem 15. Mai 1942 dürfen Sternjuden und jeder, der mit einem solchen zusammenwohnt keine Hunde, Katzen, Vögel oder sonstige Tiere mehr halten. Wir haben Mäxchen einem Bekannten in Laubegast geschenkt. In dessen Garten darf er wenigstens jagen, wenn es noch Mäuse gibt.«
»Sicherlich, Herr Doktor, aber auch leider viel zu viele Ratten. Und damit meine ich nicht die vierbeinigen.« Er winkte ab und schaute sich forschend um. Niemand schien auf uns zu achten. »Tut mir leid. Sie haben ziemlich an dem Tierchen gehangen, nicht wahr?«
»Ja, wir vermissen den Kleinen. Jedoch in dieser Hungerhölle würde er sich ohnehin nicht wohlfühlen. Vielleicht ist es besser so.«
»Wenn es vorbei ist, können Sie ihn ja zurückholen. Apropos, endlich Entwarnung. Für diesmal ist es wieder vorbei! Sowieso sonderbar, Gauleiter Mutschmann hat gerade erst großspurig versichert: ›Dresden ist tabu!‹«

Bruno öffnete die Bunkertür. Die ersten Leute verließen den Schutzraum und traten in die Dunkelheit. Wahrscheinlich hatte Leipzig den Segen abbekommen. Die armen Schweine. Wir traten hinaus auf die Schlossstraße, viele Menschen hasteten an uns vorbei. Bruno hielt mir die Hand entgegen.
»Da fällt mir etwas ein, Herr Doktor. Sagen Sie mal, was machen Sie zu Silvester?«
Brunos lockere Art ließ mich gedankenlos drauflosplappern.
»Kommt darauf an, was wir zu essen organisieren können. Ansonsten abwarten und Tee trinken. Und vor allen Dingen auf andere Zeiten hoffen.«
»Was halten Sie von einem 37er Johannisberger? Original Kellerabzug. Genau das Richtige, um den Wechsel in ein besseres Jahr zu feiern.«
Ein hohes Stimmchen meldete sich hinter uns. »Was meinen Sie mit besserem Jahr, Freundchen? Sie sollten lieber eine Knarre in die Hand nehmen und an der Front das Vaterland verteidigen, als sich hier herumzudrücken und miesmachen!« Bruno betrachtete den Mann, zu dem das Stimmchen gehörte und der den Existenzknopf auffällig am Revers trug. Dann hinkte Bruno einen Schritt auf ihn zu. Die Augen des Parteigenossen (PG) wanderten verächtlich an Bruno hinab. »Ach so einer sind Sie. Haben Sie sich das wenigstens im ehrlichen Kampf fürs Vaterland zugezogen?«

»Nein, ich hinke seit meiner Geburt. Zufrieden?«, log Bruno.
Das Parteimitglied wuchs. »Nicht diesen Ton, Sie Subjekt! So, so, nicht nur ein Deutscher, der mit einem Juden feiern will, sondern darüber hinaus ein minderwertiges Element, der Hamsterwaren besitzt, was! Vergasen sollte man solch einen Kerl wie Sie. Die Geburtskrüppel sind noch unser Untergang! Vergasen! Alle vergasen!«
Brunos Stimme durchschnitt die Luft rasiermesserscharf: »Achtung! Alle mal herhören! Ich werde das melden. Achtung, dieser Mann hat den Reichspropagandaminister schwer beleidigt! Stehen bleiben, Leute, ich brauche Zeugen!«
Der Volks- und Parteigenosse zuckte. Einige Leute blieben tatsächlich stehen. Wunderten sich, dass jemand laut wurde. Durch das Interesse einiger fühlten sich zunehmend mehr Leute angezogen, die Zahl der uns umgebenden Zuschauer stieg.
»Aber ...« Der Parteigenosse stemmte die Fäuste in die Hüften. Von einem Blockwart ließe er sich nicht derart anfahren. »Was erlauben Sie ...«
Nun schrie Bruno: »Was fällt Ihnen ein?! Name, Anschrift! Sie wollen die Hinkenden vergasen, damit haben Sie ganz offensichtlich unsern allseits geliebten Minister Goebbels gemeint. Kerl, mit Ihnen machen wir kurzen Prozess! Muss sofort eine Streife her!« Bruno zückte die Trillerpfeife und hob sie zum Mund.
Entsetzen beherrschte nun das Gesicht des PG.

Eine Frau mit erloschenen Augen trat aus der Zuschauermenge nah zu uns. »Das ist Kurt Schmidt. Wohnt in Schössergasse Nummer 12, zweiter Stock. Ich wohne ebenfalls dort in einem Zimmer, Tiefparterre. Kurt Schmidt ist aus tiefster Berufung Denunziant. Meinen Mann hat er auch auf dem Gewissen. Ich habe gehört, was er gerade über unseren Propagandaminister gesagt hat und werde es vor jedem Gericht bezeugen.« Sie blickte ihm aufrecht ins Gesicht. »Du glaubst gar nicht, wie ich die Angst in deinen Augen genieße, Kurt. Darauf warte ich seit Jahren und ich habe immer noch das dringende Bedürfnis, dich anzuspucken. Aber meine Spucke ist für deine Visage viel zu schade.« Sie spuckte vor die Füße des PG und verließ uns durch den sich langsam öffnenden Kordon der Zuschauer. Sie wirkte wie eine Fee. Elfenhaft beinahe, als schwebe sie auf einer Wolke.

Bruno wirkte wie in der Schule, wenn er wieder mal irgendeinen Schreihals vor versammelter Mannschaft an die Wand geredet hatte.
»Ich werde bei der SS über Sie Meldung machen, Herr Schmidt. Ist jemand von Ihnen ...«, Bruno wandte sich an die Umstehenden, »ist jemand bereit, mich als Zeuge zur SS zu begleiten?« Im gleichen Augenblick war die Menge auseinander. Die zwei Begriffe Zeuge und SS hatten genügt, dass die Leute davoneilten. Bruno sprach nun zum PG. »Eine Zeugin ist ausreichend, Herr Schmidt. An Ihrer Stelle würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Freuen Sie sich inzwischen auf die Befragung! Ich denke, dass die Beleidigung des Ministers strikt bestraft werden wird. Die Guillotine ist von der SS seit Langem als viel zu human abgeschafft. Die neueren Methoden haben die Herren sich bei der Kirche abgeschaut, obschon hier bei uns die Leute bislang nicht lebendig verbrannt werden, glaube ich. Aber auch in Sachen Hängen sind die Herrschaften hoch motiviert. Zur Abschreckung natürlich nur, schließlich sind wir ein Volk von Herrenmenschen. Hauen Sie ab, ich denke, morgen früh wird man Sie abholen! Na los, oder sollen wir das direkt erledigen?« Bruno hob erneut die Pfeife an die Lippen. So viel Brutalität hätte ich Bruno gar nicht zugetraut.
Der Mann verließ den Platz mit hängenden Schultern. Ein lebender Kadaver.
»Musste das sein?«
»Ja. Der Kerl würde uns ohne mit der Wimper zu zucken anzeigen und mit Genuss aufs Schafott bringen.«
»Und was geschieht nun? Willst du wirklich eine Anzeige machen? Die arme Frau da mit hineinziehen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Parteigenossen wegen einer solchen Lappalie aufhängen wird.« Ich tippte auf meinen Stern. »Ich möchte mit denen nichts zu tun haben.«
Bruno schaute sich nach allen Seiten aufmerksam um und vergewisserte sich, dass niemand mehr zugegen war. »Machen Sie sich mal keine Sorge, glauben Sie, ich will mit denen was zu tun haben? Ich werde dem Scheißkerl morgen früh erneut gut zureden. Leute, wie der, machen mittlerweile jede noch so widerliche Sauerei, bloß damit sie wenigstens ein Weilchen weitermachen können. Die wissen ganz genau, dass es mit ihrer Narrenfreiheit bald vorbei ist und dass sie dann womöglich zur Verantwortung gezogen werden. Seit dem 20. Juli hoffen ein Haufen einfacher Leute wieder und trauern nur darum, dass Hitler nicht im Sarg herausgetragen wurde.«
Obwohl die Worte lebensgefährlich waren, musste ich nach Monaten zum ersten Mal lächeln. Wortwitz à la Bruno Bierlos.


5.

Am Silvesterabend 1944 erschien Bruno mit zwei Flaschen Wein und einer Schallplatte unter dem Arm, sowie einem gehäuteten Kaninchen ohne Kopf in einem Blatt Zeitungspapier. Unwillkürlich musste ich an Mäxchen denken. Statt Kaninchen waren schon im letzten großen Krieg viele Katzen gegessen worden. Das war sicherlich in unserer Zeit herrlicher Größe nicht wesentlich anders. Dazu gab es Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Obwohl es nirgendwo Zwiebeln zu geben schien. Man tuschelte, dass aus Zwiebeln irgendein kriegsentscheidendes Gas hergestellt würde, als Pendant zum Senfgas oder so ähnlich.
So unglaublich es auch klingen mag, trotzdem hatte ich Zwiebeln aufgetrieben. In der Ziegelstraße, Ecke Elias-Platz neben dem Friedhof. Am Silvestermorgen hatte dort ein Handkarren gestanden, auf dem Grünkohl, Kartoffeln und Mohrrüben lagen. Neben dem Karren stand eine an sich jung wirkende Frau mit dennoch bereits schlohweißem Haar. Unsere großartige Zeit hatte sie wohl so früh vergreisen lassen. Sie verkaufte das Gemüse. Ich betrachtete die Mohrrüben und konnte mich nicht erinnern, wann ich solche Köstlichkeiten zum letzten Mal gegessen hatte.
Wir lebten seit Jahren nur auf Carolas Karten und was es dafür zu kaufen gab, reichte kaum für sie allein. Mir wurde schwindelig. Wie sehr kann Hunger einem das Gehirn vernebeln.

Eine andere Frau, die ein buntes Tuch um ihren Kopf geschlungen hatte und ein Fahrrad schob, hatte mich beobachtet, denn sie blieb vor mir stehen und nickte mir zu. Ihr Blick berührte nur einen Augenblick meinen Stern.
»Haben Sie kein Geld?«
Ich biss mir auf die Lippen und senkte den Blick.
»Ich habe keine Marken«, antwortete ich. »Entschuldigen Sie bitte.« Lieber schnell weg, dachte ich und drehte mich um.
»Nun laufen Sie nicht gleich davon, Herr Doktor.«
Derart angesprochen blieb ich stehen. »Sie kennen mich?«
»Natürlich. Ich bin die Mutter vom Paul. Paul Malert, Herr Doktor. Erinnern Sie sich nicht?«
»Paul Malert, und ob ich mich an den Bengel erinnere.« Wieso ich ihn so genau im Gedächtnis hatte, verschwieg ich lieber. Ich hatte den pubertierenden Paul nämlich seinerzeit mal in einer sehr delikaten Situation mit drei ebenso blutjungen wie nackten Mädchen ertappt. Kann man einer Mutter unmöglich erzählen. »Wie geht es Paul?«
»Ich hoffe gut. Er ist Soldat, aber er schreibt leider viel zu selten, der Bengel. Das haben Sie ganz richtig gesagt. Weshalb haben Sie denn keine Lebensmittelmarken?«
»Na, Sie sind vielleicht gut. Ich trage den ›Pour de Sémite‹.« Ich tippte gegen den Stern. »Wir dürfen doch an der völkischen Nahrungsfürsorge nicht teilhaben.«
»Im Ernst? Das habe ich nicht gewusst. Das ist ja unerhört! Wovon leben Sie denn dann?«
»Meine Frau ist Arierin und sie bekommt Marken. Wir teilen halt.«
»Und das soll sozial sein?«
»Wieso sozial?«
»Na, wofür steht denn das ›S‹ im Parteinamen, wenn nicht für sozialistisch?«
»Jedenfalls nicht für mitmenschlich! Lassen Sie uns aufhören, Frau Malert. Ich darf überhaupt nicht so reden. Zurück zu Ihrer Frage«, mit den Nägeln der rechten Hand kratzte ich den Handteller der linken, »offen gesagt, Geld habe ich auch nicht.«

Frau Malert lächelte. Sie beobachtete mich eine Weile nachdenklich und unter diesem Blick fühlte ich mich nackter als bei Verhören durch die Polizei. Ihre Augen wirkten durch ihre dicken Brillengläser wie ungewöhnlich große dunkle Murmeln. Sie schaute nochmals zu meinem Stern und verzog angewidert den Mund. »Haben Sie Kinder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zum Glück für die Kinder haben wir keine.«
»So gesehen haben Sie recht«, erwiderte die Frau. »Die Kinder tun mir am meisten leid. Wie lange es wohl dauern wird, den Blagen diesen ganzen Irrsinn aus den Köpfen zu kriegen. Halten Sie mal bitte.« Sie hielt mir den Fahrradlenker hin und ging zu der Gemüsefrau, verlangte eine Handvoll Kartoffeln und einige Mohrrüben, kam wieder zu mir und steckte mir die Kostbarkeiten in die Manteltaschen. Nun trat die Verkäuferin zu mir und steckte zwei schöne Zwiebeln dazu. »Allein hätte ich mich das niemals getraut«, gestand sie.
»Weswegen? Schenken ist schließlich nicht verboten«, ereiferte sich Frau Malert.
Vor Hunger, Vorfreude auf das Abendessen und Rührung brachte ich keinen Ton raus und blickte zwischen den beiden Frauen hin und her.
»Nu man hoch den Kopp«, flüsterte die Verkäuferin mit dem weißen Haar. »Das dauert nich mehr lang. Und wenn Se bis jetzt ausjehalten ham, sollten Se sich jefällichst bemühen, ooch den Rest ze überleben. Se sehen mich an wie een Schaf. Kann man ja glatt sentimental werden. Nu jehn Se schon und alles Jute im tausendsten Jahr.« Sie grinste und berührte ein Brett ihres Karren. »Bloß nicht verschreien, Holz anfassen.«


6.

Um Mitternacht des Silvesterabends 1944 hatte mir Bruno den Kalender in die Hand gedrückt, auf dem ich nun zum 44. Mal einen Tag abstreiche, eben den 13. Februar 1945.
»Herr Doktor, ich habe hier etwas für Sie«, hatte er zu mir gesagt, nachdem Mitternacht vorüber war und wir uns gegenseitig viel Glück gewünscht hatten. »Würden Sie mir einen Gefallen tun und ab heute jeden Tag ausstreichen?«
Ich weiß noch genau, wie ich ihm in die Augen sah und instinktiv Angst verspürte. Vielleicht hört uns trotz unserer gedämpften Stimmen irgendjemand zu, hatte ich befürchtet. Also lügen, dachte ich. »Wenn es dem Endsieg nicht schadet.«
Der Blick hielt.


»Wie unser geliebter Minister Goebbels bereits bemerkte, der Sieg ist demjenigen sicher, der ihn verdient!«, rief Bruno überlaut, stellte den Plattenspieler an und legte die Platte auf, die er mitgebracht hatte. Laut dröhnte Marschmusik, da hört jeder Denunziant betreten beiseite.
Carola und ich müssen wohl recht erstaunt gewirkt haben, denn Bruno grinste.
»Marschmusik ist in Deutschland am wenigsten gefährlich, wenn man sich ungezwungen unterhalten möchte. Die Platte ist von meinem Vater und ich wollte uns zumindest den Lieblingsmarsch des österreichischen Gefreiten ersparen. Sie dauert nur nicht lange und wenn wir sie laufend spielen, könnte man uns das durchaus als Verunglimpfung auslegen. Also kurz, Herr Doktor. Höchstens vier oder fünf Monate, dann sind diese tausend Jahre ausgestanden. Kennen Sie den Schlager von Lale Andersen: ›Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ...‹?«
»Na ja, habe ich gehört. Ist nicht gerade sehr anspruchsvoll.«

»Deswegen singen unsere Landser schon seit November einen geradezu hoffnungsvollen Text zu der Melodie: ›... im April geht der Führer, und im Mai die Partei!‹ Leider sind wir bis dahin noch nicht aus dem Schneider. Ich bitte Sie ganz inständig, Dresden so bald als nur irgend möglich zu verlassen. Bislang sind Sie geduldet, als Jude mit arischer Ehefrau aus bester völkischer Herkunft - was für eine schwachsinnige Phrase. Die Nerven der Kerle liegen blank, die bringen im letzten Moment lieber alle um, als hinterher lästige Zeugen am Hals zu haben. Selbst als Blockwart ...«
Die Platte tat den letzten Kratzer. Bruno startete sie trotz seiner vorhin geäußerten Bedenken erneut.
»Selbst als Blockwart muss ich ganz vorsichtig sein. Spätestens im März ist der Bart ab, Herr Doktor. Entschuldigung, das mit dem Bart habe ich nur so gesagt. Hauen Sie ab in die Schweiz, nur nicht in die Sächsische. Wie hat unser trampeliger Gauleiter Martin Mutschmann doch dem ebenso trampeligen Frankenführer Julius Streicher mitgeteilt: ›In unserer herrlichen Sächsischen Schweiz ist kein Platz für Juden!‹ Sehen Sie zu, dass Sie nach Helvetia kommen. Dort wird man zwar später auch nicht daran erinnert werden wollen, dass man so vielen nicht hat helfen mögen und sie stattdessen zurück in die Gaskammern getrieben hat. Aber dort werden Flüchtlinge mittlerweile wieder lange genug verhört, um ihnen eine Chance zum Überleben zu lassen. Besonders, wenn der Verhörte Geld mitbringt. Wenn Sie irgendwann gegen Mitte Februar aufbrechen und es bis Anfang März über die Grenze schaffen, könnten Sie wirklich in Sicherheit sein. Also sehen Sie zu, dass Sie beizeiten auf Ihren Baum gestiegen sind - ich zitiere in diesem Zusammenhang sehr gerne Wilhelm Busch ›Wenn das Rhinozeros, das schlimme, dich fressen will in seinem Grimme, dann steig auf einen Baum beizeiten, sonst hast du Unannehmlichkeiten!‹ - Die Schweiz ist der Baum, auf den Sie steigen müssen, Herr Doktor! Verfügen Sie über Geld oder irgendwelche Werte?«

»Nein. Wir dürfen nichts mehr haben. Demzufolge sollten wir den Gedanken, dass wir verreisen könnten, schnell wieder vergessen. Außerdem, wo sollte ich eine Reiseerlaubnis für uns herbekommen? Als Jude? Lächerlich.«
»Überhaupt nicht lächerlich, Herr Doktor! Sie sind viel zu pessimistisch! Sie dürfen nicht länger in der Herde mittrotten und brav gehorchen! Irgendwann wird es eine Gelegenheit geben, zu verschwinden. Dann muss der Stern weg und die Papiere müssen weg. Wenn Sie jetzt aufbrechen, wird es nicht klappen. Aber in fünf, sechs Wochen sind die Strukturen völlig erledigt. Glauben Sie im Ernst, dass unter dem Umstand irgendwer nach Papieren fragt?«
»Papiere werden in Deutschland immer wichtiger sein als alles andere«, warf Carola ein. »Hat Brecht schon 1940 vorhergesehen: ›Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Schließlich kommt er auch nicht auf so einfache Weise zustande, wie ein Mensch ... Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.‹ Hat Brecht gesagt.«
»Stimmt. Brecht muss es ja wissen, letztendlich ist er ja ausgebürgert worden. Und wenn dieser Winter vorbei ist, dürfte für kurze Zeit jegliche Administration im allgemeinen Zusammenbruch unüberschaubar sein. Dann braucht es in der Stadt, in der man gerade ist, bloß einen Volltreffer im Rathaus. Ohne Listen und Unterlagen sind Beamte absolut hilflos. Vielleicht gibt es mal einen Angriff auf uns und vielleicht einen Volltreffer hier im Block. Vielleicht nicht gerade in dem Keller, in dem Sie hocken, aber irgendwo in der Nähe, dann nichts wie weg! Wenn ich selbst nicht so ein Scheißpech gehabt hätte, wäre ich längst in Sicherheit.« Bruno wirkte richtig wütend.

»Was für ein Pech?«
»Nachdem ich 1935 durchs Abitur gerasselt war, bin ich abgehauen.«
»Du bist durchs Abitur? Weswegen?«
»›Nicht genügend‹ in Deutschtümelei und das hat man mir übel genommen. Ich bereue trotzdem nichts. Ich habe in Antibes als Barmixer gearbeitet, meine Longdrinks waren der Geheimtipp dort.«
»Wo?«
»In Antibes. An der Côte d’Azur. Das ist ein ganz kleines Fischerdorf zwischen Nizza und Cannes. Dort gibt es kaum Deutsche, nur Einheimische und im Winter ein paar Engländer. Die waren ganz verrückt auf meine Drinks.«
»Antibes kennen wir. 1930 waren wir mal dort, ein netter Hafen mit der Burg darüber. Erinnerst du dich daran, Carola? Meinen 23. Geburtstag haben wir in Cannes gefeiert, weil ich kurz vorher von der sicher in Aussicht stehenden Verleihung meines Doctor iuris utriusque erfahren hatte.«
»Doktor was in was?«, fragte Bruno.

»Das bedeutet Doktor beiderlei Rechts, des kirchlichen und des weltlichen. Ich fühlte mich stolz wie Oskar. Natürlich weiß ich genau, dass mein Mentor Professor Grünbaum daran gedreht hatte, obwohl er es nie zugab. Na, auf jeden Fall hat er gedrängt, dass wir den künftigen Titel gemeinsam mit meinem Geburtstag in Cannes feiern müssten. Das haben wir gemacht, und zwar im gerade neu eröffneten ›Majestic‹ an der Croisette. Und während dieser Tage sind wir mal in Antibes gewesen. Warum bist du denn nicht dort geblieben?«
»Na, wegen dem Scheißkrieg!«
»Bruno, wenn schon, dann sag gefälligst wegen des Krieges! Kein Wunder, dass du durchs Abitur gefallen bist. Was hattest du denn mit dem Krieg zu tun?«
»Na, ich war noch Deutscher. Mein Einbürgerungsverfahren lief zu der Zeit und irgendwann im September 1939 hätte ich meine französische Staatsbürgerschaft erhalten.«
»Der Krieg hat doch erst im September begonnen.«
»Richtig. Aber französische Freunde hatten mich gewarnt, dass, wenn Paris dem Reich den Krieg erklärt, wäre ich als Deutscher plötzlich auch der böse Feind. Und meine Freunde vermuteten weiter, dass die Franzosen alle bösen Feinde zunächst mal vorsichtshalber in Internierungslager stecken würden. Darauf hatte ich nun gar keine Lust und bin Anfang August in die Schweiz abgedampft, schwarz über die Grenze. Das hat den Schweizern hingegen nicht gefallen, und die haben mich nach Deutschland abgeschoben.«
»Und?«
»Nichts und. Ein paar Monate Untersuchungshaft wegen Reichsflucht. Im Knast habe ich für die Wachen Drinks gemixt, die waren begeistert und haben mir geholfen, wo sie nur konnten. Nach der Freilassung habe ich dann in einer Fernmeldeeinheit der Wehrmacht im Offizierskasino den Barmixer gespielt. Meine Drinks waren dort genauso der Hit wie in Antibes und ich war praktisch vor jeglicher Nachstellung sicher. Im Mai 1940 ging es mit denen nach Belgien und als Clou habe ich am 22. Juni in Compiègne die Drinks zum Abschluss der Waffenstillstandsverhandlungen gemixt.«
»Du? Das gibt es nicht! Du bei jenen hohen Herren?«
»Ja. Scheißplatte, ist schon wieder zu Ende. Na gut, lassen wir eben die Rückseite laufen. So, na also. Wo war ich? Ach ja, hat ja niemand gewusst, dass ich so gerne ein Franzose wäre! Und ich habe mir gedacht, in der Höhle des Löwen wird mich der Löwe wohl nicht vermuten. Ganz einfach. Und in Paris habe ich von einem süßen Mädchen französisch sprechen gelernt wie ein Pariser. Die Kleine hat im Widerstand mitgemischt und ich habe ihr alles erzählt, was ich im Kasino gehört hatte. Besoffene Offiziere reden ziemlich viel. Françoise, so hieß das Mädchen, wollte mir helfen, mich ins unbesetzte Frankreich schaffen und mir auf den Namen Gérard Courvoisier französische Papiere besorgen. Courvoisier, weil ich diesen Cognac als Grundlage meiner Drinks benutzte. Zu Weihnachten 1942 sollte es so weit sein. Ja, Scheiße!«
»Bruno!«
»Nix, Bruno. Im November hat dann die Wehrmacht mit der Besetzung der Südzone Frankreichs begonnen. Und somit hatte ich erneut Pech. Es war unmöglich, so schnell unbemerkt die Seiten zu wechseln. Und als sich die Zeichen einer alliierten Landung in Frankreich mehrten, rieten mir meine französischen Freunde, nach Dresden zurückzukehren. Sie würden sich melden. Und so bin ich hier gelandet. Wenn irgend möglich, möchte ich nach Antibes, bevor der Krieg zu Ende ist. Denn danach wird man uns bestimmt eine ganze Weile nicht aus Deutschland rauslassen, aber ich will dort unten leben. Das Essen, die Frauen und die Sprache haben es mir angetan. Abhauen werde ich auf jeden Fall. Und wenn es in der Nähe einen Volltreffer geben sollte, wird Bruno Bierlos nicht mehr existieren, Gérard klingt wesentlich besser. Wenn es mal im Hause kracht, sollten Sie besser anderswo in einem Keller überleben. Na ja, kann man ja nicht vorhersehen.«

Der Marsch war leider zu Ende. Komisch, dass ausgerechnet ich dies bedauerte, wo ich doch Militär, Fahnen und Marschmusik für das Dümmste halte, was es gibt.
»Jawohl, Herr Doktor, Sie haben recht!«, rief Bruno überlaut. »Wenn erst die neuen Waffen des Führers da sind, werden wir es den Kerlen ordentlich zeigen. Ich wünsche ein siegreiches neues Jahr. Ich werde nun die Verdunkelung im Block kontrollieren. Zunächst einmal muss ich pinkeln. Kommen Sie, Herr Doktor, lassen Sie uns eine gute deutsche Eiche düngen.«
Ich folgte Bruno Bierlos. Jeder Horcher hätte gewusst, einem Blockwart stellt man sich besser nicht in den Weg.
»Meinst du wirklich«, fragte ich Bruno draußen, »es ist gut, einen Juden aufzufordern, eine deutsche Eiche zu düngen? Schadet womöglich der Stämmigkeit, oder?«
Bruno schwieg einen Moment lang. »Also die Verordnung ist bislang nicht raus. Wer weiß, aber ich wollte Ihnen unbedingt etwas zeigen.«
Brunos Wasser plätscherte die Eichenrinde hinunter. Bruno schaute sich zunächst sorgfältig um und dann an mir hinunter.
»Sie sind beschnitten, Herr Doktor, bedeutsam in unserer großen Zeit. Tja, ich habe auch etwas zu bieten, sehen Sie nur.«
Ein Mann schaut nicht so leicht weg, dachte ich, und blickte an Bruno hinab und wollte es nicht glauben. Der Anblick verschlug mir den Atem. Ich schaute wieder in Brunos Augen und atmete tief aus.

»Du bist beschnitten?! Kein Mensch wird einem beschnittenen Mann einen öffentlichen Posten in Deutschland verschaffen können. Und wieso bist du jetzt Blockwart?«
Bruno lachte. »Purer Zufall, Herr Doktor. Ich war acht Tage alt, als mein Vater mich beschneiden ließ. Er war 1913 zum jüdischen Glauben übergetreten. Das wusste allerdings kaum jemand. Ich habe mich lange geschämt, weil ich eben anders war als die anderen - mittlerweile bin ich stolz darauf. Und einem hinkenden Mann glotzt keiner auf den Pimmel. Nicht einmal bei der Musterung wollte man mich zum Glück eingehender betrachten. Wir Gehkrüppel waren nie gerne gesehen. Aber unser Krieg hat inzwischen so viele Krüppel produziert, dass wir mittlerweile gar nicht weiter auffallen. Nicht mal Goebbels Klumpfuß und wer weiß, vielleicht gilt das demnächst sogar als besonders schick. Womöglich plant er sogar ein Gesetz in dieser Richtung, von dem wir nichts ahnen. Hinken darf in Großdeutschland nicht als krank gelten. Beschnitten sein schon, denn das ist undeutsch! Apropos, ich wollte Ihnen ja eine komische Begebenheit erzählen. Am 9. November letzten Jahres bin ich Esel am Adolf-Hitler-Platz in einen Aufmarsch zum Heldengedenken an Wessel und den Novemberputsch gestolpert. Wie ich da nun stehe und nicht weg kann, fangen die Dummköpfe an zu grölen: ›Juden raus, Juden raus!‹ Solch einen Blödsinn muss man sich erst mal vorstellen, es gibt doch kaum noch welche. Schließlich haben die Kerle vorletztes Jahr im Juni, ich glaube am 12. war’s, die Reichsvereinigung der Juden aufgelöst, weil es im ganzen Reich gar keine mehr gäbe. Hätte ich diesen grölenden Hirnlosen am liebsten entgegengerufen.«
»Um Himmels willen, was hast du gemacht?«
»Na, was werd ich gemacht haben? Ich habe mitgeschrien ›Juden raus!‹ - Soll ich mich totschlagen lassen?«


7.

Im Januar übernahm ein anderer Blockwart das Kommando. Bruno Bierlos war wie vom Erdboden verschwunden, obwohl wir weder einen Angriff und erst recht keinen Volltreffer bekommen hatten. Was mochte nur seine gute Gelegenheit gewesen sein? Hoffentlich schaffte er es zu den Franzosen. »Ach Bruno«, sagte ich ins Nichts. »Ich wünsche dir alles erdenklich Gute.« Welchen Namen hatte er mir denn nur genannt, den er in Frankreich führen wollte? Irgendwas mit Schnaps, das wusste ich, nur welcher Schnaps? Keinen blassen Schimmer. Irgendwas Französisches, Cognac bestimmt. Ich werde alt. Hennessy war es auf jeden Fall nicht. Na egal. Alles Gute, Bruno.
Die erste Anordnung des Neuen fand ich morgens an unsere Haustür gezwickt: ›Nichtariern sind die Arierkeller verboten!!!‹, wahrhaftig mit drei Ausrufezeichen. Offensichtlich hatte Bruno Bierlos tatsächlich genau gewusst, wovon er in der Silvesternacht gesprochen hatte. Zwar haben wir in unserem Judenhaus in der Sporergasse 2 einen Kellerverschlag in dem Juden sich verkriechen dürfen, aber nebenan im Mittelhaus gab es einen geeigneten Keller, der aus gemauertem Gewölbe einem richtigen Betonboden errichtet war. Dort durfte ich nun nicht mehr hinein. Jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, machte ich mir beinahe in die Hosen und betete, dass Mutschmann recht behalten würde, und Dresden bliebe tabu.

Die Gemeinsamkeit und der damit verbundene Schutz vor bürgerlicher Willkür bröckelte. Noch durften wir gemeinsam leben und wohnen, nur nicht mehr gemeinsam sterben. Carola durfte ohne Weiteres mit mir in unseren Judenkeller, doch da war kein Mensch wirklich drin sicher. Meinen Vorschlag, dass ich in den Judenkeller ginge und Carola nach nebenan, dann wären wir nur durch eine Brandmauer getrennt, lehnte Carola kategorisch ab.
So paradox es klingen mag, wenn Carola und ich gemeinsam im Keller gehockt hatten, erschien uns auch jeder einzelne Angriff unerträglich - obwohl wir in Dresden beileibe nicht so viel abbekommen haben wie Berlin oder das Ruhrgebiet. Die Angst vor dem Tod lässt sich bei allem Intellekt nicht abschütteln. Und nun künftig getrennt zu sein angesichts des herabfallenden Todes, erschien uns noch viel grausamer. Als ob man gemeinsam leichter sterben würde.
Den Keller in unserem Haus mochte sie nun überhaupt nicht mehr. Carola sprach oft vom Judenkeller in der Zeughausstraße. Selbst der Judenkeller in der Cranachstraße erschien ihr, aus welcher rationalen Überlegung auch immer, recht sicher zu sein und hatte zumindest den Vorteil, dass wir im Falle eines Angriffs nur einen kurzen Weg von zu Hause bis dorthin zurücklegen mussten. Bloß über den Schlageter Platz, zweihundert Meter die Pillnitzer lang und links in die Cranachstraße bis zur Nummer zwölf, ein Katzensprung. Ihren Rucksack hielt Carola bei Tag und Nacht griffbereit. Möbel und derartige Gegenstände zu verlieren, schien ihr völlig gleichgültig zu sein. Und sie hatte bisher recht behalten. Bei jedem Voralarm führten wir nur diesen Rucksack mit uns. Mal trug sie ihn, mal ich. Dresden blieb ja meist verschont. Wenn wir wieder in unsere Wohnung traten, lächelte Carola überlegen. Nichts war geschehen, wir hatten uns gemeinsam gefürchtet und waren gemeinsam zurückgekehrt. Alles war wie vorher.

Und nun schien diese Gemeinsamkeit für uns zu Ende zu sein. Welchen Keller, der uns beiden zugänglich war, sollten wir beim nächsten Angriff aufsuchen? Bei aller Liebe zu dem Haus, in dem wir lebten, einen Angriff in dem Verschlag abzuwarten, mochte ich nicht riskieren. Obwohl mir ja seit meiner Jugend das Haus ausgesprochen gut gefiel. Schon allein der Name ›Triersches Haus‹. In den Erker war ich bereits als Gymnasiast verliebt gewesen. Ultra posse nemo obligatur, proklamierte ich stets, wenn ich das Haus bewunderte. Niemand ist verpflichtet, etwas ihm Unmögliches zu leisten, heißt das, aber da wir Juden von jeher ein wenig besser sein müssen, etwas mehr leisten müssen als die anderen, war ich überzeugt, dass ich es einst schaffen würde, eine Wohnung in diesem wunderschönen Haus zu besitzen, wenn ich mir nur genügend Mühe gäbe. Als Carola eines Tages ganz nebenbei bemerkte, dass im Trierschen Haus eine Wohnung zu vermieten sei, hatten wir keine Minute lang gezögert. Zumal es im Volksmund ›Das Judenhaus‹ genannt wurde - hier wähnte ich mich zumindest als Gleicher unter Gleichen vor Denunzianten sicher.


8.

Mit dem Finger fahre ich die Konturen der Ziffern 1 und 3 auf dem Kalenderblatt nach. Faschingsdienstag. Nur zwei verkleidete Menschen habe ich heute gesehen, zwei kleine Mädchen tanzten oder hüpften am Neumarkt entlang. Eines sollte einen Clown darstellen, das andere wohl eine Prinzessin. Beneidenswert. Die anderen Leute waren gar nicht wirklich verkleidet, die trugen nur die üblichen Uniformen oder Lumpen. Und wie überall auf der Welt tragen auch bei uns nur Lumpen Uniform.
Carola schaut mich strafend an, manchmal bin ich mir sicher, dass sie meine Gedanken errät. Sie ist tausendmal klüger als alle Handlanger des Tausendjährigen Reiches zusammen! In Dresden laufen im Moment zahllose ärmlich gekleidete Flüchtlinge aus dem Osten herum, überwiegend lauter ganz arme Schweine. Dagegen komme ich mir beinahe vor wie ein alberner König. Ich kann mir gut vorstellen, wie diesen Menschen zumute sein muss. Alles aufgegeben, alles verloren. Und alles nur, weil ein paar größenwahnsinnige Militaristen erneut einen Weltkrieg vom Zaun brechen mussten. Und weswegen? Aus Rache für den völlig zu Recht verlorenen Kaiserkrieg? Für Großdeutschland? Na, wenn dieser zweite große Krieg jetzt bald zu Ende sein wird, wird Deutschland ganz schön überschaubar sein. Hoffentlich zieht man dann die Verantwortlichen wenigstens diesmal gehörig zur Rechenschaft, obwohl das unwahrscheinlich ist.

Ich werde das Kriegsende sowieso nicht mehr erleben, denn mit mir wird es am Freitag vermutlich endgültig vorbei sein. Und diese Tatsache traue ich mich gar nicht Carola zu erzählen. Ich schaue durch unser Erkerfenster auf die Schlossstraße. In der trüben Dunkelheit schimmert mein Spiegelbild auf der Glasscheibe. Rechtsanwalt Doktor Jakob Löwenthal. Doktor bin ich zu meinem eigenen Erstaunen tatsächlich noch. Haben die gleichgeschalteten Kammerkollegen glatt vergessen, mir den Titel abzuerkennen.
Vor mir in der Scheibe erscheint Carola und ich höre ihre Stimme hinter mir.
»Schließe die Verdunkelung, Jakob. Es wird höchste Zeit.«
Gehorsam klemme ich die Pappdeckel in den Rahmen des Erkerfensters, dann die anderen vor die übrigen Fenster unserer Wohnung und lasse den Tag Revue passieren.

Der Morgen dieses 13. Februar 1945 blieb ohne die allmorgendlich befürchteten Schläge gegen die Wohnungstür. Tagsüber war ich unterwegs gewesen und hatte nach Essbarem gesucht. Stundenlang war ich erfolglos durch die Stadt gepilgert und hatte beschlossen, mich wenigstens an den Schaufenstern entlang der Pillnitzer Straße sattzusehen. Unser Bäckermeister Ehrhardt, der mich in seinem Laden in der Pillnitzer Straße schon lange nicht mehr bedienen darf, war trotzdem aus seiner Bäckerei geeilt, als er mich erkannte und hatte mir im Vorbeigehen zugeraunt, ich solle in einer Viertelstunde in seinem Hof sein. Er hätte was für uns. Hoffentlich was Essbares, hatte ich mir ausgemalt.
Der Hof war mit Brettern überdacht und somit nicht einsehbar. Er war mir dessen ungeachtet absolut verboten und ich betrat ihn nur sehr zögernd, den Hut wie zum Gruße abgenommen vor meinen Stern haltend.

Meister Ehrhardt hatte wohl auf mich gewartet, denn er trat sofort durch die Hoftür der Bäckerei zu mir. Er drängte mich in den Verschlag, in welchem das Brennholz lagert und man ungesehen war. Meister Ehrhardt blieb bei der Tür stehen und beobachtete unentwegt den Hof, während er zu mir sprach. Komisch, dass sich jeder wie ein gehetztes Tier umschaut, wenn er mit mir spricht. Ich komme mir vor wie ein Aussätziger.
»Herr Doktor Löwenthal, schön, Sie wieder mal zu sehen.« Er drückte mir einen neutralen Stoffbeutel in die Hand. Ich blickte hinein. Ein großes, dunkel gebackenes Graubrot erkannte ich darin und sogar einige Brötchen. Das bedeutete ein paar Tage lang keinen beißenden Hunger.
»Vielen, vielen Dank«, sagte ich.
»Danke für nichts«, wehrte Ehrhardt ab und flüsterte: »Sie sollten sich kräftig satt essen und schleunigst von hier verschwinden, Herr Doktor.«
Ich schaute den Beutel und danach Meister Ehrhardt an. Was sollte denn das? Erst beschenkt er mich und dann jagt er mich davon?
»Wieso...«
»Weil Sie bestenfalls 72 Stunden Zeit haben zu verschwinden, Herr Doktor.« Er trat aus dem Verschlag, schaute sich umsichtig im Hof um und warf einen Blick zur Straße hinaus. Dann trat er zu mir. »Ich habe gehört - von wem, tut nichts zur Sache - dass nun auch die verbliebenen paar Juden aus Dresden ausgesiedelt werden und sich am Freitag, den 16. Februar am Bahnhof einzufinden haben. Es heißt, dass sie von dort in ein ›Schweizer Lager‹ transportiert werden.«
Ausgesiedelt?! Also doch noch, durchfuhr mich der Schreck. So kurz vor dem Ende doch noch. Aber vielleicht werden wir lediglich ausgebürgert, hoffte ich. Möglicherweise nur vor den anrückenden Russen versteckt? Man glaubt ja, was man hofft.
»Diesen Freitag?«
»Ja.«
»Was bedeutet Schweizer Lager?«, wollte ich wissen.
»Was das bedeutet, können Sie in diesem Papier ganz genau nachlesen; ist eigentlich ein Brief, der von Rechts wegen niemals hätte geschrieben werden dürfen.« Er drückte mir ein ganz klein zusammengefaltetes Päckchen Papier in die Hand und schloss meine Finger darum. »Ich habe das von jemand bekommen, der mich für vertrauenswürdig hält. Derjenige hat es ebenso wieder von einem anderen bekommen und ich gebe es Ihnen weiter. Wenn dieser Brief einem Falschen in die Hände fallen sollte, ist das Leben des Briefbesitzers keinen Pfennig mehr wert. Wer immer diese Dinge aufgeschrieben und weitergegeben hat, hat unser aller Leben riskiert, als er den Brief weitergab. Wenn die Gestapo den jeweiligen Besitzer in die Klauen bekommt, werden die Herrschaften im Handumdrehen den Weg der Besitzer zurückverfolgen können. Und die machen kurzen Prozess. Denn die Herren möchten auf keinen Fall, dass bekannt wird, was in diesen Lagern passiert. Ich finde, man muss berichten, was geschieht, sonst wird es womöglich irgendwann heißen, dies sei alles gar nicht wahr; Hirngespinste, Gräuelpropaganda und dergleichen. Lesen Sie und geben Sie den Brief weiter, aber bitte sehr, sehr vorsichtig. Und wenn man Sie verfluchterweise tatsächlich damit erwischen sollte, fressen Sie die Blätter auf. Noch baut die Reichsführung auf absolute Geheimhaltung, was die Judenfrage dezidiert bedeutet. Das Ganze wird allerdings langsam durchlässig wie ein poröser Schwamm. Und deswegen wird jedermann möglichst versuchen, die Wahrheit unter den berühmten Teppich zu kehren, notfalls mit weiterem Mord und Totschlag, nur um hinterher zu behaupten, niemand hätte von nichts etwas gewusst. Kann man nur hoffen, dass diesen Schutzbehauptungen nicht geglaubt wird, wenn der Spuk dann mal vorbei ist.«
Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

»Wird man also uns, die wir mit Ariern verheiratet sind, ebenso abtransportieren?«
Er nickte knapp. »Andere sind ja nicht mehr hier. Lesen Sie und verschwinden Sie!« Dann bat er mich, den Hof durch die Verbindungstür zum Keller des Nebenhauses zu verlassen. Dabei drückte Ehrhardt mich an sich. »Schalom sagt man ja wohl bei Ihnen.« Mit diesem Wort hatte mich schon lange kein Mensch mehr verabschiedet. Er verzog den Mund und stieß Luft hörbar durch die Nase, schüttelte den Kopf und ließ mich stehen.
Ich hatte das kleine Papierpäckchen ins Schweißband meines Hutes gesteckt und war dann so unauffällig wie möglich zurück in Richtung Altmarkt gegangen. Was mochte denn nur so Ungeheuerliches aufgeschrieben sein? Gelesen habe ich den Brief heute Mittag im Verschlag, dem Judenkeller unseres Hauses. Außer bei Vor- und Vollalarm hält sich keine Menschenseele auch nur in seiner Nähe auf. Und niemand hat mich beim Lesen überrascht.
Die Worte standen deutlich lesbar in lateinischen Druckbuchstaben geschrieben.


9.

Birkenau im Winter 1943

Ich kann nicht mehr. Wenn man diese Zeilen liest, werde ich bereits tot sein. Ich, der SS-Mann von der Rampe.
Ich muss dies einfach loswerden, denn trotz allem Schnaps, den man uns zu den Einsätzen an der Rampe spendiert, kann ich mit dem, was wir hier in Birkenau machen, nicht mehr leben.
Für heute waren wieder Ofentransporte angekündigt; wie leichthin kann ich nur diesen Begriff benutzen? Ich hatte gehofft, dass es mit diesen Transporten allmählich vorbei sein würde, dass es endlich nicht mehr genug Leute gäbe. Ich habe mich getäuscht. Und zwar gründlich! Das Grauen geht weiter. Und am widerlichsten empfinde ich, dass manche Kameraden sich geradezu auf diese Transporte freuen, denn jeder mit lebenden Kadavern gefüllte Waggon bringt erhebliche Gewinne mit sich. Die Hiwis, die Hilfswilligen, Häftlinge, die als Hilfskräfte die eigentliche Arbeit an der Rampe machen, johlen vor Begeisterung auf die zu erwartende Habe der Transportierten. Wir SS-Männer sind ja im Grunde nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung da. Nur!
In der Hilfswilligen-Baracke sind diese Hiwis separat untergebracht, damit die anderen Zwangsarbeiter nicht mitbekommen, wie verhältnismäßig gut es denen im Gegensatz zu den normalen Häftlingen geht. Ich bemerke den Melder, der wie üblich vor diesen Transporten in die wiederum separat abgegrenzte Ecke des Barackenältesten eilt. Daraufhin tritt der Kalfaktor hoheitsvoll aus seinem Verschlag.
»Raus, Männer, eine Lieferung kommt!«

Im nächsten Augenblick sind die Hiwis in der frostklirrenden Kälte draußen. Saukalt ist es, verflucht noch mal, und die Helfer warten in der eisigen Kälte nur mit den gestreiften Anzügen bekleidet, man mag es kaum glauben. Ich habe wenigstens den Schnaps. Meine Feldflasche ist schon halb leer und kalt ist mir trotzdem, der Wehrmachtsfusel taugt nichts.
Ein verschlafener SS-Kamerad hält eine große Tafel in der Hand und zählt die Hiwis zu je fünf Mann pro Reihe ab. Zwanzig Reihen marschieren an ihm vorüber und nach ein paar Hundert Metern erreichen sie die Rampe von diesem Viehbahnhof. Früher wurden von diesem Scheißkaff aus wahrscheinlich Rindviecher zum Schlachten abtransportiert - heute werden Menschen hergekarrt, um wie Schlachtvieh ins Gas zu gehen. Zum Kotzen; die Feldflasche kann ich hoch an die Lippen setzen, da kommt nichts mehr heraus. Werde ich mir von der plattbusigen, hässlichen Sturmführerin erneut auffüllen lassen. Das ist das einzig Erfreuliche an unserem Dienst, Schnaps gibt es reichlich auf Staatskosten, wenn es ums nationalsolidarische Morden geht.
Den Hiwis ist saukalt und die Posten verkaufen ihnen heißen Tee mit Fusel, werden bezahlt mit den Wertsachen von Menschen, die noch gar nicht da sind. Spekulationen auf Geld und Waren, welche diejenigen mit sich führen.

Motorräder fahren vor und satte, fettleibige Stabsoffiziere springen ab, Abzeichen glitzern im scharfen Licht der Wintersonne, Weihnachtsmanngesichter strahlen. Einige tragen große Aktentaschen, andere schwingen Haselnussgerten.
Sie begrüßen sich mit der erhobenen Rechten. Schütteln sich dann herzlich die Hände, lächeln sich an, erzählen Neuigkeiten von zu Hause. Reden über ihre Kinder und zeigen sich gegenseitig Fotos.
»Der Transport kommt!«
Hinter den kleinen, vergitterten Fenstern drängen sich Gesichter, blass, ängstlich und übernächtigt. Einige Fäuste trommeln gegen die Waggonwände. Verzweifelte Rufe höre ich. Dann wachsen die Rufe wie jedes Mal zu lautem Geschrei.
Ein Offizier, arisch hochgewachsen und mit mehr Silber behangen als die anderen, winkt angewidert einem Posten. Der feuert eine kurze Salve über die Reihe der Waggons. Die Schüsse hallen nach in der plötzlichen Totenstille.
Der Riese mit der Aktentasche hebt die Hand. »An die Arbeit!« Die Hiwis wissen längst, wer Gold nimmt oder sonst etwas, was nicht essbar ist, wird wegen Diebstahls von Reichseigentum kurzerhand erschossen!
Die Riegel der Waggons knarren, die Türen werden geöffnet. Die ersten Leiber stolpern von hinten gedrückt aus den Waggons. Koffer landen auf ihren Rücken, andere Leiber folgen und schließlich sind die Menschen beinahe erdrückt von der Last der Koffer, Päckchen, Bündel und Taschen jeder Art. Denn die Transportierten bringen so viel Unnützes mit, was in ihrem bisherigen Leben Sicherheit und Wohlstand bedeutete und hier vollkommen bedeutungslos für sie sein wird.

»Was geschieht mit uns?« Wie stets die erste Frage der ängstlichen Menschen.
»Ihr werdet entlaust und dann frisch eingekleidet, deshalb braucht ihr bis dahin euer Zeug ja nicht. Das muss ebenfalls entlaust werden. Seid bitte vernünftig!«
Menschen, die in den Tod gehen, sollen bis zum letzten Augenblick belogen werden, das ist die einzige zulässige Form von Mitleid. Und die meisten werden wirklich ruhiger.
Ehe sie Zeit haben, sich an die frische Luft zu gewöhnen, bevor sie zu sich kommen, zerrt man ihnen alles aus den Händen.
»Ach bitte, lassen Sie mir ...«
»Verboten!«, zischen die Hiwis scharf durch die Zähne.
Äußerlich beherrscht schaue ich zu und rufe den Verängstigten automatisch die Sätze zu, die ich bei jedem Transport rufe, von denen ich träume.
»Meine Herrschaften! Legen Sie Ihr Gepäck bitte selbst ab, damit Sie es später leichter wiederfinden, wir wollen doch nur Ihr Bestes!«
Und das ist nicht mal eine Lüge. Die Kameraden wollen Geld, Gold und dergleichen - die Hiwis wollen Fressen. Meine Stimme klingt sanft, begütigend.
»Jawohl«, antworten manche Menschen gedämpft hoffnungsvoll.
Eine hübsche Frau bückt sich nach ihrer Tasche. Das darf ich nicht durchgehen lassen, denn wir stehen ebenfalls unter Beobachtung. Besonders die plattbusige SS-Frau ist peinlich darauf bedacht, dass kein männlicher Kamerad für eine einzige andere Frau Mitleid oder Ähnliches zeigt. Meine Gerte pfeift durch die Luft, die Frau fällt unter die Füße der Menge. Das Kind hinter ihr wimmert »Mammele ...« Ein kleines, zerzaustes Mädchen. Die Sturmführerin mit dem farblosen Haar lächelt sadistisch.

Ganze Berge abgelegter Koffer und Taschen wachsen neben den Waggons. Aus manchen Hand- und Aktentaschen, die aufgesprungen sind, quellen Banknotenbündel hervor, Gold, Uhren, Schmuck, Brot, Schinken, Würste; Zucker vermischt sich mit Sand, zerrinnt im Schotter.
Diejenigen, die man nach rechts geschickt hat, atmen durch. Sie sind jung und gesund und gehen ins Lager. Sie dürfen eine Zeitlang arbeiten, bevor sie dann ins Gas gehen, das pausenlos in den Rotkreuzwagen hin und her transportiert wird. Denn unter dem Zeichen des Roten Kreuzes fährt man das Gas heran, mit dem die Menschen vergiftet werden. Schließlich wäre es ja auch eine Schande, wenn eine alliierte Granate diese kriegswichtigen Transporte gefährden würde.
Die Helfer schubsen die ersten Menschen auf die Lastwagen, sechzig, siebzig Leute pro Wagen, Kinder zählen gar nicht, ein paar mehr oder ein paar weniger, darauf kommt es nicht so genau an. Daneben steht ein junger Kamerad und macht ins Transportbuch für jeden Lastwagen einen Strich, jeden fünften Strich diametral über die vier vorherigen. Drei solcher Strichpakete zählen für rund Tausend Menschen - vereinfachte Buchführung, Ordnung muss sein!
Die Strichpakete mehren sich und meine Feldflasche ist schon wieder ziemlich leer. Ein Hoch auf unser reinrassiges Großdeutschland: Ein Volk - ein Reich - ein Führer - Krematorien - und kostenloser Schnaps für uns!
Ich stehe mit meiner Gerte dabei, könnte kotzen und traue mich nicht, sondern nuckle lieber gehorsam an meiner Feldflasche! Ach so, leer. Los, du plattbusige Hure - ach was, selbst wenn du die einzige Frau der Welt wärst, würde kein Kerl seinen Pimmel bei dir reinstecken wollen, aber du darfst mir die Flasche füllen. Das Scheusal genießt meinen Ekel und kneift mir ein Auge zu, widerlich!
Die Waggons sind leer geworden. Kamerad Harald, Vater von sechs Kindern schaut ruhig hinein und nickt den Häftlingshelfern zu.
»Rein! Sauber machen!«

Die Hiwis klettern hinein. Zwischen den Pissepfützen und Scheißehäufchen liegen totgetrampelte und erstickte Kinderleichen mit riesengroßen Köpfen und aufgedunsenen Bäuchen. Die Hiwis halten je zwei Leichen in jeder Hand, wie Hühner an einem Bein, zu den Waggontüren hinaus.
»Kann uns mal jemand den Dreck abnehmen?«, schreien die Hiwis die Frauen an, die erschreckt und angewidert zurückweichen. Sie wissen ja noch nicht, dass Frauen sowieso alle auf die Lastwagen müssen, alle Frauen und Kinder ohne Ausnahme. Immer mehr Menschen besteigen die Lastwagen, fahren ab ins Gas.
Ich lehne mich mit dem Rücken gegen den Waggon. Die Rampe geht mir auf die Nerven und ich kriege Wut, und die Wut kann man nun mal am besten mit Schnaps hinunterspülen oder an den Schwächeren auslassen. Es wird sogar verlangt, dass wir unsere Wut ganz besonders an denen auslassen. Das ist die Logik des Herrenmenschen.
Ich trinke in tiefen Zügen den spritigen Schnaps und hoffe, dass ich wegen dem Zeug schnell nichts mehr sehen kann und dann in meine Stube auf die Pritsche darf - ist mir bislang zweimal passiert.
Leichen werden aus den Waggons hinausgetragen und auf einen Haufen neben den Gleisen geschichtet. Auch Ohnmächtige finden sich häufig in den Waggons, die man zu den Toten auf den Haufen neben den Schienen wirft. Wegen angeblicher Seuchengefahr wird man sie nicht mal bis ins Krematorium befördern. Wenn der Zug abgewickelt ist, wird man ein paar Kanister Sprit über den Haufen gießen und ihn anzünden.
Die Bilder in meinem Innern verändern sich zu brennend leuchtenden Farbkaleidoskopen. Ich weiß nichts mehr. Der Schnaps scheint glücklicherweise zu wirken. Gott im Himmel, was tun wir?! Lass mich endlich besoffen umfallen!

»Unterführer, nehmen Sie sich zusammen, oder ich muss Meldung machen!« Eine Frauenstimme staucht mich zusammen. Ich öffne die Augen. Vor mir steht die Plattbusige. Ihr nordisches Gesicht über dem sehnigen Hals. Das Haar ist streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Nordischer kann ein Mensch kaum aussehen. Mit der Gerte in der Hand schlägt sie mir ein paarmal auf die Schulter. Auf den schmalen Lippen steht ein hartes, giftiges Grinsen. In den wasserhellen energischen Augen glüht der Hass. Nicht nur Hass auf mich oder uns Männer überhaupt, sondern besonders der verzweifelte Hass einer hässlichen Frau auf weibliche Anmut. Sie schlägt mich nochmals mit der Gerte, weist auf eine Frau aus dem Transport und schreit mich an: »Bringen Sie diese Frau dort zur Räson, Unterführer!«, befiehlt sie mir und weist eindringlich auf jene Frau hin, welche gierig nach rechts zu den Gesunden fliehen möchte. Hinter ihr stolpert ein Kind, die kurzen Beinchen können nicht Schritt halten. Es fällt auf die ausgestreckten Ärmchen. »Mammele ...«
In meinem Schnapsnebel erreiche ich die Frau, stoße sie ebenfalls zu Boden, zerre sie an den Haaren empor. »Nehmen Sie gefälligst Ihr Kind auf den Arm!«
»Es ist nicht mein Kind!«, schreit sie. Sie ist jung, gesund und wirklich ungewöhnlich schön. Sie will nichts weiter auf dieser Welt als leben. Sie will mit dem Kind nichts zu tun haben wollen.
»Mammele!«, schreit es erneut.
Die Bestie, die mir den Befehl gab, steht neben uns und schlägt die Mutter mit der Gerte quer durchs Gesicht. Blut rinnt vom Auge über die Nase zum Kinn. »Du jüdische Hure! Nicht dein Kind? Ich zeig’s dir, du Hure!« Viel zu oft benutzt die Hässliche in Uniform diesen Begriff. Ich spucke ihr meine Schnapsrotze ins Gesicht und wende mich angeekelt ab. Jetzt ist es genug, ich spiele nicht mehr mit.

»Unterführer!«, kippt die blecherne Frauenstimme mir nach. Ich winke ab und gehe weiter. Ein Schuss knallt, ein weiterer und ein dritter. Mich trifft keine Kugel und darüber bin ich traurig. Der silberbeschlagene Dicke stellt sich mir in den Weg.
»Machen Sie keinen Unsinn! Gehen Sie auf Ihren Posten zurück! Dies ist nun mal unser Beruf.« Er lächelt mich jovial an. Tja, denke ich, das ist unser Beruf und wende mich tatsächlich zu meiner eigenen Verwunderung der Frau, nein, dem weiblichen Biest in Uniform zu. Sie zielt mit der Pistole auf mich, zu ihren Füßen liegt die Schöne neben dem Kind. Ich lächle, denn meine Rotze tropft ihr vom Kinn.
»Für diese Heldentat bekommen Sie garantiert einen Orden, Frau ...«
»Sturmführerin, nicht Frau!«
»Ja, damit haben Sie ganz bestimmt recht. Von Frau kann bei Ihnen wahrhaftig keinerlei Rede sein.«
Lautes Gelächter aus den umstehenden Männerkehlen rettet mir leider das Leben, denn sonst hätte sie mich unweigerlich erschossen. Wirklich schade, das wäre so einfach gewesen. Sie steckt die Waffe ein. »Darüber reden wir später, Unterführer!«
»Herr bitte, so viel Zeit muss sein!« Wieder habe ich die Lacher auf meiner Seite und begebe ich zurück zum Waggon, lehne mich erneut an und hole meine Feldflasche hervor, nehme zwei, drei tiefe Züge; der billige Wehrmachtfusel brennt wie Feuer. Der Anfall ist vorbei. Mich wird nichts mehr erschrecken.
Von überall her schleppt man Leichen herbei. Große, kleine, dicke, dünne, sogar nackte Kadaver. Offenbar haben sogar die ›Reisenden‹ bei den Toten zugelangt. Einfach unglaublich, die menschliche Rasse. Der Berg mit den Leichen wächst bedrohlich. Hoffentlich war dies der letzte Zug, sonst müssen wir mit dem Verbrennen beginnen, bevor die Lebenden abtransportiert sind. Dann wird es erfahrungsgemäß schwierig, sie ruhig zu halten, denn der Berg der Toten bewegt sich bereits, stöhnt und heult. Auch einige Scheintote sind inzwischen zu sich gekommen. Einer hat sich sogar aus dem Totenberg hinausgewühlt und steht fassungslos daneben. Ihn hat offenbar noch niemand bemerkt, denn der Motor des letzten Lastwagens springt stotternd an und ruckt los.
»Halt! Halt!« Von Weitem brüllen zwei Helfer. »So halt doch, zum Teufel!«
Aber der Wagen verschwindet in der Staubwolke. Die beiden tragen ein Mädchen, dem das rechte Bein ganz fehlt. Das linke reicht nur bis zum Knie. Die Männer zerren das Kind an den Händen hinter sich her, der längere Beinstumpf schleift blutig über den Schotter. Tränen haben Rinnen auf das staubige Kindergesicht gezeichnet. »Lieber Gott, hilf mir, das tut so weh! Hilf mir bitte!«
Man wirft sie zuoberst auf den Leichenberg. Ihr Weinen geht im Jammern des Berges unter. Der Mann, der sich aus dem Berg gewühlt hat, trägt einen dunklen Straßenanzug und macht sich an dem Berg zu schaffen, als würde er den ordnungsgemäßen Zustand zu kontrollieren haben. Der Kerl imponiert mir in seiner somnambulen Verzweiflungshaltung, denn wirklich niemand nimmt Notiz von ihm.

Es wird wohl heute kein weiterer Transport mehr erwartet, denn vier Hiwis erklettern den Berg. Sie tragen Benzinkanister und leeren sie über den Menschenleiberberg. Drei Helfer rutschen zurück auf den Schotter, der vierte stolpert oben auf dem Leiberberg, schlägt hart mit dem Kopf auf seinen Kanister und rührt sich nicht mehr.
»Lasst ihn liegen, ist eh wurscht«, sagt der silberbehangene Dicke. »Achtung, zurück!«, ruft er und wirft einen übergroßen Fidibus auf den Berg. Der Mann im Straßenanzug rennt so schnell er kann von dem Leiberberg weg in unsere Richtung. Das ist ein Fehler, mein Junge, denke ich. In die andere Richtung hättest du verschwinden sollen. Der unerhört laute Knall, mit dem das Benzin explodiert, weckt mich aus der Trance auf.
»Wer sind Sie denn?«, fragt der Dicke den Mann im Straßenanzug. »Da kriegst du die Motten.« Ein Kamerad zückt bereits die Waffe, aber der Dicke hält seinen Arm fest. »Nee, lassen Sie mal, uns fehlt doch einer.« Er weist mit der anderen Hand auf den lichterloh brennenden Leichenhaufen und wendet sich an den Kamerad mit der großen Papptafel. »Der hier ist jetzt Nummer hundert, dann müssen wir die Listen nicht ändern. Los, in die Reihe mit dir, du Hundsfott. Heute ist dein Glückstag und dann gleich raus aus dem Anzug und ab in richtige Klamotten.«
Dutzende Männerkehlen lachen.
Es ist vorbei! Mein Herz schlägt wie ein Hammer im Kopf, mein Magen gibt alles her, was in ihm steckt und ich wanke in unsere Baracke, klettere auf meine Pritsche und träume vom Tod.


10.

Ich falte den Brief, stecke ihn zurück ins Schweißband des Hutes und verlasse unbemerkt das Haus. Wo ich langgehe, weiß ich nicht. Ich sehe nicht die Straßen, nehme keinen Menschen wahr, sondern stelle mir nur das Grauen plastisch vor. Irgendwann sitze ich am Elbufer auf einem vermodernden Baumstamm und lese den Brief noch einmal.
Tief in Gedanken versunken wandere ich anschließend das Elbufer entlang. So, wie im Brief geschildert, wird dann ja vermutlich ebenso mein Transport enden. Nehmen wir mal an, am Freitag muss ich mich wirklich melden, somit macht es keinerlei Sinn, irgendetwas mitzunehmen oder gar einen Koffer zu packen - den Koffer eines Juden. Nichts mehr wert. Und mit Carola darüber zu reden macht ja auch keinen Sinn, sie wird schon früh genug merken, wenn ich nicht mehr wiederkomme. Soll ich ihr vielleicht von diesem Brief erzählen? Was würde ihr dieses Wissen nützen? Wem nützt es überhaupt, etwas zu wissen? Gut, in normalen Zeiten hieß es, Wissen sei der einzige Vorrat, der sich bei Gebrauch vermehrt! Aber jetzt und hier? Jetzt und hier ist es besser, wenn niemand etwas wüsste. Jeder, der irgendetwas weiß, läuft unweigerlich Gefahr, selbst dranzukommen, überlege ich und zerreiße den Brief in ganz kleine Schnipsel und werfe sie nach und nach in die Elbe. Was habe ich denn davon, ob später mal Rache geübt wird? Nichts. Kriege ich ohnehin nicht mit. Und was nützt es den anderen, dass ich weiß, wohin am Freitag die Fahrt geht? Mir nützt es insoweit, dass ich gar keine Angst mehr habe; komisch, wo ich doch solch ein Feigling bin, nein, war.

Carola staunt nicht schlecht, als ich ihr das Brot und die Brötchen gebe. Von Ehrhardts Warnung und dem Brief erzähle ich ihr nichts. Ich bin mit mir vollkommen im Reinen, beinahe sogar vergnügt.
Wir essen jeder ein ganzes Brötchen und trinken dazu den dünnen Tee. Ich erzähle Carola von meinem obligatorischen Spaziergang über den Schlossplatz bis zum Elbufer, den ich heute gar nicht unternommen habe. Ich erfinde halt ein paar Dinge, rede vom gesäuberten Weg rechts runter zu der Brühlschen Terrasse, lüge neue Fahrpläne an den Dampferanlegestellen zusammen und beschreibe die knospenden Pflanzen am Terrassenufer, die ich gar nicht gesehen habe, denn die Brühlsche Terrasse dürfen wir Juden seit Langem nicht mehr betreten. Diese Lüge müsste Carola eigentlich auffallen, aber sie hört mir wohl gar nicht zu. Ich erzähle dennoch weiter, dass ich am Sachsenplatz vor der Albertbrücke wie immer eine regelmäßige Pause eingelegt und den Verkehr betrachtet hätte. Weshalb sollte sie meiner Schilderung denn zuhören? Ich rede ja sowieso jeden Tag das Gleiche, fällt mir heute auf. Weiter spaziere ich sonst auch stets das Hindenburgufer unter den wertstrotzenden Villen der Bonzen vorbei bis zum Feldherrnplatz und von dort dann direkt am Wasser entlang bis zum Blauen Wunder und wieder zurück. So finde ich täglich viel Zeit zum Nachdenken.

Nun sitze ich in meinem geliebten Erker und grüble, bis Carola mich zum Abendessen ruft. Es gibt eine dicke Scheibe Brot mit Margarine und Salz. Wo Carola die Margarine organisiert hat, bleibt ihr Geheimnis, denn die Fettmarken für den Februar sind von uns längst verbraucht.
Wir kauen mechanisch und vollkommen schweigend, ohne dass ich einen Grund dafür nennen könnte. Wir sprechen wirklich kein Wort miteinander, was recht ungewöhnlich ist. Ob Carola irgendeine Vorahnung hat, was mit mir am Freitag geschehen wird?
»Möchtest du noch eine Tasse Tee?«
»Gern«, sage ich. »Haben wir denn Tee? Warum setzt du mir diese dünne Brühe vor, wenn wir Tee im Hause haben?«
»Du bist widerlich, Jakob. Ich kann nichts dafür, dass es nichts gibt«, meint sie niedergeschlagen.
Plötzlich heulen die Sirenen nicht Voralarm, sondern direkt Vollalarm.
»Was soll denn das jetzt?«, frage ich. »Ich hatte bisher geglaubt, die Engländer und Amerikaner seien abergläubisch. Die werden nicht ausgerechnet einen Fliegerangriff an einem 13. beginnen. Ojweh, so was geht nicht gut aus.«
»Bleiben wir hier oder möchtest du in den Keller?«, fragt Carola. »Wahrscheinlich trifft es uns gar nicht. Hoffentlich ist Berlin wieder an der Reihe. Wenn sie dort bloß alles zerstören würden und dieser Irrsinn zu Ende wäre!«, fleht Carola erbittert.
»Das ist nicht sehr human, Carola. Die Menschen in Berlin haben nicht mehr Schuld als wir andern Deutschen.«
»Doch, von dort geht der ganze Irrwitz aus. Es ist gerade mal zwei Jahre her, da haben vor allem die Berliner ›Jaaa‹ gebrüllt, dass sie endlich ihren totalen Krieg haben wollten! Nun sollen besonders die Berliner diese Suppe auslöffeln. Jede Bombe, die auf diese Miststadt fällt, spricht mir aus dem Herzen.«
Carolas Augen funkeln wie die eines Racheengels. Sie sieht zum Verlieben furchterregend aus. Aber sie hat unrecht.
»Nein, Carola, das ist so nicht korrekt. Diese Berliner im Sportpalast, waren nur eine Horde Verblendeter. Diese Schreihälse waren sämtlich organisiert. Ich bin mir sicher, dass die meisten Deutschen diesen Krieg auch nicht wollen.«

»Ja, mittlerweile. Das stimmt. Und nachdem Warschau und Paris besetzt waren, haben sie alle gejubelt und sich gegenseitig auf die Schultern geklopft, was sie für tolle Übermenschen sind. Und den österreichischen Gefreiten nannten sie mit einem Mal Gröfaz. Gröpfaz hielte ich für passender. Nicht größter Feldherr, sondern größte Pfeife aller Zeiten, so wär’s richtig. Ja, jetzt haben die Leute die Nase voll vom Krieg; jetzt wo sie merken, dass es nicht klappen wird. Nicht klappen darf! Und du nimmst diese Armleuchter in Schutz. Ausgerechnet du!«
»Ich nehme nicht die Nazis in Schutz. Die dürfen meinetwegen samt und sonders verrecken. Ich empfinde dagegen Mitleid mit den einfachen Leuten in ihren einfachen Kellern oder Splittergräben. Die tun mir leid. Ja.«
»Von denen haben trotzdem sehr viele brav ihr Kreuzchen gemacht. So viele haben Hitler gewählt, als von Gott gesandtem Heilsbringer nahezu herbeigesehnt. Und jeder, der sein Kreuz für ihn gemacht hat, konnte vorher ganz genau wissen, was seitdem exakt so geschehen ist. Wir haben seinen Phrasenkatalog beide gelesen und ich muss sagen, darin steht alles genauso beschrieben, wie es eingetroffen ist. Jeder andere hat ebenso dieses Buch lesen können, aber man wollte ja nicht. Bloß nicht nachdenken, vor allem, da mit einem Mal so viele Arbeitslose von der Straße verschwunden waren. Na wenn schon, wenn die letztendlich nur Waffen, Panzer und Rollbahnen dafür sowie Bomben bauen durften. Hurra doch! Und wer hat diese Bomben dann auf friedliche Zivilisten geworfen? Wer hat mit dem Morden begonnen? Deutsche und niemand sonst! Von Berlin aus wurden die Bomber nach Coventry geschickt, nach Rotterdam, nach Warschau. In den Wochenschauen haben Millionen Deutsche die Bilder vom Untergang dieser Städte beklatscht. Da ist es nur recht und billig, wenn die anderen zurückschlagen. Wir haben es mehr als verdient, dass man uns das Land in Schutt und Asche legt. Wir haben es uns redlich verdient!«
So hatte ich Carola noch nie erlebt. Sie, die möglichst nirgends auffallen wollte, redet plötzlich so energisch.
»Das meinst du sicherlich nicht ernst, Carola.«
»Oh ja, das meine ich ernst, weil ich Angst davor habe. Was werden die anderen mit uns machen? Und wenn es nicht so schnell geht, wie wir hoffen, was werden unsere eigenen Leute mit uns machen? Das stelle ich mir sogar viel schlimmer vor. Manchmal wünschte ich, die Amerikaner hätten Bomben, die auch die sichersten Bunker der Bonzen durchschlagen können. Dann wäre Ruhe.«
Was soll ich darauf entgegnen? Sonderbare Gedanken. Wir schweigen wieder und warten.

Man wartet auf etwas, was man mittlerweile genau kennengelernt hat und hofft dennoch, das dunkle und schnell lauter werdende Brummen vieler Flugzeugmotoren möge abdrehen und einen anderen Ort heimsuchen. Zugegebenermaßen ein zutiefst unsozialer Gedanke, aber in diesem Augenblick wünsche ich mir dies ähnlich wie Carola, denn das Brummen lässt nicht nach. Und dann steigt mir das Entsetzen den Nacken hinauf, denn man hört Einschläge.
Die ersten Einschläge klingen relativ weit weg. Das dumpfe Knallen wechselt rasch zu lautem Krachen. Das metallene Inferno kommt tatsächlich immer näher. Dann beginnt das Licht zu flackern. Und die Angst schnürt mir den Atem ab, weil ich weiß, dass man es ohne Licht schon gar nicht aushalten kann.
»Hast du einen Ton Voralarm gehört?«, frage ich.
»Nein, ich habe auch nicht darauf geachtet.«
Wieso hat man keinen Alarm gegeben? Vielleicht haben wir ihn nur nicht gehört? Carolas langer Monolog brachte meine Gedanken wohl ein wenig durcheinander. Da glaubt man, einen Menschen durch und durch zu kennen, und dann stellt er sich urplötzlich in ein völlig anderes Licht. Irgendwo hat sie ja recht. Na, hoffentlich rächt sich diese Einstellung jetzt nicht.
In der Küche platzt die Fensterscheibe und reißt die Verdunkelung mit sich zu Boden. In der gleichen Sekunde erreichen uns die üblichen ›Licht aus!‹-Schreie. Irgendwer scheint immer draußen herumzustehen, in der Hoffnung sich auf diese Weise ein wenig wichtig tun zu können. Sonderbare Kreaturen. Geschwind stehe ich auf und laufe zum Fenster. Ich sehe vereinzelte Lichtfinger der Flak leuchtend den Himmel absuchen. Ich kann Flugzeuge erkennen. Die Hundesöhne da oben in ihren Blechzylindern haben jetzt hoffentlich auch die Hosen gestrichen voll. Komisch, wenn man sich in diesem Moment gegenübertreten könnte und einander in die Augen blicken, was würde wohl geschehen? Na klar haben manche sicherlich Spaß daran, zu zerstören. Aber die meisten wollen wahrscheinlich bloß die Bomben abladen und dann weg!

Müßige Gedanken, Jakob Löwenthal, denke ich und drücke die Verdunkelung wieder vor den Fensterrahmen. Dabei lausche ich dem Herannahen weiterer Fliegergruppen. Und was mich total verunsichert, ich vernehme Glockengeläut. Ich schaue Carola an. »Hörst du das?«
»Die Explosionen sind ja nur schlecht zu überhören.« Sie schüttelt den Kopf und stutzt. »Wieso läuten Glocken? Das kann nur ein Fanal des Himmels sein!«
Das Licht zuckt ein paarmal und verlischt dann endgültig. Eine Explosion in unmittelbarer Nähe zerreißt unser Schweigen. Und dann nehme ich immer mehr die unmenschlichen Geräusche in der Nähe wahr. Selbst das sonore Brummen der vielen Motoren klingt bedrohlich.
Man wagt gar nicht zu atmen. Jeder Atemzug kann die Sekunde des Todes einleiten. Nur nicht bewegen, nicht atmen, nicht husten. Als ob die Männer in ihren fliegenden Mordmaschinen uns hören könnten und nicht nur wahl- und ziellos den Tod verteilen.
Carola greift nach dem Rucksack. Diesmal gilt es eindeutig uns in Dresden. In vielen Städten hatte man sich ja schon beinahe an die Nächte im Keller gewöhnt. Ich weiß, dass ich mich nie daran gewöhnen werde. Und bisher war es meist schnuppe, weil es uns nur selten galt und stets harmlos endete. Aber nun bin ich konsterniert. Erst der Brief und die Gewissheit und jetzt das. Na, für mich war es ja gleichgültig, nur um Carola tut es mir leid.
Wir verlassen die Wohnung und versperren die Tür. Im Treppenhaus höre ich die kleine Sarah Abend weinen. »Kann mir denn keiner helfen?«, fleht sie. Offenbar hat sie uns gehört.
Ich steige die Treppe hinauf. Sarah hockt vor der Wohnungstür und schaut mich mit verweinten Augen an. Sie ist zwölf Jahre alt, hat Kinderlähmung und kann nicht laufen.
»Wo sind deine Eltern?«
»Ich weiß es nicht.«
»Na, dann werde ich dich mal hinuntertragen. Komm, halte dich an meinem Hals fest.«
Das Mädchen wiegt mehr, als ich gedacht hätte. Carola streichelt Sarahs Hand. Sie ahnt, dass ich das Kind nicht quer durch Dresden in einen sicheren Keller tragen kann. Ich nicke Carola zu, das soll heute allem Anschein nach so sein.

»Wir bleiben besser hier im Keller. Ich muss Sarah ja nachher wieder hochtragen. Einverstanden, ihr beiden?«
Carola lächelt gequält und Sarah drückt ihr tränenfeuchtes Gesicht an meine Wange. Ein sonderbares Gefühl. Im Keller angekommen, setze ich Sarah auf einen Stuhl. »Weiß jemand, wie spät es ist?«, frage ich in den matt erleuchteten Keller hinein.
»Gegen 21 Uhr 30 haben wir Sirenen gehört«, antwortet eine Frauenstimme.
Dann höre ich nur noch verhaltenes Atmen. Wie lange wird es wohl diesmal dauern? Jede Sekunde kann es einschlagen und den Tod bedeuten, da werden Minuten zu endloser Zeit. Wir warten darauf, dass die Welle über uns endlich abgeladen hat. Jede Sekunde dauert Stunden. Schließlich hören wir, dass die Flugzeuge über unseren Köpfen hinweggezogen sind. Das Brummen der Motoren entfernt sich. Mit zwei anderen Männern steige ich die Treppe hinauf, wage zunächst nur einen Blick aus dem Keller und trete dann doch ins Freie.
Einige Menschen hasten die Schlossstraße entlang. Ich schaue mich um. Saurer beißender Qualm liegt schwer in der Luft. Unser Haus ist überwiegend heil geblieben, aber auf der anderen Seite das Cäsarsche Haus hat ordentlich was abbekommen. Dieser Angriff an einem 13. hat uns nichts anhaben können, das muss etwas bedeuten. Hoffe ich zumindest.
Jemand umfasst meinen Arm. Es ist Carola, sie blickt mich an und weint.
»Kein Grund zu weinen«, beruhige ich sie. »Ist alles gut gegangen, Carola.« Was Besseres fällt mir nicht ein.
Ein recht wohlgenährter Herr hat meine Worte gehört. Er tritt zu uns, blickt auf meinen Stern an der Brust und sieht mich erbost an. Dann spuckt er voller Verachtung vor mir aus. Was hat das nun zu bedeuten? Und dann begreife ich, weswegen Carola weint. Alle vorbeihastenden Leute scheinen meinen Stern und mich zu verfluchen. Man schaut uns böse an. Klar, ich bin schließlich schuld an all dem Übel. Verdammter Jude, bist an diesem ganzen Krieg schuld!, kann ich in den Gesichtern lesen. Nicht in allen, aber in einigen. Und Carola ist auch schuld, weil sie sich nicht von mir scheiden lässt, weiß ich, obwohl ich dies nicht in den Gesichtern lesen kann.
»Warum gibt es keine Entwarnung?«, fragt Carola leise.
Statt einer Antwort hören wir erneut leises, fernes Brummen von Motoren, das langsam anschwillt. Die Menschen beginnen zu schreien und rennen nun wahllos umher.
Unvermittelt stehen Sarahs Eltern neben uns. Sie schnaufen, Atemwölkchen verbreitend. Sie sind anscheinend im Galopp hierher gelaufen.
»Wo ist Sarah?«, fragt Frau Abend mit ängstlicher Stimme. »Ist sie oben?«
»Nein«, beruhige ich sie. »Ich habe sie in den Keller getragen. Sie hat ein bisschen geweint, weil sie sich etwas allein fühlte. Wo waren Sie denn nur?«
»Wir waren nahe dem Platz der SA und konnten dann nur noch die Laurinstraße bis zum Wettiner Bahnhof, als es losging«, schnauft Herr Abend. »Da ist zum Glück nur ganz wenig runtergekommen. Der Alarm kam viel zu spät. Wir haben Sarah zum ersten Mal alleine gelassen. Dann der Krawall. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Gott sei Dank! Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Doktor Löwenthal.«
Es kracht ganz in der Nähe. Meine Zeit, denke ich, können die denn immer nur die Innenstädte angreifen? Die Industriegebiete liegen doch nicht gerade auf dem Altmarkt oder aufm Schlossplatz. Wenn sie wenigstens den Adolf-Hitler-Platz abknallen würden - zumindest dem Namen nach wäre das wenigstens vortrefflich!

Carola und ich laufen die Kellertreppe so flink hinab, dass wir im freien Fall nicht schneller unten gewesen wären. Ich schiebe Carola in den Keller, bleibe selbst an der Tür stehen und halte sie geschlossen, weil das Schloss fehlt. Judenkeller dürfen nicht verschlossen sein! Das Verbot ist unumstößlich. Ich knie mich geduckt unter die Treppe, die das ganze Haus trägt. Scheint stabil zu sein, bilde ich mir ein und schaue durch die einen Spalt geöffnete Kellertür. Viele hocken geduckt zwischen Stühlen, manche sind sogar unter die wenigen Tische gekrochen. Als wäre dies sicherer als auf den Stühlen zu sitzen. Ich höre leises Wimmern und Weinen. Eine kleine Weile bleibe ich unter der Treppe hocken. Bald wird der beißende Rauch unerträglich. Ich begebe mich in den Verschlag, setze mich zu Carola auf den Lehmboden. Sie ergreift meine Hand. Der Druck ihrer kleinen Hand schmerzt richtig.
Neues Herannahen der Flieger. Wieder Einschläge. Das Knallen und Erzittern des Bodens fühlt sich an, als läge es sehr in der Nähe. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholt, denn ich zähle die Einschläge schon nicht mehr. Sonst zähle ich immer. Wenn es zehn Mal in der Nähe gekracht hat, ohne direkt bei uns einzuschlagen, hat uns das Schicksal verschont, bilde ich mir ein. Auch sonst zähle ich alles, sogar die Schritte während meiner Spaziergänge. Dabei schließe ich mit dem Schicksal jedes Mal eine Wette ab: Wenn die Schrittsumme bis zu dem und dem Punkt eine gerade Zahl ergibt, rede ich mir ein, geht alles gut aus. Allerdings mogle ich dabei manchmal ein wenig. Sobald ich abschätzen kann, ob ich noch einen oder zwei Schritte bis zum Zielpunkt gehen muss, mache ich entweder zwei kleinere oder einen größeren Schritt. Je nachdem. So geht die Wette stets gut für mich aus. Das beruhigt.
Die Angriffswellen zähle ich heute nicht. An einem 13. zu mogeln ist mir einfach zu gefährlich!

Es knallt spürbar in der Nähe. Der Keller scheint sich zu heben und ins Fundamentbett zurückzuplumpsen. Natürlich eine irrationale Vorstellung. Plötzlich springt die Tür zum Schutzraum auf und durch das Kellerfenster auf der Straßenseite des Hauses fällt taghelles Licht in den Kellerraum. Gespenstische Gesichter zu Tode erschrockener Menschen. Ich sehe schwitzende und nach altem Schweiß stinkende Männer, Frauen mit verschwitzten wirren Haaren. Sarahs Gesicht scheint ausschließlich aus angsterfüllt aufgerissenen Augen zu bestehen, und zugleich betrachtet ein vielleicht sechsjähriges Mädchen das Schauspiel der Helligkeit. Ihr leicht geneigtes Gesicht scheint äußerst interessiert.
Eine gutturale Männerstimme lenkt mich von meinen Gedanken ab.
»Los, Kameraden, das war eine Brandbombe! Lasst uns den Kram löschen, oder wir haben hier gleich einen Backofen!«
Im Vorkeller liegt seit 1939 ein kleiner Sandhaufen. Unser Pflichthaufen. Als der in den Keller geschaufelt worden war, hatte kein Aas die Notwendigkeit desselben auch nur in Erwägung gezogen.
Koslowski aus dem Erdgeschoss schaufelt nun den Sand in Eimer, zwei andere Männer aus dem Haus schaffen die Eimer zum Brandherd und versuchen zu löschen. Es geht sogar besser als erwartet. Und das finde ich recht sonderbar. Man hört ständig, dass Brandbomben aus Phosphor bestünden. Aber Phosphor soll man mit ein paar Eimern Sand löschen können? Wer das glaubt, der glaubt ebenso an Gerechtigkeit vor einem deutschen Gericht. Lachhaft, kann ich da nur sagen und ich weiß, wovon ich rede, schließlich bin ich Jurist. Da glaube ich eher an die Jungfräulichkeit einer Hure. Sonderbar, seit ich weiß, was mit mir geschehen wird, verirren sich meine Gedanken immer häufiger ins Burleske, und weshalb ich so vergnüglich denke, weiß ich selbst nicht. Ich habe doch gar keinen Grund dazu, sondern eher im Gegenteil. Heulen sollte ich über mein Schicksal, verzweifeln. Stattdessen ist mir beinahe zum Lachen zumute, das muss mit meinem Charakter zu tun haben. Ich befürchte, die Clownerie steckt mir im Blut, das war nämlich schon früher so, trotz meines Juristenberufes, der ja eigentlich eher Zurückhaltung und Sachlichkeit verlangt. Früher bin ich mutig drauflosgegangen und habe mit meinen Sprüchen im Verlauf so mancher Verhandlung die Richter zum Schmunzeln gebracht und das ein oder andere Urteil schien milder auszufallen, als vorher befürchtet. Irgendwie scheint meine Hallodrimentalität von früher wiederzukehren, obwohl ich bis gestern ein Hasenfuß war. Ich bin mir selbst ein Rätsel.

Der Brand ist gelöscht und wir begeben uns zurück in den Schutzraum. Das Fenster zur Straße ist mit feuchten Tüchern verhängt. Koslowski verzieht die Lippen und zuckt leicht mit den Schultern, während er die Tür schließt. Ich nicke ihm aufmunternd zu. Er kann ja schließlich nichts für unsere Lage.
Die Einschläge wandern endlich weiter und wir atmen hörbar aus. Langsam werden die verängstigten Menschen ruhiger.
»Sollen wir nach draußen? Vielleicht ist es vorbei. Die können ja nicht ewig über uns hin und her fliegen«, lässt jemand verlauten. Die Ersten verlassen den Keller. Mein Zeitgefühl hat sich immer noch nicht wieder eingestellt. Carola nimmt meine Hand und ich folge ihr die Kellertreppe hinauf. Durch die Fenster der Haustür dringt Licht, so hell, als würde die Sonne strahlend vom wolkenlosen Himmel scheinen. Sonderbar, denke ich, als jemand die Tür öffnet. Gleißende Helligkeit schlägt uns entgegen. Wir treten dessen ungeachtet auf die Schlossstraße hinaus und schauen auf unser Haus, ob es auch brennt. Aber offensichtlich sind nur ein paar Fensterscheiben eingedrückt.

»Wir haben anscheinend Glück, scheint kaum was abgekriegt zu haben«, sagt Carola. Ich sehe sie an und nicke. Als mein Blick über ihre Schulter hinweg die Schlossstraße am Altmarkt vorbeiwandert, bemerke ich, dass hinter dem Altmarkt die Prager Straße zu beiden Seiten wie ein Glutofen brennt. Der Himmel ist von dichten Brandschwaden verhangen, die Helligkeit kommt von der brennenden Stadt. Es stinkt penetrant nach Säure und Feuer.
Wie durch einen Schleier höre ich von weither ein paar Sirenen Entwarnung melden. In unserer direkten Umgebung schweigen die Sirenen. Viele sind wohl nicht mehr in Betrieb.
»Vielleicht funktionieren nur die Handsirenen«, vermutet ein vorbeihastendes Pärchen.
Wir laufen am Schloss vorbei, das ebenfalls unversehrt wirkt und ich schaue zur Elbe. Dort brennt es lichterloh. Es sind nicht etwa einzelne Feuer auszumachen, sondern es brennt anscheinend überall. Wie in einem überdimensionalen Lagerfeuer. Und ein sonderbarer Sturm tost durch die Straßen. Dieses Geräusch bemerke ich erst jetzt, obwohl es ungeheuerlich laut ist.

Wir wenden uns wieder der Schlossstraße zu. Auch aus diesem Blickwinkel und dieser Entfernung scheint unser Haus unbeschädigt. Wir entdecken keine Flammen aus dem Dachstuhl, aber betreten wollen wir es lieber noch nicht. Man hat schon einiges über Bomben mit Zeitzündern gehört. Erst mal zum Altmarkt gehen und schauen, was dort übrig geblieben ist, erscheint uns sicherer. Wir passieren das Haus Nummer 26, ein mehrstöckiges schmales Wohnhaus. Es gleicht einem Hochofen, in den man kräftig Sauerstoff bläst, um die Hitze zu erhöhen. Wie in einer Stahlhütte, um Stahl zu produzieren. Nur hier wird nichts produziert, sondern vernichtet. Aus dem Keller unter dem Ofen wird niemand mehr herauskommen. An Löschen ist nicht zu denken, zumal weit und breit nicht die geringste Spur etwaiger Löschtätigkeiten zu bemerken ist. Somit ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Nachbarhäuser ebenfalls Feuer fangen werden.
Wir laufen staunend in Richtung Altmarkt. Niemals zuvor hatte ich bemerkt, dass Feuer so laut brennt. Es tost und braust durch die Häuser und Straßen. Manche brennende Ruine wirkt wie ein Schornstein, der die Luft vom Boden saugt und durch die brennenden Häusergerippe prasselnd in den Himmel herausschießt. Auf den Straßen liegen Scherben, Mauerstücke, Steine und jede Menge Holzbalken und Bretter. Leichen kann ich bis jetzt keine entdecken, die liegen sicherlich in den brennenden Trümmern. Wir passieren den Altmarkt und machen ein paar Schritte in die Seestraße hinein. Wegen der Hitze ist an ein Weitergehen nicht mehr zu denken. Die Prager Straße, unsere prächtige Einkaufsstraße mit den vielen Geschäften, wirkt wie ein Höllenschlund. Hitze und Brandgeruch wiegen zentnerschwer und drücken so unerträglich, dass wir lieber nach Hause umkehren.
Die Gesichter der Menschen, denen wir begegnen, offenbaren maßloses Entsetzen. Wieso jetzt noch ein Angriff auf Dresden? Seit Ende Januar hatte sich gerüchteweise herumgesprochen, dass die Rote Armee nicht mehr weit vor Berlin stand und dass die Russen auch unserer Stadt unaufhaltsam näher kamen. Die Hoffnung hatte sich durchgesetzt, dass Angriffe auf Dresden wohl kaum zu erwarten waren. Hier war doch zu unserem Glück nichts Kriegswichtiges zu holen, hatten wir gemeint.


11.

Im Treppenhaus zu unserer Wohnung sind die Fenster eingedrückt. Putz, Wandkacheln und zerbrochene Glasscheiben liegen auf der Treppe. Von jeder einzelnen Stufe, die wir hinaufsteigen, schiebe ich die Scherben mit dem Schuh beiseite, um weiter hinaufzugelangen.
Unsere Wohnungstür ist aus der oberen Türangel gesprungen und hängt nun schief im Rahmen. Lediglich im Schlafzimmer ist eines der beiden Fenster absolut unbeschädigt geblieben. Vom Küchenfenster hängt nur der Rahmen im Mauerwerk, das Fenster ist vom Luftdruck eingedrückt. Die Stühle liegen umgeworfen am Boden. Die Regale sind von der Wand gerissen. Die wenigen Vorräte liegen verstreut am Boden. Das gute Graubrot von Bäckermeister Ehrhardt hat sich auf eine große Scherbe der zerbrochenen Steingutschüssel gespießt. Die Verdunkelungen hängen zerfetzt am Rahmen. Im Wohnzimmer sind sogar die Möbel vom Luftdruck verrutscht, was ein wenig komisch wirkt. Das Sofa steht quer mitten im Raum und der Tisch liegt auf der Platte. Ich drehe die Lichtschalter. Fehlanzeige. Selbst unser sonst stetig tropfender Wasserhahn über der Spüle in der Küche hängt trocken aus der Wand. Die Wohnungstür hängen wir wieder in die Angeln zurück. Sie lässt sich noch schließen. Na also.
Ich steige die Treppe zum Speicher unter dem Dachstuhl hinauf, um mich zu vergewissern, dass dort auch wirklich kein Feuer oder vielleicht sogar ein Blindgänger zu entdecken ist.
Der Speicher dient als Trockenraum, und ziemlich hoch unter dem Giebel sind auf jeder Seite kleine Fenster eingebaut, welche man kippen kann, um zu lüften. Mit einer Holzleiter kann man zu den Fenstern gelangen. Ich stelle die Leiter an ein Fenster zur Seite der Schlossstraße, steige hinauf, entriegele das Fensterchen und klappe es auf. Man hat dort einen recht großzügigen Blick über Dresden, der nun eher gespenstisch wirkt. Von hier oben scheint es, als brenne die ganze Stadt, nicht nur einzelne Häuser. Am Altmarkt wird tatsächlich gelöscht. Lächerliche Sisyphusarbeit. Denn kaum wandert der Wasserstrahl ein paar Meter weiter, brennt die soeben gelöschte Partie sofort lodernd hoch. Die Löscharbeiten können aber sicherlich insoweit nützen, damit das Feuer nicht auf die unversehrten Nachbarhäuser übergreifen kann, nehme ich an.
Ich muss aus einem inneren Zwang heraus unbedingt auf der Seite Sporergasse hinausschauen. Ebenfalls ein Abbild der Hölle. Otto Dix gilt als entartet, weil er den militärischen Irrsinn so grausig gemalt hatte. Das, was um mich herum wahrhaftig geschieht, wirkt noch viel entarteter. Wie mag wohl das Inferno für die Besatzungen der Bomberflugzeuge anmuten? Wozu Menschen kaltschnäuzig in der Lage sind! Das ist doch entartet! Entartete Verbrecher sind sie samt und sonders, diese Militärs und Politiker, egal, welcher Nation sie angehören. Hier geht eine ganze Stadt voller Kultur sinnlos zugrunde, denke ich. Und Carola hat recht, wir sind es selbst schuld!
In der direkten Umgebung entdecke ich keine Feuer. Demnach scheint mir ein Übergriff der Flammen auf unser Haus wenig wahrscheinlich. Unser Judenhaus hat wohl unglaublich viel Glück gehabt. Wenn das nichts bedeutet? Ich steige hinab in unsere Wohnung. Carola hat zwischenzeitlich begonnen, in der Küche aufzuräumen.
Wir stellen die Stühle wieder auf die Beine. Carola zündet eine Kerze an und stellt sie auf den Tisch. Im Badezimmer halten wir stets zwei Eimer Wasser bereit. Nun trinken wir dieses kalte Wasser, das nach Staub schmeckt und essen das trockene Brot, das ich so gut wie möglich von Steingutsplittern befreit habe.
Dann räumen wir gemeinsam in den Zimmern auf. Den Schutt kehren wir zusammen und leeren das Kehrblech in die Waschschüssel. Insgesamt neunmal trage ich die Schüssel hinunter und leere sie auf dem Schutthaufen neben der Eingangstür. Die Beine werden mit jeder Stufe schwerer. Und jedes Mal, wenn ich vor die Haustür trete, schüttle ich den Kopf - die Nacht wird einfach nicht dunkel.
Endlich haben wir den gröbsten Dreck aus der Wohnung geschafft. Erschöpft legen wir uns angezogen zu Bett. Ich möchte nur noch schlafen, möglichst ohne zu träumen. Morgen werden wir ohnehin die Zerstörungen genau erkennen und die Situation früh genug begreifen. Unser Leben ist zunächst gerettet und wir haben sogar ein Dach über dem Kopf. Wie mag einem zumute sein, wenn er nicht mal das mehr hat? Trotz der bleiernen Müdigkeit geben die Nerven keine Ruhe. Ich liege mit geschlossenen Augen und bin hellwach.
»Da ist tatsächlich immer noch Dreck in meinem Bett«, beschwert sich Carola unvermittelt. Ich linse durch beinahe geschlossene Lider, nur damit sie ja nicht merkt, dass ich wach bin. Ich mag nicht mehr aufstehen und ihr helfen. Sie zerrt die vier Enden ihres Bettlakens zusammen und trägt dieses in die Diele. Dann spannt Carola ein neues Betttuch auf und legt sich wieder hin. Endlich gibt sie Ruhe, ich kann nämlich nicht einschlafen.


12.

Anscheinend bin ich doch eingeschlafen und werde nun vorsätzlich geweckt. Unerhört! Irgendjemand klopft an unsere Wohnungstür. Carola hat sich neben mir aufgerichtet und schaut mich an. Das Klopfen klingt zunehmend energischer. Hoffentlich ist das nicht schon die Gestapo, um mich zum Vergasen abzuholen, fantasiere ich.
»Herr Doktor!«, höre ich eine Stimme rufen. Das beruhigt mich, denn Polizisten würden einen Delinquenten wohl kaum mit seinem Titel anreden, nehme ich an und verlasse das Bett, angezogen bin ich ja sowieso.
Ich frage durch die geschlossene Tür: »Wer ist da? Was gibt es?«
»Abend ist hier, Herr Doktor. Das müssen Sie sich unbedingt anschauen.«
Ich öffne die Tür. Herr Abend steht davor und wirkt recht aufgelöst.
»Es ist zwar gleich ein Uhr, aber ich konnte nicht schlafen, Herr Doktor, und habe aus dem Fenster geschaut. Die Verdunkelung ist ohnehin im Dutt. Kommen Sie, Herr Doktor, das muss man einfach gesehen haben, die spielen draußen Feuerwerk! Nun sind sie vollkommen übergeschnappt. Die halbe Stadt brennt und die Bonzen zünden vor ihren Villen ein riesiges Feuerwerk an. Das müssen Sie sich ansehen, Herr Doktor, sonst glauben Sie, ich spinne!«
Tatsächlich neige ich zu dieser Einschätzung, obwohl ich Herrn Abend bisher stets für einen besonnenen Mann gehalten hatte. »Soll ich jetzt mitten in der Nacht zu Ihnen rüberkommen, um aus dem Fenster zu sehen?«
»Ja klar. Nein, Sie haben recht. Vielleicht sieht man aus dem Speicherfenster wesentlich besser. Kommen Sie mit?«
»Ja, meinetwegen komme ich mit.«
Die Klappleiter steht noch unter dem Fensterchen, wir klettern jeder auf einer Seite hinauf und drücken die Köpfe gegen den Fensterrahmen. Mir bleibt glatt die Spucke weg und der Atem stockt. Der Himmel über der Stadt leuchtet feuerrot und an manchen Stellen sogar gleißend hell. Viel entsetzlicher hingegen verläuft ein imposanteres Schauspiel am Himmel über Dresden.
Es handelt sich hierbei nicht etwa um ein Feuerwerk der Bonzen, wie Herr Abend angenommen hat, sondern der Himmel über ganz Dresden glänzt erleuchtet von sogenannten Christbäumen. Brennende funkensprühende Magnesiumfackeln, die tausendfach an Fallschirmen oder Ballons ganz langsam zu Boden sinken. Die sollen den anfliegenden Bombern als Zielmarkierungen dienen. Gehört habe ich davon, vorstellen konnte ich es mir bisher nicht. Die Luft riecht, als würden Berge von Wunderkerzen abgebrannt. In meiner Aufregung rutsche ich von einer Leitersprosse ab und lande mit dem Hosenboden auf dem Holzboden des Speichers.
»Mann Gottes«, rufe ich Abend zu, »was Sie für Feuerwerk halten, kündigt erst das richtige Feuerwerk an! Wir stehen unmittelbar vor einem neuen Angriff! Machen wir, dass wir in den Keller kommen!«
Abend schaut mich entgeistert an. »Wieso denn ein weiterer Angriff? Es ist doch gerade erst vorbei.« Er blickt aus dem Fenster und schüttelt den Kopf.
Ein dünner Sirenenton meldet von weit weg tatsächlich Fliegeralarm. Die Behörden scheinen keinerlei Kontrolle mehr über die Lage zu haben. Ich steige die Treppe hinab und finde Carola im Türrahmen stehen.
»Jakob, ich glaube, ich höre wieder Alarm.«
»Ja, die Christbäume stehen schon am Himmel. Ich habe es selbst gesehen. Dies ist kein normaler Nachtangriff mehr, ich glaube, dass es jetzt ans Eingemachte geht!«
Carola ergreift schweigend den Rucksack. »Warum wird denn nicht früh genug Alarm gegeben?«
»Geht wohl nicht. Vielleicht fahren sie mit Handsirenen herum. Kann ja sein, dass überall der Strom fehlt.«
Wir klopfen laut an die Wohnungstür von Frau Steinmetz und rufen: »Alarm! Wachen Sie auf! Es ist Alarm!«
Sie öffnet die Tür und ist wie wir ebenfalls vollständig angezogen. Offenbar hat niemand Schlaf gefunden. Die Haare fallen ihr ins Gesicht und sie spricht mehr zu sich selbst: »Was machen wir bloß, wo doch unser Keller vorhin beschädigt worden ist?«
Stimmt, habe ich gar nicht mehr dran gedacht. Ich schaue Carola an, denn sie zieht meine Hand zu sich.
»Ich bleibe nicht hier, Jakob. Ein zweites Mal geht das nicht gut, das fühle ich. Lass uns in den Judenkeller in der Zeughausstraße oder in der Güntzstraße gehen. Da gibt es sogar zwei. Es liegt ganz in der Nähe.«
»Möchtest du nicht lieber ins Albertinum?«, frage ich Carola. »Meine Haut ist eh keinen Pfifferling mehr wert, du solltest besser an dich denken und im Albertinum ist es bestimmt sicherer.«
Carola betrachtet mich wie man einen blödsinnigen Kretin betrachtet. Klar, sie weiß ja nichts von dem Brief und dem kommenden Freitag. Was bedeuten mir denn die paar Stunden Aufschub?
»Also hör mal, Jakob. Nein, wenn, dann soll es uns zusammen erwischen«, antwortet sie und klopft, bevor wir hinuntereilen, bei Frau Bleibtreu und ruft die Warnung durch die geschlossene Wohnungstür. Wir erhalten keine Reaktion aus der Wohnung und ich muss mich beeilen, Carola zu folgen, denn ich trage heute den Rucksack. Und Carola braucht ihn doch noch.
Die Straße zeigt sich durch Brände und die Magnesiumfackeln taghell erleuchtet. Das milchige Licht erinnert an Friedenszeiten, als nachts die Gaslaternen brannten. In dem bewölkten Himmel spiegelt sich das Licht der Brände vom anderen Elbufer wider. Der Sturm hat hier unten auf der Straße nicht nachgelassen. Es tost und braust wie ein Orkan, der im Winter über die Nordsee fegt. Dass Wind an allem Möglichen mit einer solchen Lautstärke zerrt, hätte ich mir nie vorstellen können. Oben haben wir davon nichts bemerkt.
Wir überqueren den Neumarkt, biegen in die Rampische Straße, ziehen am Polizeipräsidium vorbei und dann links zum Zeughausplatz. Dort steht selbst während der Nachtangriffe eine Wache. Auch eine Aufgabe im Bombenhagel. Ob solch ein blinder militärischer Gehorsam anderswo auf der Welt ähnliche idiotische Blüten treibt?
Wir erreichen die rechte Haustür des vorderen Hauses der Zeughausstraße, in dem der Arierkeller liegt. Durch einen Durchgang gelangt man in den Hofbereich, wo sich der Judenkeller befindet. Carola möchte unbedingt mit mir zusammenbleiben. Sie als Arierin darf den Judenkeller benutzen. Würde man mich hingegen im Arierkeller aufgreifen, wäre es ein todsicheres Verbrechen. Ich schiebe gerade die Haustür auf, um Carola den Vortritt zu lassen, als mich eine unsichtbare Faust besinnungslos schlägt.


13.

Ich erwache auf dem Rücken liegend und bemühe mich, von dem Sog der Luft nicht einfach über den Straßenbelag weggezogen zu werden. Ich mache mich ganz steif und kralle die Finger in den Boden. Was war nur geschehen? Irgendetwas hat mich umgehauen. Wenn ich richtig kombiniere, hat mich der Sog infolge eines sehr nahen Einschlags zurück auf die Straße gezerrt. Ich habe zwar keine detaillierte Erinnerung, aber ich muss ganz offensichtlich gestolpert und auf den rauen Straßenbelag gefallen sein. Der Rucksack hat wohl die Heftigkeit des Sturzes gemildert, nur meine Schulter schmerzt und die Hände sind aufgeschürft. Mein Hut liegt einige Meter neben mir unter einer steinernen Platte. Ich krieche an den Boden gedrückt hin und als ich ihn aufhebe, fällt mein Blick auf den Zeughausplatz und die lange Mauer zwischen den Häusern, die jetzt an einigen Stellen durchbrochen ist. Aber weder von dem Posten, noch von der schweren Eisentür, die er bewacht hatte, ist eine Spur zu erkennen. Na ja, der Held hat seine Pflicht erfüllt. Schön für sein Ehrgefühl, zerfetzt im Traum von heldisch herrlichen Zeiten, wie sie den Jungs versprochen werden. Sonderbar, denke ich, während ich unter dem Sturm zurück zum Zeughaus zu kriechen versuche, mein Mitleid bewegt sich in ziemlich engen Grenzen. Ein Pferdegespann rast vom Sturm geschoben an mir vorbei, obwohl die zwei Tiere sich krampfhaft zu wehren versuchen und verschwindet dann in einer der weißglühend brennenden Ruinen.
Die ruhig über mich hinwegschwebenden Flugzeuge wirken kein bisschen furchterregend, sondern geradezu majestätisch. Wer weiß, vielleicht bin ich ja überhaupt nicht mehr bei Sinnen, sondern mein Gehirn spinnt im Verlauf der Agonie milde gutmütige Bilder? Dagegen spüre ich die Schmerzen am ganzen Körper recht real. Auf allen vieren erreiche ich die Tür des Hauses in der Zeughausstraße, ziehe mich am Türgriff auf die Beine und schiebe mich dann mit dem Rücken an der Wand durch den Durchgang zur Hoftür hin.
Wo mag nur Carola geblieben sein? Sie war bereits im Haus gewesen, als ich durch den Sog wieder hinausgeflogen bin. Draußen habe ich keinerlei Spur von ihr entdecken können, sie war wohl hoffentlich nicht mit mir hinausgeschleudert worden. Ich denke an die Pferde und staune, dass ich selbst liegen geblieben war und hoffe Carola in dem Arierkeller in Sicherheit. Ich ziehe kurz in Erwägung, nachzusehen, aber als Besternter lasse ich das dann doch besser sein.
Die fallenden Bomben surren. Diesmal gilt es eindeutig unserer Gegend. Ein weiterer naher Einschlag bestätigt meine Vermutung. So nah habe ich das bisher nie erlebt. Mit wenigen Sprüngen schaffe ich es über den Hof und erreiche die Tür des Judenkellers. Die steht wie immer offen. Wir Juden dürfen uns nun mal nicht so einfach einschließen, das darf man nur mit uns tun. Von innen hängen mehrere Lagen nasser Decken vor der Tür. Ich suche vergeblich Carola zu entdecken. Einige Sternträger kauern neben der Tür. Mehrere haben sich in den hinteren Teil des Kellers gehockt. Ich will lieber bei der Tür bleiben. Dort ist man etwas ungeschützter, dafür schneller draußen. Ein Fenster besitzt der Raum nicht. Deswegen gilt er als relativ sicher gegen Brand und Splitter. Nur durch die Tür droht Gefahr. Und natürlich bei einem Volltreffer.
Es stinkt erbärmlich. Ängstliche Körper dünsten an sich schon mehr als normal. Und wenn dann die Luft stickig wird, verstärkt sich diese Belastung. Es ist ohnehin schwierig genug, mit der eigenen Angst umzugehen. Aber die Furcht der anderen Menschen zu riechen, wirkt lähmend und erdrückend. Ich atme so flach wie nur möglich. Schwere Einschläge lassen Wände und Boden zittern.
Plötzlich werden Tür und Decken vom Luftdruck heftig nach innen aufgestoßen. Der heiße Türgriff schlägt mir gegen das Gesicht. Blendende Taghelle umfängt uns. Gleißende Hitze prallt uns entgegen. Mechanisch taste ich mein Gesicht ab und befühle die Wunde. Die Hand glänzt dunkel und feucht vom Blut, seltsamerweise bleibt der zu erwartende Schmerz aus. Wird so schlimm nicht sein.
Ein halbes Dutzend Zwangsarbeiter, der Sprache nach zu urteilen vermutlich Tschechen, drängt an mir vorbei ins Freie. Wo die wohl hergekommen sein mögen? Sicherlich haben die armen Hunde den unerwarteten zweiten Angriff innerhalb weniger Stunden genutzt, um von einem mit absoluter Gewissheit in den Tod führenden Arbeitseinsatz, in die immerhin mögliche Sicherheit eines Judenkellers zu fliehen. Wenn schon Zwangsarbeiter einen solchen Schritt wagen, scheint es in der ganzen Stadt weitaus schlimmer zu sein, als ich bisher vermute. Ich denke an Bruno Bierlos. Wenn die behördliche Struktur ordentlich was abbekommen haben sollte, wird sich kein Mensch um einen noch lebenden Juden kümmern und mich am Freitag ins Gas schicken. Dank dieses Angriffes hat sich mein Leben unter Umständen grundlegend geändert, aber zunächst einmal muss ich diesen Angriff überleben, sinniere ich. Dann Carola finden und anschließend müssen wir so schnell es geht aus der Stadt abhauen. Bierlos und Ehrhardt haben recht, nur weg, irgendwohin, wo uns kein Mensch kennt. Und dort verstecken, bis der Spuk vorüber ist. Die Zeit Hitlers und seiner Mörderbande neigt sich dem Ende entgegen, freue ich mich, obgleich das leider viel zu langsam geht.
Ich weiß nicht weswegen, instinktiv springe ich hinter den Tschechen her. Den Rucksack mit den wenigen Habseligkeiten, die uns die SA trotz ständiger Wohnungsdurchsuchungen noch nicht gestohlen haben, halte ich nun mit beiden Händen fest. Denn Carolas Schmuck steckt in der stählernen Schmuckschatulle, die wohlweislich wie ein Buch aussieht. Bei sämtlichen Kontrollen hatten die Herrschaften dieses Buch nicht einmal angesehen. Mag ja sein, dass Uniformträger nicht gern lesen. Dieses Spezialbuch spüre ich durch den Stoff des Rucksacks und halte es verkrampft mit der Hand. Vielleicht würde der Schmuck uns den Weg in die Freiheit ermöglichen. Der alte Hut ist mir irgendwo vom Kopf gefallen. Ich stolpere und stürze durch die Hoftür den Tschechen nach in den Flur des Hauses. Hockend beobachte ich die Straße.
Einer der Tschechen schleicht gebückt durch die Haustür von der Straße zurück und kniet sich neben mich. Warum bin ich nur den Leuten gefolgt? Was ist hier in diesem Flur besser als in dem Judenkeller? Und weshalb ist dieser eine Tscheche nun zu mir zurückgekehrt? Möglicherweise halten wir uns gegenseitig für Glücksbringer. Ich möchte zum Arierkeller und nach Carola suchen. Hinter uns zerreißt ein ohrenbetäubendes Krachen die anderen Geräusche, das ganze Haus zittert. Die Hoftür fliegt polternd durch den Flur und bleibt diagonal zwischen dem Treppengeländer und dem Mauervorsprung der Tür zum Arierkeller stecken. Von einer zur anderen Sekunde herrscht im Flur Backofentemperatur. Wie heiß muss es erst draußen sein? Der Tscheche springt auf und tritt mehrmals kräftig gegen die untere Ecke der schräg eingeklemmten Hoftür, bis ein Stück Mauerwerk von dieser Ecke abplatzt und die Tür zu Boden fällt. Er schiebt sich an der Wand entlang langsam Schritt für Schritt zum Hof hin, einen Arm zum Schutz vor den Flammen und der Hitze vor die Augen haltend. Schließlich stoppt er, pfeift und winkt mir, zu ihm zu kommen. Mir stockt der Atem. Statt Hof und Judenkeller ist nur ein tiefer, brennender Krater zu sehen. Der Tscheche ist wohl tatsächlich mein Glücksbringer.
Er wendet sich zu mir um, schüttelt den Kopf und läuft durch den Flur zur Haustür. Er schaut hinaus und deutet mir, ihm zu folgen. Eigentlich hätte ich doch zunächst nach Carola suchen wollen, aber ohne zu denken folge ich ihm auf die Zeughausstraße. Nun scheint ausnahmslos alles zu brennen. Mein Glücksbringer zieht mich am Ärmel mit sich. Immer wieder müssen wir ausweichen, weil irgendetwas Brennendes vor uns liegt oder zu Boden fällt.
Wir laufen planlos durch Straßen, die ich nicht mehr erkenne. Ganze Straßenzüge sind mir wildfremd. Irgendwann stehen wir geduckt in einem offenen Hauseingang und drängen uns aneinander, als würde das wenigstens einen von uns beiden schützen können.
Vor uns liegt ein großer, freier Platz, in dessen Mitte ein ungeheurer Krater versinkt. Obwohl Dresden meine Geburtsstadt ist, habe ich nicht die geringste Ahnung, wo wir uns befinden.
Zitterndes Grollen von irgendwo her, explodierendes Krachen in der Nähe, heißer Sturm und blitzende Helligkeit überall. Keine Chance, mich zu orientieren. Zu meinem eigenen Erstaunen denke ich nichts. Bin ich als studierter Jurist nach diesen zwölf Jahren verordneter Dummheit und verlogener Kleinbürgerlichkeit bereits so abgestumpft? Ich spüre nicht einmal Angst. Lediglich eine enorme Spannung in mir lässt das Blut kochen, aber das kann an der hohen Temperatur um mich herum liegen. Die Apokalypse menschlichen Größenwahns, überlege ich, so sieht also das Ende aus. Nicht weit vor mir kracht es berstend. Der Tscheche zieht mich kraftvoll bei einem Schutthaufen zu Boden.
Das ausgebrannte Gerippe eines ehemaligen Hauses stürzt in sich zusammen und wir drücken die Gesichter an die heiße Erde. Ich warte darauf, dass Trümmer, Splitter oder irgendwelche Brocken auf mich fallen würden und halte den Atem an. Genugtuung lässt mich sardonisch lächeln bei dem Gedanken an die Geschichten, die man sich erzählt von den hohen Herrenmenschenherrschaften, die in Berlin täglich in ihren besonders sicheren und außergewöhnlich tiefen Kellern in der Wilhelmstraße 102 und ein Stück weiter, Ecke Voßstraße unter der Reichskanzlei sitzen, und sich mutig mit Drogen ablenken, und sich trotzdem die Hosen vollschissen. Genau vor uns kracht es. Ein Haus zerplatzt funkensprühend und brennende Balken und Möbel landen ringsum. Ich denke, dass uns weniger feinen Volksgenossen die Schadenfreude auch nicht hilft, die wir praktisch ungeschützt verrecken.
Nach einigen endlosen Augenblicken klettere ich hinter dem Tschechen über eine Geröllhalde oder eine Brüstung oder was Ähnlichem ins Freie und stürze mich neben ihm in den Krater und hoffe, dass die Landser recht haben mit ihrer Behauptung, dass niemals eine Bombe oder Granate dahin fällt, wo schon eine hingefallen war.
Ich verharre ein Weilchen fest an den Boden gedrückt. Der Tscheche liegt auf dem Rücken und schaut in den Himmel. Die Einschläge hören sich nicht mehr ganz so nahe an und ich klettere den Trichter aufwärts bis zum Rand. Vor mir steht ein Haus, dessen Straßenschild auf dem Gehweg liegt und ich verspüre urplötzlich den Drang, dort nachzuschauen, wo ich mich denn nun befinde. Vielleicht hilft es ja später etwas, wenn man weiß, wo es einen erwischt hat, denke ich und schwinge mich gerade über den Rand meines Trichters, als jemand meinen Namen ruft. In dem demolierten Schuppen neben dem Backsteinhäuschen erkenne ich meinen Kollegen Blumenthal, er trägt seine kleine Tochter auf dem Arm. Das Kind weint leise wimmernd. Ich laufe schnell zu ihm hin.
»Können Sie mir sagen, wo wir sind?«, frage ich ihn.
»Ich weiß überhaupt nichts mehr. Meine Leute habe ich aus den Augen verloren.« Er scheint erschöpfter zu sein als ich. Der Tscheche hat sich mittlerweile zu uns gesellt. Ein Dachbalken schlägt prasselnd und funkensprühend neben uns auf den Asphalt der Straße. Durch die große Hitze ist der Teer weich geworden. Rund um den Dachbalken brennt er nun. Wenn die Straßen erst mal zu brennen anfangen, wird eine Flucht kaum mehr möglich sein. Ich sehe Blumenthal an.
»Es wird zu heiß, die Straße brennt schon. Wenn der Teer schmilzt, sitzen wir hier fest.« Ein weiterer Balken kracht auf die Straße. Winzige Teerspritzer treffen die Haut sehr schmerzhaft. Mein Gesicht pocht heftig. Seltsam, die Verletzung hatte ich total vergessen. Und nun arbeitet mein Gehirn in eine völlig andere Richtung. So heftig hatte mein Gesicht nämlich zuletzt gepocht, erinnere ich mich, als ich für einen Mandanten den Freispruch vom Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt durchgesetzt hatte. Er hatte am Abend des schwärzesten Montags der Weltgeschichte, dem 30. Januar 1933, auf ein Plakat der NSDAP mit schwarzer Farbe gemalt: ›Heute beginnt der 2. Weltkrieg!‹
Die gegen ihn anstürmenden Braunhemden hatte er sich mit der Waffe in der Hand vom Leib gehalten, bis ordentliche Polizei eintraf. Der hatte er sich ergeben. Und meinem Argument in der Verhandlung, dass Braunhemden an jenem Tag noch keinerlei Staatsgewalt darstellten, ist der Richter gefolgt. Danach habe ich elf Jahre lang nichts mehr von dem Mandanten gehört, bis ich Doktor Faber letzten Sommer in der Pfotenhauerstraße getroffen habe. Aber nach der Urteilsverkündung hatte mein Gesicht vor Freude geglüht, so wie jetzt. Greinen weckt mich aus den Gedanken.
Das Kind weint lauter. Kann ich gut verstehen. Wenn ich ein Kind wäre, würde ich auch weinen. Wohin könnte man das arme Würmchen bloß in Sicherheit bringen? Ich schaue mich um und greife nach Blumenthals Arm. »Mensch, Blumenthal, wir stehen zwar inmitten einer Höllenwüste, aber das Gebäude erkenne ich sogar in dieser Wüste wieder!«
Ich weise mit der Hand auf einen dreistöckigen Bau, welcher kaum fünfzig Meter von uns entfernt steht. Die Fenster der unteren Etage sind in Bogenform verkleidet. Die der ersten Etage zieren aufgesetzte Spitzdächer und die der zweiten Etage sind gerade gehalten. Diese Fassadenanordnung hat mich von jeher belustigt, weil ich beim Anblick der Fassade stets an meinen Kollegen Schibulski aus Berlin denken muss.
Er hatte sich 1927 oder 1928 ein Haus in Spandau bauen lassen und ich hatte ihn in jener Zeit gelegentlich besucht. Während eines Besuches hatte er mich zu seiner Baustelle geführt, um mir stolz den Fortschritt der Arbeiten zu zeigen. Wir standen damals im künftigen Vorgarten und betrachteten den Bau, da trat ein wahrer Koloss mit Kappe und Schnurrbartbürste zu uns.
»Chef, der Rohbau is fertig«, sprach der Berliner Bauhandwerker. »Und wat for ’n Stil soll nu an de Fassade?«
Seitdem muss ich jedes Mal, wenn ich an dem Gebäude der Niederlassung der Dresdner Bank in der König-Johann-Straße 3 vorbeikomme, schmunzelnd an die Begebenheit in Spandau denken. Und nun im Inferno der Bombennacht erkenne ich das Gebäude an eben dieser Fassade. Komische Zufälle gibt es im Leben, man glaubt es kaum.
»Das ist die Dresdner Bank, so viel erkenne ich noch. Die Hakenkreuzflaggen über dem Gebäude sind verbrannt; eigentlich ein gutes Zeichen, aber davon mal abgesehen, ist die Bank solide gebaut. Prima Marmor, brennt überhaupt nicht. Ich war früher mal Kunde dort und hatte sogar einen Tresor. Bevor man mich enteignet hat. Der Keller ist tief und solide, da werden zwar die hohen Herren sitzen, doch wenn wir es wenigstens bis in die Halle schaffen, sind wir vielleicht gerettet. Los jetzt, kommen Sie! Da müssen wir rein!«


14.

Wir stolpern durch Flammen, an glühenden einstürzenden Häusern vorbei und der unsichtbare Sturm zieht uns weiter. Beinahe, als würde man durch einen Windkanal vorangezogen. Es riecht nach morschem Brennholz und Schwefel; wenn es eine Hölle geben sollte, muss es dort genauso riechen. Diesen Geruch werde ich nie mehr in meinem Leben vergessen können. Die Hitze wird immer unerträglicher. Schließlich erreichen wir den sehr stabil aussehenden Eingangsbereich des Bankgebäudes, das wie ein von Arkaden durchbrochener Vorbau wirkt. Vielleicht ist diese Bank, welche den Namen unserer Stadt trägt uns jetzt zu etwas nutze, hoffe ich. Viel geschehen ist dem Gebäude offensichtlich nicht. Die Bombeneinschläge scheinen in dieser Gegend vorläufig vorüber zu sein. Aber die Unzahl der Feuer, die nun lodern, lassen die Tragweite des Angriffs noch viel fürchterlicher erscheinen. Dagegen kommt mir der Angriff von vor ein paar Stunden fast lächerlich vor. Ich habe das Gefühl in einem Amphitheater zu stehen, umgeben von hohen Gebäuden statt Zuschauertribünen, über deren Dächern ein gleißender Lichtschein steht. Überall um uns herum muss es brennen. Einzelheiten sind für das bloße Auge nicht mehr zu unterscheiden. Ich lausche dem bisher nie gehörten Lärm. Ein Inferno incremento furioso.
Im Portal des Bankgebäudes fühle ich mich völlig ruhig. Als stünde ich im Zentrum meiner selbst ohne jegliche Nervosität. Blumenthal wirkt dagegen wie ein gejagtes Wild, zumal das leise weinende Kind auf dem Arm seinen Nerven mehr als alles andere zusetzt. Auch ich hätte eigentlich mit dem Schicksal hadern und um Erlösung flehen müssen. Aber in der Thora findet sich meines Wissens nichts im Sinne der Apokalypse und des Weltendes und der Rettung der Seelen durch Jehova. Ich betrachte ruhig das Inferno und halte das Fehlen der Beunruhigung fast für eine Unterlassungssünde. Denn das Weltende findet gerade um mich herum statt und nun wäre der richtige Zeitpunkt für die Rettung. Wiederauferstehung des Geistes ist ja eine feine Sache, nur welcher Geist soll aus dieser Hölle wiederauferstehen? Was wohl Carola macht? Hoffentlich ist sie in Sicherheit.
Nach einer Weile des Grübelns bemerke ich einige Leute, die anscheinend ebenfalls innerhalb des Bankgebäudes Schutz gesucht hatten. Diese Menschen treten nun vorsichtig zu uns ins Portal der Bank. Sie spähen ins Freie. Die Flugzeuge sind davongeflogen. »Vielleicht sammeln sie sich bereits zum nächsten Schlag«, befürchtet eine Männerstimme. »Wir müssen zur Elbe hinunter. Wenn wir bis dorthin durchkommen, sind wir gerettet.«
Als wenn dieser Ruf eine göttliche Erleuchtung wäre, stürmen die anderen Menschen los. Sogar Blumenthal läuft mit dem Kind auf dem Arm vorwärts. Die verängstigten Leute folgen dem Rufer automatisch. Ebenso der einzelne Tscheche - mein Glücksbringer - folgt der Menge.
Ich sehe ihnen hinterher, spüre ein seltsames Gefühl im Bauch und glaube, verrückt zu werden. Ich höre ganz deutlich Carolas Stimme, sie ruft eindringlich: »Jakob, du darfst nicht wieder weglaufen! Du darfst nicht den Kopf in den Sand stecken! Nimm endlich dein Leben in die eigene Hand. Lass dich nicht länger drangsalieren! Zeig hier und jetzt, dass du ein wertvollerer Mensch bist als dieses Volk von Mitläufern und willigen Mördern. Jakob ... Jakob ... Jakob!« Es kommt mir so vor, als würde sich Carolas Stimme in Richtung Eingangshalle des Bankgebäudes bewegen. Da muss ich hinterher.
Obwohl mir der Zutritt zu diesem Gebäude strengstens untersagt ist, folge ich nun Carolas Ruf. Ich betrete die Halle, welche den gleichen soignierten Eindruck auf mich macht wie seinerzeit, als ich selbst Kunde hier war. Seltsamerweise riecht es nicht so nach Brand und Katastrophe, wundere ich mich, sondern nach Wohlstand und Sicherheit. Ach, wie lange habe ich diesen Geruch nicht mehr gekostet.
Erneut glaube ich Carolas Stimme zu hören. »Wenn du nicht fortläufst, wird alles gut werden und wir werden uns wiedersehen! Du musst nur mutig sein!«
Ich bin fest überzeugt, dass ich in diesem Moment absurd wirken muss. Ich schaue mich mehrmals um. Wie soll ich denn Carolas Worte in die Tat umsetzen? Mutig. Ausgerechnet ich. Ein Jurist, ein jüdischer dazu; in einem Land, das aus der ganzen Welt einen blutigen Schlachthof gemacht hat. Ich soll mit einem Mal mutig sein? In einer reichlich zerstörten Stadt, daselbst allerdings in einem scheinbar intakten Bankhaus. Grotesk. Was soll ich hier? Soll ich vielleicht Rache nehmen? Vor allem, wie soll ich Rache nehmen? Womit? Gegen wen? Nun gut, ich könnte die Akten anzünden. Brand legen. Aber der würde ja vermutlich sowieso bald von selbst entstehen. Außerdem bin ich kein Brandstifter!
Moment mal, denke ich. Momentchen bitte mal! Wer hat denn etwas von Rache gesagt? Carola hat darum gebeten, dass ich nicht einfach abhaue. Vielleicht ist ja durch den Luftdruck, der die Türen eingedrückt hatte, irgendetwas geschehen, auf das sie mich mit der Nase stoßen will. Wenn ich schon ihre Stimme höre, hat das sicherlich was zu bedeuten!
Ich schaue mich in der Halle der Bank um. Es besteht kaum ein Zweifel, ich bin allein. Ist bestimmt Schicksal, dass die Glastüren zerbrochen sind. Normalerweise wäre ich ja gar nicht in den Kasten hineingekommen. Nun schaue ich mich bewusst aufmerksam um. Es hat sich seit früher kaum etwas verändert. Versteht sich ja eigentlich von selbst, eine Bank ist traditionsbewusst.
Im Schalterraum brennt kein elektrisches Licht, jedoch durch die Feuer in der Umgebung fällt genügend Helligkeit ins Gebäude, um ausreichend zu sehen. Ich kann mich nahezu mühelos zurechtfinden. Zögernd betrete ich den Schalterraum, verharre eine Weile vor dem Informationsschalter, an welchem ich mich damals immer angemeldet hatte, wenn ich etwas in meinem Schließfach deponieren wollte oder daraus etwas zu entnehmen gedachte. Im Schalterraum war nur recht wenig durcheinandergewirbelt. Ich schaue mich suchend um. Niemand ist zu entdecken. Die breite Treppe, welche ich früher hinabgegangen war, um zum Schließfach zu kommen, scheint mich wiederzuerkennen und lädt zum Betreten ein. Ich steige Stufe für Stufe vorsichtig hinab. Der Schimmer der Brände beleuchtet sogar noch den Keller.
»Hallo!«, rufe ich. »Hallo, ist hier jemand? Wenn jemand da ist, geben Sie ein Zeichen, damit ich Ihnen helfen kann.«
Niemand antwortet, und vorsichtig erreiche ich den Platz vor dem Tresorraum. Dessen schwere Stahltüren sind geschlossen.
Es gibt niemanden, dem ich hätte etwas erklären müssen. Umso besser, so kann ich ein wenig zur Ruhe kommen und nachdenken. Zunächst würde ich eine ganze Weile im Keller der Bank bleiben. Weiß der Himmel, ob der Bombenterror noch mal von vorne losgeht. Das ganze Ausmaß der Katastrophe kann man sowieso erst bei Tageslicht ermessen. Vielleicht wäre es sinnvoll, bis zum Morgen zu warten? Aber was sollte dann Carolas Rufen? Wieso sollte sie mich ausgerechnet an diesem Ort vermuten? Was, wenn sie unterdessen durch ganz Dresden läuft, um mich zu suchen? Wenn sie überhaupt herumlaufen kann. Bloß nicht dran denken. Schon allein die Vorstellung, Carola läuft in Todesgefahr durch das brennende Chaos und ich hocke hier gemütlich in zeitweiser Sicherheit. Ich habe Angst und Hunger. Nun gut, dieses Gefühl kenne ich seit Jahren. Zusätzlich habe ich einen Mordsdurst. Wasser hatte bisher wenigstens immer genügend zur Verfügung gestanden. Woher soll ich wissen, wo es in diesem Gebäude was zu trinken gibt? Vielleicht sind ja die Leitungen in den Toiletten intakt? Will ich doch sofort mal nachschauen.
Also steige ich die Treppen wieder hinauf und gehe vorsichtig zu den Toilettenräumen für die werte Kundschaft. Bin ich ja auch - nun ja, war ich zumindest mal. Nichts hat sich verändert, außer dass es nun ein wenig unordentlich wirkt. Ich drehe einen Wasserhahn auf, nichts. Ebenso der zweite und dritte Hahn bleiben trocken. Die Fensterscheiben hat’s zerrissen und Papierrollen liegen wüst am Boden verstreut. Ich halte den Atem an; eine schwelende Stabbrandbombe ist wohl durch ein Fenster in den Raum gelangt und hat die Papierrollen in einer Ecke des Toilettenraumes angekokelt. Wenn das Ding jetzt zündet, brennt es lichterloh und ich gleich mit. Löschen, unbedingt löschen ist mein erster Gedanke. Die Frage ist, wie, da die Wasserleitungen trocken sind.
Unwillkürlich denke ich an Bruno Bierlos während der Silvesternacht; ob ich auf die gleiche Art hier löschen soll, wie wir damals die Eiche gewässert hatten? Nein danke, wozu soll ich denn etwas riskieren? Selbst wenn Toilettenpapier Mangelware ist, diese wohlhabende Hausbank des Führers wird diesen Verlust sicher verkraften - haben schließlich genügend von uns enteignet! Ist das jetzt ausgleichende Gerechtigkeit? Was geht es mich an? Schwere Einschläge ganz in der Nähe lassen das Gebäude zittern und prompt fällt mir wieder ein, was um mich herum in Dresden geschieht und wie lächerlich mein Durst eigentlich ist. Wenn schon eine Brandbombe durchs Fenster ins Haus gefallen ist, kann ohne Weiteres durchaus ein Wohnblockknacker durchs Dach einschlagen, dann ist hier Schluss. Wohin, mein Gott, wohin kann ich nur verschwinden?
Ich höre ein metallisches Geräusch aus dem Keller. Oh Gott, hoffentlich kracht nicht gleich das Haus ein. In neugieriger Panik eile ich zur Kellertreppe und sehe gerade noch, wie die Stahltür zum Tresorraum geschlossen wird. Eine junge Frau steigt rasch die Treppen empor und bleibt unvermittelt stehen, als sie mich entdeckt. Sie blickt mich zweifelnd an. »Wo kommen Sie denn her?«
»Aus der Toilette«, antworte ich beinahe wahrheitsgemäß.
»Was wollen Sie denn dort?«
»Fragen Sie mich das jetzt im Ernst?«
Sie lächelt tatsächlich kurz, wirkt dennoch gehetzt. »Nein, natürlich nicht. Das kann ich mir denken. Wie kommen Sie denn in die Bank? Wir haben geschlossen.«
Sie hat den oberen Absatz der Treppe erreicht und steht mir nun gegenüber. Ihr Blick fällt auf den Stern an meiner Brust. Ihre Augen weiten sich. »Mann, sind Sie irre?«
»Halten Sie Juden für Irre?«
Sie schaut die Treppenstufen hinab. »Nein, Irre sind die anderen und davon sitzen ein paar als Luftschutzwache unten bei meinen Kollegen im Tresorraum. Wir sind 16 Leute zum Nachtdienst und zur Luftschutzwache. Die andern 15 sind dort unten und wenn einer auf die Idee kommt, oben nach dem Rechten zu sehen und findet Sie, knallt man Sie ab wie einen tollen Hund. Sie dürfen doch gar nicht hier sein.«
»Das weiß ich selbst. Danke. Ich hatte nur den inneren Drang eventuell helfen zu wollen.«
»Denen ist nicht mehr zu helfen.« Sie weist mit dem Kopf zum Keller. »Mich wollten sie auch zunächst nicht gehen lassen, aber ich lass mich nicht in einem Stahlofen einsperren. Wenn das hier anfängt zu brennen, werden die elend gebacken. Da möchte ich lieber mit meiner Familie zusammen einen Volltreffer abkriegen. Ist sowieso alles egal. Wie sieht es denn draußen aus? Ist viel kaputt?«
»Beinahe alles, ein einziges Inferno. Wo wollen Sie denn hin?«
»Blumenstraße. Ecke Scharnhorststraße. Haben Sie eine Ahnung, ob dort viel passiert ist?«
»Kann ich nicht sagen. Ich bin seit Stunden nicht weit vom Altmarkt weg gewesen. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Glück, der Weg wird beschwerlich werden, kann ich mir vorstellen.«
»Das nehme ich gerne in Kauf und ich wünsche Ihnen noch viel mehr Glück.« Sie blickte nochmals auf meinen Stern. »Ist schon eine Riesenschande. Trotzdem würde ich mich an Ihrer Stelle mehr in Richtung Ausgang postieren. Die Kerle da unten sind unberechenbar. Leben Sie wohl, wenn Sie können. Und geben Sie Acht auf sich!« Mit diesen Worten hastet sie an mir vorbei aus der Bank.
Genau genommen hat sie ja recht und ich sollte mich wirklich näher zum Ausgang begeben. Und wenn hier drin jemand mit einer Waffe auftaucht, werde ich sofort verschwinden. Ich erreiche die Tür, die zur Straße führt und hocke mich auf den Boden. Sollte jemand kommen, wäre ich mit einem Satz draußen. Ich muss erst einmal in Ruhe nachdenken. Was um mich herum in der Stadt geschieht, geht völlig über meine Vorstellungskraft. Alles was sich abseits meiner unmittelbaren Umgebung abspielt, ist geradezu bedeutungslos. Was mache ich nun mit Carolas eindringlicher Forderung, nicht wegzulaufen?
Wenn es mich in der Bank nicht trifft, geht es am Freitag sowieso ins Gas, sofern Meister Ehrhardt recht behält. Wer sagt denn, dass seine Vermutung überhaupt noch stimmt? Braucht es jetzt nicht jeden Mann, um die Zerstörungen in Grenzen zu halten? Jude oder nicht. Wer sagt denn, dass weiterhin an diesen unsinnigen Ideologien festgehalten wird? Sind die Behörden morgen früh nicht sogar froh darüber, wenn zwei Hände mehr mit anfassen?
Vielleicht hat Carola das ja gemeint mit ihrer Forderung, nicht wegzulaufen? Ja, bestimmt sogar. Das ist schließlich meine Stadt, meine Heimat; ich kann unmöglich einfach abhauen. Unsere wunderschöne Wohnung, mein geliebter Erker, unsere wenigen noch verbliebenen Freunde. Nein, nein, ich bin sicher, dass ich hier gebraucht werde.
Außerdem, wohin sollten wir denn? Zumal ohne Reiseerlaubnis. Wäre schon schwierig genug, aus Dresden grundsätzlich herauszukommen. Nehmen wir mal an, ich fände Carola und wir schafften es zu Fuß aus Dresden heraus, wie würde es weitergehen? Wohin dann? Zu den Russen? Nein danke! Auch wenn ich der Gräuelpropaganda nicht glaube, ein Zuckerschlecken wird es bei denen bestimmt nicht. Weshalb sollten die Russen ausgerechnet uns glauben, dass wir selbst Opfer sind? Ja Pustekuchen, so wie ich uns Deutsche kenne, sind wir sowieso in null Komma nichts kollektiv millionenfache arme Opfer. Junge, Junge, werden die Kirchen wieder mal Zulauf bekommen von uns armen Opfern, die wir dann massenweise um Vergebung betteln werden und natürlich inniglich beten. Beten würde ich gern, ob es aber gelingen wird, in Dresden zehn männliche Juden für einen Gottesdienst aufzutreiben, ich wäre dann der elfte, halte ich für wenig wahrscheinlich. Ich schaue hinaus auf die brennende Stadt und spüre ganz genau, das hier wird man uns Juden garantiert ebenfalls in die Schuhe schieben, so wie wir ja schließlich an allem schuld sind, was irgendwie schiefläuft. Nicht zuletzt haben wir Juden ja Jesus gekreuzigt - welch ein Quatsch, das haben die Römer erledigt. »Ach Carola, ich irre wieder mal ab und spreche mit dir, wo du doch gar nicht da bist.«
In Gedanken versunken blicke ich zur König-Johann-Straße hinaus. Ein brennender Holzbalken fällt vor dem Bankgebäude zu Boden, hüpft auf beide Enden und bleibt dann brennend liegen. Der muss vom Dach kommen. Demnach hat es über mir zu brennen begonnen. Ich muss demnächst besser verschwinden. Schade, ich hatte mich hier ganz sicher gefühlt.
Vor dem brennenden Balken bleibt ein Mann stehen, der einen stabilen Koffer absetzt und tief durchatmet. Er reckt sich kurz und greift erneut zum Koffer, als ihn ein weiterer herabfallender Balken mit einem Ende im Rücken trifft. Der Mann sackt lautlos in sich zusammen.
Den armen Kerl kann ich nicht so einfach da draußen liegen lassen, die Flammen züngeln schon nach seinem Hut. Ich schiebe mich vorsichtig ins Freie, krieche zu ihm hin und schaue prüfend die Fassade empor. Das Dachgeschoss brennt tatsächlich lichterloh. Auch aus den Fenstern der obersten Etage schlagen bereits leckende Flammen.
Ich greife den Mann mit beiden Händen am Mantelkragen und zerre ihn mühsam durch die Tür in die Bank. Er rührt sich nicht. Ich versetze ihm ein paar sanfte Ohrfeigen. Dann öffnet er endlich die Augen und blickt mich stumm an.
»Können Sie mich verstehen?«, frage ich ihn überlaut.
Er schluckt ein paarmal und bewegt bestätigend den Kopf. »Der Koffer«, sagt er.
»Was ist mit dem Koffer?«
»Wo ist mein Koffer?«
»Draußen, was denken Sie denn? Es war ohnehin schwierig genug, Sie hier hereinzuzerren.«
Er versucht den Oberkörper aufzurichten und stützt sich rücklings auf die Ellenbogen. »Verflucht, ich kann meine Beine nicht bewegen. Ich spüre meine Füße gar nicht. Was hat mich denn da umgehauen?«
»Sie haben einen Dachbalken abbekommen.«
»Ja, genauso fühle ich mich. Ich kann mich wirklich nicht bewegen, sonst würde ich meinen Koffer ja selbst reinholen. Würden Sie mir einen Gefallen tun und das für mich erledigen?«
Na, der hat vielleicht Nerven, denke ich und spähe trotzdem aus der Tür. Immer noch fallen irgendwelche brennenden Gegenstände herab, und da soll ich raus, wegen so einem Sch... Koffer? »Draußen ist die Hölle los, lieber Mann.«
»Ich bin nicht Liebermann, nur der Koffer ist wichtig. Ungemein wichtig! Bitte. Ich bezahle Ihnen, was Sie wollen!«
»Unfug, ich will kein Geld, aber da draußen ...«
»Bitte!«
Ich spähe nach oben, im Augenblick ist es ruhig. Also mache ich den Satz zum Koffer hin, ergreife ihn, ziehe ihn ins Gebäude und lege ihn so neben den Mann, dass er mit der Hand an den Griff kommt. Hoffentlich ist er nun zufrieden, denn nochmals möchte ich nicht hinaus, weil in diesem Augenblick heftige Einschläge den Boden erzittern lassen. Zahllose Detonationen durchbrechen das monotone Brummen der Flugzeugmotoren. Der Wahnsinn scheint längst nicht vorbei zu sein.
Der Mann trommelt mit einer Faust auf seine Oberschenkel. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Ich spüre nicht das Geringste. Ist doch zu blöd.«
»Das gibt sich bestimmt gleich wieder«, beruhige ich ihn. »Die Flucherei nützt ja auch nichts.«
Nun hält er die Augen geschlossen und flüstert so leise, dass ich kein Wort verstehen kann. »Wie bitte?«, frage ich.
Er winkt ab. »Scheiße, ich komm nicht mal richtig an den Koffer ran. Können Sie das Mistding bitte öffnen?«
Ach, auf einmal ist das ein Mistding, gerade hat er mich dafür vor die Tür gescheucht. Aber bitte schön, ich habe heut meinen sozialen Tag. Ich öffne den Koffer und schiebe ihn so zu dem Mann hin, dass er hineingreifen kann. Er hantiert kurz in dem Koffer, lässt dann den Deckel völlig aufklappen und schaut mich an. »Nicht mal das geht noch. Tun Sie mir einen Gefallen und geben mir etwas zu trinken, ja?«
»Ja.« Als ich in den Koffer blicke, muss ich nicht schlecht staunen. Neben einer Reihe Rollen, die fein säuberlich in Papier gewickelt darin liegen, entdecke ich einige alte Bücher, die wie Bibeln aussehen, sowie zwei Flaschen Cognac Napoléon und eine Reihe ineinandergesteckte Goldbecher. Eine der beiden Flaschen scheint angebrochen. Ich nehme sie heraus und zeige sie dem Mann. Er nickt. Ich ziehe den bereits gelösten Korken und reiche ihm die Flasche und einen der Goldbecher. Er gießt den Becher randvoll mit der würzig duftenden goldgelben Flüssigkeit. Auf einen Zug kippt er den Cognac und atmet kräftig durch den Mund aus. »Wollen Sie auch einen?«
»Nein, ich vertrage keinen Schnaps.«
»Das ist kein Schnaps! Was sind Sie denn für ein drolliger Vogel. Na dann, zum Wohl.« Noch solch einen Becher voll kippt er und hämmert dann mit dem leeren Becher auf einen seiner Oberschenkel. »Na, das war’s dann wohl.«
»Haben Sie genug?«, frage ich. »Soll ich die Flasche wieder einräumen?«
»Nee, nee, das lassen Sie mal schön bleiben.«
»Meinetwegen, aber wie kriegen wir Sie jetzt auf die Beine?«, frage ich. »Wir sollten schnellstens verschwinden.«
Er hält die Augen geschlossen und bewegt leicht verneinend den Kopf.
»Na, Sie können ja hier schlecht liegen bleiben. Der Kasten brennt oben schon. Wir müssen raus. Und zwar schleunigst!«
»Gehen Sie alleine«, sagt er und kippt einen weiteren Becher.
»Ja, Pustekuchen. Und Sie lasse ich einfach liegen, was? Ich bin doch kein Tier.«
Wieder voll den Becher und runter damit. Ob der irgendwo ein Loch hat? Er schluckt nicht mal richtig, sondern lässt den Schnaps einfach durch die Kehle rinnen. »Mit Kurt Anders ist es aus.«
»Wer ist Kurt Anders?«
»Ich. Ich bin Kurt Anders.«
»Angenehm, Jakob Löwenthal.«
»Gleichfalls, Herr Löwenthal.« Er kippt von Neuem. »Sie müssen mir helfen, Herr Löwenthal.«
»Ja, wie denn? Soll ich Sie tragen? Blödsinn, das schaffe ich nie.«
»Nein, Sie sollen nicht mich tragen, sondern den Koffer!«
»Wozu das?«
»Sie müssen den Koffer übernehmen und ihn zu meiner Familie bringen.«
»Ich?«
»Ja, bitte. Ich komme hier nicht mehr weg, sonst würde ich das selbst tun. Ich spüre meine Beine wirklich überhaupt nicht mehr. Nein, für mich ist die Reise zu Ende. Na egal! Tun Sie mir den Gefallen und bringen Sie den Koffer meiner Familie nach München.«
»Nach ... nach München? So gerne ich Ihnen ja helfen möchte, aber das ist vollkommen unmöglich!«
Er gießt sich erneut ein und trinkt. »Wieso unmöglich?«
Ich tippe mit der Hand an meinen Stern. »Deshalb, ich bin Jude.«
»Machen Sie bloß das dämliche Ding ab!«
»Das ist bei Todesstrafe verboten!«
»Mann Gottes.« Seine Stimme schwingt leicht, na kein Wunder, so, wie der Mann den Schnaps kippt. »Reden Sie nicht solch einen Unsinn, Verbote und Todesstrafe. Machen Sie das Scheißding ab und sehen Sie zu, dass Sie beizeiten auf einen Baum steigen!«
»Auf welchen Baum?«
»Kennen Sie nicht Wilhelm Busch?«
»Doch schon.« Jetzt fängt der damit an. Bruno hatte mir das erzählt und ich lerne so schnell auswendig. »Wenn das Rhinozeros, das schlimme, dich fressen will in seinem Grimme, und so weiter und so weiter. Ja, kenne ich!«
»Na, sehen Sie. Also weg mit allem, was bisher war und rauf auf den Baum. Im Koffer sind die Sachen meiner Familie, die ich habe retten können. Und Schmuck. Der steckt in den Büchern, die sind nämlich hohl.« Er schnauft hörbar. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor.«
»Ein Geschäft?«
»Ja. Ich helfe Ihnen auf den Baum und Sie helfen meiner Familie, indem Sie den Koffer dorthin transportieren.«
»Ja, aber München? Wie soll ich denn nach München kommen? Liegt ja nicht gerade um die Ecke. Das wird nie was. Bei der ersten Kontrolle bin ich erledigt.«
»Eben nicht, mein Freund. Im Koffer sind neben den Wertgegenständen auch Ausweispapiere. Haben Sie Angehörige in Dresden?«
»Ja, meine Frau. Wo die allerdings ist, weiß ich momentan nicht.«
»Gut.«
»Na hören Sie mal.«
Er winkt ab. »So meine ich das doch nicht. Wenn Sie Ihre Frau wiederfinden sollten, dann nehmen Sie den Pass aus dem Koffer, der gilt für ein Ehepaar. Müssen Sie nur Ihre Fotos einarbeiten lassen. Sie tun dann einfach so, als seien Sie ich. Auf der anderen Seite der Elbe in der Neustadt, in der Forststraße steht ein gelbes Haus. Man wird Ihnen helfen. Haben Sie Ihre Kennkarte mit dem ›J‹ dabei? Wird reichen. Helfen Sie jetzt bitte mir!«
»Ich möchte Ihnen ja gerne helfen, aber wie stellen Sie sich das vor? Ich soll den Stern abmachen. Gut. Dann soll ich in der Forststraße mit meiner Kennkarte wedeln ohne den dazugehörigen Stern auf der Brust. Kein Mensch wird mir helfen und wenn ich zehnmal behaupte Jude zu sein. Mit dem Stern hingegen, als Jude erkennbar, komme ich wahrscheinlich über keine Brücke, ohne kontrolliert zu werden. Und das mit Ihrem Gepäck, in dem Ihre arischen Papiere sind. Haben Sie noch mehr solcher Ideen auf Lager? Und wer weiß denn, ob überhaupt eine Brücke in Ordnung geblieben ist. Vor allem, wo ich doch gar nicht draußen sein dürfte. Gut, ich könnte behaupten, dass ich ausgebombt bin (nur nicht verschreien!), aber deswegen kann ich ja nicht in der Gegend herumlaufen, wie ich will.« Das ist mir alles viel zu unüberschaubar, denke ich. »Wie soll das gehen?«
»Ich glaube nicht, dass heute viel kontrolliert wird. Sehen Sie zu, dass Sie auf die andere Seite der Elbe kommen. Dann beim gelben Haus in der Forststraße klopfen Sie dreimal kurz und einmal lang. Das Zeichen für V. Victory. Kennen Sie bestimmt von Radio London.«
»Wissen Sie, Auslandsrundfunk zu hören wird als Hochverrat bestraft«, antworte ich. »Und bevor ich mich deswegen aufhängen lasse, glaube ich lieber an den Sieg! Außerdem, wissen Sie denn nicht, dass wir Juden gar keine Radiogeräte besitzen dürfen?«
»Nein, das wusste ich nicht. Ich habe jeden Tag London gehört und es wird Sie interessieren, dass die Alliierten am 20. Juli als erstes Dekret die Aufhebung der Judengesetze erlassen haben. Dauert also nicht mehr lang, dann dürfen Sie wieder Radio hören. Na egal. Jemand wird öffnen. Und nun sage ich Ihnen etwas ungemein Wichtiges. Müssen Sie sich unbedingt merken! Dürfen Sie allerdings auf keinen Fall aufschreiben. Also, Sie fragen: Bin ich hier richtig bei Müller? - Die Antwort des anderen muss lauten: Schillers Glocke gefällt mir gut. Dann stellen Sie die zweite Frage: Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard? - Und die zweite Antwort lautet: Ein Seitensprung schadet nicht. Wiederholen Sie und lernen Sie auswendig. Bloß nicht aufschreiben, das wäre für alle sehr gefährlich. Verwechseln Sie kein Wort, das könnte wiederum tödlich für Sie selbst sein!«
Einprägen? Kein Problem. Schon in der Schule war es mir sehr leicht gefallen, auswendig zu lernen. Auch in Englisch. Ich kann Oscar Wildes The canterville ghost bis heute hersagen: ›When Mister Hiram B. Otis, the American minister, bought Canterville chase, und so weiter und so weiter.‹ Da sind diese paar Sätze für die Forststraße lächerlich. Also los! Infantiles Kasperltheater. »Ich klopfe dreimal kurz und einmal lang. Bin ich hier richtig bei Müller? Schillers Glocke gefällt mir gut. Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard? (Hähnchen nach Art der Ente? Was soll der Blödsinn?) Ein Seitensprung schadet nicht (sind Frauen sicher anderer Meinung).« Ich schaue dem sitzenden Mann ins Gesicht. Der trinkt mal wieder. »War das so in Ordnung?«
»Wirklich wunderbar. Ach, noch eine Kleinigkeit.« Er löst eine Kette mit Medaillon vom Hals. »Dieses Medaillon trägt das Bild eines Mädchens. Louisa. Nehmen Sie die Kette als Lebensversicherung für den äußersten Notfall, falls irgendetwas mit den Erkennungssätzen schiefgehen sollte. Sonst heben Sie sie für München auf.« Er küsst das Medaillon und reicht mir die Kette. »Um den Hals damit! Ja, so ist es richtig. Und nun geben Sie mir bitte das Reiseetui aus dem Koffer. Ja genau das. Danke.« Er zieht den Verschluss auf. »Werden Sie den Koffer meiner Familie nach München bringen?« Er schaut mich eindringlich an. »Nun sagen Sie endlich ›Ja‹!«
»Ja gut, ich will es versuchen«, entgegne ich zu meiner eigenen Verwunderung.
»Dann leben Sie wohl«, murmelt er, steckt sich irgendetwas aus dem Etui in den Mund, füllt erneut den Goldbecher mit dem Cognac, beißt auf das, was er im Mund hat und kippt den Schnaps nach. Der Mann beginnt zu zucken, windet und krümmt sich, die Flasche und der Becher rollen über den Steinboden. Ein wenig Schaum fließt über die verkrampften Lippen. Dann liegt er still, es riecht nach Mandeln. Der erste Mensch, den ich beim Sterben beobachtet habe. Und was jetzt?
Jetzt sitze ich da mit dem Koffer und meinem Versprechen.


15.

In der Schalterhalle hinter mir höre ich plötzlich ein Geräusch. Wenn man mich neben einer Leiche findet, habe ich es ebenfalls hinter mir. Durch die Decke über dem Schalterraum dringen erste Flammen. So leid mir der Mann tut, helfen kann ich ihm nicht mehr. Allenfalls seinen Wunsch erfüllen. Vielleicht.
Und auch dies nur, wenn ich am Leben bleibe. Also raus hier! Ich schiebe die Arme durch die Riemen meines Rucksacks und ziehe ihn auf die Schultern. Dann verstaue ich den Becher und die fast leere Cognacflasche wieder im Koffer und verschließe ihn. Ich befestige den Gurt, nehme den Koffer beim Griff und trete, vorsichtig die Fassade oberhalb des Eingangs abschätzend, mit ein paar großen Schritten auf die König-Johann-Straße.
Ich schaue zum Bankgebäude zurück, welches bereits im ersten Stockwerk gleißend brennt, es erfolgt eine Explosion in der Schalterhalle. Flammen schießen nun aus den Fenstern und der Eingangstür. Anscheinend ist der Brandsatz im Toilettenraum jetzt explodiert und hat weiß der Teufel was in die Luft gejagt. Welch ein Massel!
Weniger für den Mann in der Halle, er ist sowieso tot. Ach du liebe Zeit, die Leute im Tresorraum. Da kommt kein Mensch mehr raus. Vielleicht hätte ich ihnen helfen können? Nein, sicherlich nicht, wenn ich an die warnenden Worte der jungen Bankangestellten denke. Die Hitze nimmt mir den Atem und die Haut glüht.
Ich biege in die Schössergasse, weil dort die Flammen nicht ganz so arg zu wüten scheinen. Erst einmal nach Hause, überlege ich und Ordnung in die Gedanken bringen. Das Gehirn beruhigen. Und dann einen Plan machen.
Zwei Männer in dunklen Ledermänteln mit breiten Hüten kommen mir entgegen. Die Sorte, vor der man sich seit Jahren fürchtet und der man möglichst nicht begegnet. Was jetzt? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass in der Hektik der Angriffe Kontrollen stattfinden, aber als Jude mit einem Koffer nachts durch die Stadt zu marschieren, muss diesen Männern recht seltsam vorkommen. Verdammt! Verdammt! Zwischen uns liegen bestenfalls zwanzig Meter und nun schnell umzudrehen und wegzulaufen wäre verräterisch. Ich gehe weiter. Am liebsten hätte ich freundlich gegrüßt, wie jemand der nichts zu verbergen hat. Juden grüßen besser nicht, sondern verlassen den Gehsteig und gehen auf der Straße weiter.
Der rechte Mann blickt meinen Stern an, dann mich. Er weist mit dem Daumen hinter sich. »Da geht’s nicht weiter. Rund um den Jüdenhof ist alles im Eimer. Wenn Sie zur Elbe wollen, versuchen Sie es ein paar Straßen weiter, Mann.«
»Aber ich wohne doch da.« Verdammt, warum kann ich nur meine Klappe nicht halten?
»Auch das noch. Na dann, viel Spaß beim Suchen.«
Sie passieren mich, ohne weiteres Interesse an mir zu zeigen. Dass einer von der Gestapo Mann zu mir sagt statt Judenschwein, finde ich unbegreiflich. Bisher war ich alle naselang angehalten worden, musste meine Papiere zeigen und häufig sogar die Taschen leeren. Ich schaue den beiden Männern zunächst sprachlos hinterher und gehe dann einige Schritte weiter. Am Ende der Schössergasse lodern tatsächlich unübersehbar helle Flammen. Also folge ich dem Rat umzukehren. Vielleicht kann ich über die Schlossstraße probieren, nach Hause zu kommen, und dann nichts wie runter von der Straße.
Jetzt irgendjemandem zu begegnen, der sich womöglich für den Inhalt des Koffers interessiert, möchte ich nicht riskieren. Bloß mein Glück nicht überstrapazieren. Ewig wird das nicht gut gehen, befürchte ich, denn mein Judenstern ist das Problem. Ohne Stern wäre ich zweifellos in erster Linie ein ganz normaler Mensch. Da hat Kurt Anders wirklich recht. Ich erreiche das Café an der Ecke zum Altmarkt und will gerade in die Schlossstraße einbiegen. Wenige Schritte vor mir reden zwei SS-Leute mit einer Frau, die ein Kind an der Hand führt. Ein großer Koffer steht neben ihr am Boden. Es sieht zwar so aus, als würden die Männer der Frau einen Weg erklären, aber die Angst der Frau kann ich bis zu mir herüber deutlich spüren. Was finden die Kerle nur an ihrer furchterregenden Wirkung? Ich zucke zurück. Ich hätte es nicht berufen sollen. Die SS bewegt sich in meine Richtung und ich spüre bis unter die Haut, mich werden die kontrollieren, ob hier alles zerstört ist oder nicht. Neben mir die Fensterscheiben des Cafés sind unversehrt, dafür ist das Glas der Tür zerbrochen. Als Jude dürfte ich diesen Raum nicht betreten. Habe ich denn jetzt irgendeine Wahl? Ich steige durch den Türrahmen, den Koffer längs vor dem Bauch haltend. Nach wenigen beherzten Schritten habe ich die Theke erreicht und nehme hinter ihr Deckung.
»Sollen wir mal nachsehen, ob es hier was zu futtern gibt?«, höre ich eine männliche Stimme.
»Nee, lass man«, antwortet eine zweite. Die Schritte entfernen sich. Durch ein Fenster scheint das helle Licht der Brände. Niemand ist zu entdecken. Gott sei Dank.
Auf dem Koffer hockend ruhe ich mich eine Weile aus. Hinter der Theke ist es angenehm dunkel. Von draußen würde man mich kaum bemerken können. Ich höre nichts weiter als den Gesang der brennenden Stadt. Gespenstisch. Urplötzlich duftet es ulkigerweise nach Kuchen. Mein Magen knurrt sofort. Wieso Kuchen? In der Küche war doch kein Mensch gewesen. Wahrscheinlich werde ich nun verrückt. Vorsichtig hebe ich den Kopf über den Thekenrand und blicke in die Augen eines interessiert wirkenden Mannes. Den beinahe kreisrunden Kopf hält er leicht zur Seite geneigt.
Ich stelle mich auf die Beine. Was sagt man in solch einer Situation? Keine Ahnung. Also schweige ich lieber. Die gedrungene Korpulenz des Mannes lässt auf kalorienreiche Ernährung schließen. Wird sich wohl um den Bäcker oder Konditor dieses Cafés handeln. Sein Blick fällt auf meinen Stern.
Mit einem Heben des Kopfes atmet er hörbar durch die Nase aus. Dann greift er mit Daumen und Zeigefinger an die Nase und atmet noch hörbarer wieder ein.
»Ach so is dett.«
Wieso klingen manche Dialekte spontan sympathisch? Ich senke den Kopf. »Entschuldigen Sie bitte, ich verschwinde schon.« Ich hebe den Koffer am Griff hoch und mache einen Schritt zur Tür.
Der Mann legt mir eine Hand auf den Arm. »Warten Se man noch ’n bissken. De Kerls sin nich weit jenuch wech.«
Er hält den Kopf aus der Tür und schaut in beide Richtungen. Er winkt mir, mich zurückzuziehen und ich hocke mich hinter die Theke. Was, wenn er mich nun verraten will? Die SS in das Café lockt? Nein, das kann ich nicht glauben. Hm, will ich zumindest nicht hoffen. Der Teufel soll den Stern holen.
Der Mann kehrt zu mir an die Theke zurück.
»Angst, wat? Kann ick mir denken. Se ham sicher viel schlechte Erfahrung mit die Leute jemacht?«
»Mit einigen, ja. Nicht mit allen.« Ich bemühe mich, ihn hoffnungsvoll anzusehen.
»Warten Se man ab. Noch’n paar Wochen und det janze Pack hat de Juden schon immer jeliebt. Man hat se denn bloß missvastandn. Nu man im Ernst, Männeken. Weswejen machen Se det Dings nich ab? Denn kann Ihnen keener mehr wat, aba alle könn Se mal jern haben.«
»Tja, so einfach ist das alles nicht. Darauf steht KZ.«
»Ach wat. Um uns mang is allet in Klumpen und ohne dat Dings kontrolliert Se keen Aas. Jehn Se ma auf Tauchstation. Ick bin sofort wieder da.«
Er verschwindet auf der anderen Seite der Theke durch einen dunklen Vorhang in einen Raum, der mir vorher gar nicht aufgefallen war. Daher hat er so urplötzlich vor mir auftauchen können. Was mag nun geschehen?
Nach einigen Momenten erscheint er hinter der Theke. Ich erhebe mich. Er stellt einen Teller mit herrlich duftendem Kommissbrot vor mich auf die Theke. Dick bestrichen mit Marmelade.
»Möjen Se vielleicht een Stück ›Adolf-Hitler-Kuchen‹?«
Ich stiere hungrig auf den Teller und schaue dann den Menschen an. »Was?«
Er zeigt mit einer Hand auf den Teller.
»Na, trocken jeröstetet Kommissbrot mit Marmelade. Riecht wie Kuchen. In Berlin saren ma dazu ebent ›AH-Kuchen‹. Nu haun Se man rin in de Stulle.«
Ich nehme die Scheibe, beiße ab und kaue. »Köstlich.«
»Na, lassen Se sich man ruhich een bissken Weile, niemand nimmt Ihnen wat wech. Kaun Se lieber orntlich.«
Er lacht und ergreift meine freie Hand. Er legt mir ein flaches Briefchen aus Fettpapier hinein und schließt meine Finger darum. Ich öffne die Hand kurz und entdecke eine in Wachspapier verpackte simple Rasierklinge.
»Damit trennen Se die Naht janz vorsichtig auf und schmeißen den jelben Fetzen int Feuer. Jibt ja jenuch davon im Momang.«
Ich habe mittlerweile meinen Kuchen hinuntergeschlungen und öffne nun eine Lasche des Briefchens.
»Nee, nee, mein Juter. Nich bei mir. Bei aller Liebe, ick hab keene Lust, jehängt zu werden. Machen Se det ma lieber woanders. Legen Se sich bis dahin det Messerchen in een Schuh. Und nu raus hier, mir is schon janz übel vor Bammel.« Er zögert. »Nee, is ooch schlecht, wenn man Se hier rauskommen sieht. Besser ick verschwinde erst ma für ‘ne halbe Stunde. Und wenn Se erwischt wern, weeß ick von nüscht. Le’m Se wohl, Männeken.«
Wieso wollen mir plötzlich wildfremde Menschen helfen? Das ist doch geradezu widersinnig. Ich stütze den Kopf in die auf der Theke verschränkten Arme.
»Sind Se valetzt? Kann ick Ihnen helfen?«
Ich schüttele den Kopf. »Mir kann niemand mehr helfen.«
»Sind alle umgekommen?«
Ich schaue ihn an. »Wer?«
»Na ja, als ick vorhin sah, wie Se hier rinjeloofen sind, dachte ick erst, Se wärn een Plünderer, denn ha’ck de SS jesehn und mir hinten nich jerührt vor Schiss. Aber wejen Ihrm Stern denk ick nu, det alle Ihre Leute hin sind, deswejen frage ick. Tschulljung.«
»Nein, nein. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich bei Ihnen so eingedrungen bin. Wir dürfen ja nachts nicht draußen sein. Sonst hätte ich Sie gar nicht belästigt. Meine Frau habe ich zu Beginn des Angriffs vorhin verloren, dann schien es, als ob ich selbst mein eigenes Leben ... und Sie helfen mir einfach so. Das muss ich erst verkraften, verzeihen Sie.« Ich stütze den Kopf in die Hand. Es ist zum Heulen.
»Hat se sehr jelitten?«, fragt er teilnahmsvoll.
»Wer?«
»Nu, Ihre arme Frau.«
»Keine Ahnung. Ich hoffe nicht. Wie kommen Sie darauf?«
»Na, weil Se saren, Se hätten se vorhin varlorn. Da dachte ick...«
»Nein, nein. Um Himmels willen. Ich habe sie nur aus den Augen verloren. Ich hoffe, sie ist in Sicherheit in einem Arierkeller.«
Er tritt einen Schritt zurück. »Dusslije Bezeichnung. Arier. Wat for ’n Quatsch. Wir sin doch alle Deutsche, eener wie der andre.«
»Kann ich vielleicht was dafür, dass diese Kerle damit angefangen haben? Trotzdem sollten wir nicht so reden. Sowieso sollte ich besser den Mund halten.«
»Ham Se irjendwat ausjefressen?«
»Eine Menge: Ich darf nicht hier drinnen sein und dort draußen auch nicht. Und mit Ihrer Klinge werde ich gleich ziemlich viel ausfressen. Ich danke Ihnen nochmals recht herzlich. Bringen Sie sich in Sicherheit, in ein paar Minuten bin ich weg. Ich werde den Koffer auf die Theke legen. Wenn Sie ihn darauf nachher nicht mehr sehen, bin ich ebenfalls verschwunden. Danke.«
»Nüscht zu danken. Wiedasehn. Wat heeßt Wiedasehn auf Jüdisch?«
»Wir sagen Schalom.«
»Na denn, schalomm.«
Er beobachtet kurz die Lage draußen und ist mit einem Sprung verschwunden. Recht behände für solch ein Moppelchen, finde ich. Aber vor allen Dingen hat der Mann Chuzpe, obwohl ihm die Hilfeleistung nichts einbringt. Erinnert mich an den Bettler des ukrainischen Dorfes Anatevka im gleichnamigen Musical. Dort bittet der Bettler den Rabbi um eine milde Gabe. Der Rabbi gibt ihm eine Kopeke und der Bettler beschwert sich, weil er vorige Woche zwei Kopeken erhalten habe. Der Rabbi erwidert, dass er eine schlechte Woche gehabt hätte. Da braust der Bettler auf: ›Wie, wenn du eine schlechte Woche hast, soll ich leiden?‹ Wahre Chuzpe.
Wann waren Carola und ich das letzte Mal in einem Musical gewesen? Vergessen.
Ich ziehe den Mantel aus, wickele die Klinge aus dem Papier und beginne vorsichtig die Naht um den Stern zu zertrennen. Mit einer sehr strammen Doppelnaht ist das Mistding am Mantel befestigt. Schon nach wenigen Schnitten habe ich den Mantel um den Stern derart beschädigt, dass die Schnitte ebenso auffällig sind, wie der Stern selbst. Mein Zeitgefühl lässt mich wie so oft im Stich. Ich schätze von der halben Stunde sind bestimmt erst zehn Minuten verstrichen. Ich will den Besitzer des Cafés nicht enttäuschen. Also weg mit dem Mantel und an dem Jackett versucht, den Stern abzutrennen. Das funktioniert einwandfrei und recht schnell.
Und dann habe ich Angst. Hundserbärmliche Angst. Bisher war alles - na ja nicht gerade alles - irgendwie geregelt gewesen. Hunger, Sorge, Not, ja schon. Und nun, den abgetrennten Stern in der einen Hand, das nackte Jackett in der anderen spüre ich - Gott wie kitschig - den Hauch des Schicksals. Den Atem der vergangenen zweitausend Jahre. So muss es einem Fallschirmspringer beim ersten Absprung gehen. Bis dahin kann man beinahe alles rückgängig machen oder zumindest den letzten Schritt nicht tun. Nun kann ich nichts mehr rückgängig machen. In diesem Café habe ich mit ein paar Schnitten mein Leben aufs Spiel gesetzt. Und jetzt muss ich da durch, egal, was geschieht! Auf jeden Fall erst mal weg hier.
Ich verpacke die Klinge im Fettpapier, lege das Briefchen unter die Einlegesohle und schlüpfe in den Schuh. Den Mantel werde ich nicht liegen lassen. Das wäre ein schlechter Dank für die Freundlichkeit dieses Menschen. Tja, Chuzpe, wird dringend Zeit, dass ich selbst wieder etwas von meiner längst verschütteten Dreistigkeit zurückgewinne. Mir fällt unvermittelt meine Studentenzeit ein. Wieso gerade in diesem Augenblick? Beeilen sollte ich mich, statt in Gedanken herumzutrödeln. Aber es denkt sich ganz von allein. Dagegen kann ich nichts machen.
Wir mussten juristische Probleme lösen. Meine Aufgabe bestand darin, einen Fall aus dem Jahre 1925 zu beurteilen, in dem ein Sohn beide Eltern erschlagen hatte und nun um mildernde Umstände bat. Wie ich nach Recht und Gesetz hätte urteilen müssen, war mir bewusst. Andererseits wollte ich mal sehen, was geschieht, und zum Erstaunen meiner Kommilitonen und des Prüfungskomitees schlug ich vor, mildernde Umstände zu gewähren, da es sich bei dem Mörder nun ja schließlich um einen Vollwaisen handelte. Meine Kommilitonen lachten lauthals und die Prüfer schmunzelten über die Idee. Und wenn ich aus diesem ganzen Schlamassel herauskommen will, muss ich meine Unverfrorenheit, zumindest Stück für Stück davon, wirklich schnellstens wiederfinden.
Ich lege den Rucksack an. Dann wickele ich den Mantel auf links und hänge ihn mir dergestalt über die linke Schulter, dass er die Stelle verdeckt, an welcher vormals der Stern auf meinem Jackett befestigt war. Das erscheint mir doppelt sicher - na also, geht doch. Frechheit steh mir bei! Ein absurdes Gefühl, zwölf Jahre lang hatte ich den Kopf eingezogen und jederzeit den ... hm ... eingekniffen. Wenn es mir verboten worden wäre zu atmen, hätte ich vermutlich selbst dann zu gehorchen versucht; und nun, heute, durch unbegreifliche Verstrickungen getrieben, stolpere ich von einer Ungehorsamkeit in die nächste. Vor Furcht und Sorge sollte ich vergehen und was ist? Ich mache mir nur Sorgen um Carola. Wenn ihr nur nichts geschieht. Mir selbst bin ich beinahe völlig wurscht, mir macht diese ganze Geschichte sogar irgendwie Spaß. Mir graut vor mir selbst. Rund um mich herum geht die Welt zum Teufel, wegen dieser Teufel in Uniform, die mit der Teufelei begonnen haben und mir kommt es vor, als ob mich das nichts mehr angeht. Mir und mich - ulkigerweise hat der Berliner das gerade so wundervoll dialektisch definiert: Mir kann keiner, aber mich können sie alle!
»So. Und nun nix wie nach Hause. Vielleicht ist Carola ja schon da.« Ich rede zu mir selbst. Genau, vielleicht erwartet sie mich ja längst ungeduldig mit einer Tasse Tee. Gott, wäre das schön!
Da fällt mir ein, dass ich meine Kennkarte mit dem deutlich eingestempelten ›J‹ in der Manteltasche trage. Muss man ja stets mit sich tragen. Andererseits kann ich, falls ich kontrolliert werden sollte, nicht ohne Stern und mit J-Karte dastehen. Der Ausweis muss weg! Aber wenn etwas in der Forststraße schiefgeht, soll ich die Karte als Identitätsbeweis zeigen. Wieso eigentlich? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Nur weil jemand eine J-Karte hat, bedeutet das nicht, dass er nicht doch von der Gestapo geschickt ist. Was nun?
Am besten stecke ich das Ding in die Unterhose - wird ja wohl niemand drin suchen wollen.

16.

Ich ziehe den Koffer von der Theke und verlasse sehr vorsichtig das Café in Richtung Schlossstraße. Zwar trage ich den Stern nicht mehr und auf der Stirn steht nichts davon geschrieben, welcher Glaubensgemeinschaft ich angehöre, doch jahrelange Vorsicht und Furcht lassen sich nun mal nicht so einfach abschütteln. Muss ich mich erst dran gewöhnen. Das sitzt tief. Das sitzt sogar tiefer, als ich es mir selbst eingestehen mag. Steht obendrein zu befürchten - egal, wie lässig ich mich irgendwann würde benehmen können -, diese innere Vorsicht im ganzen Leben nie mehr loszuwerden.
Im Freien kann von frischer Luft keine Rede sein. Säurestickiger Brandgeruch lastet allgegenwärtig. Es ist Winter, aber durch die vielen Brände empfinde ich die Luft als nicht kühl. Der ganze Altmarkt liegt voll mit Trümmern und ist von Schutt übersät. Ich muss geradezu Slalom laufen. Es scheint kein einziges Haus unversehrt zu sein. Wieso geht es in dieser Nacht immer dort, wo ich gerade bin, relativ glimpflich ab? Zu viel Glück ist genauso verdächtig.
Die ganze Schlossstraße brennt, beinahe jedes Haus. Ich muss leider recht dicht an den Bränden vorbeigehen. Dauernd etwas in Sorge, ob mich nicht irgendwo ein Dachbalken erschlägt oder ich Feuer fange. Muss ja nicht sein, dass auch der zweite Träger dieses Koffers an ein und demselben Tag umkommt. Nicht nur wegen des Gepäcks schwitze ich Blut und Wasser, bis ich endlich vor unserem Haus ankomme. Fast wäre ich glatt daran vorbeigegangen.
Die Sporergasse ist nicht mehr wiederzuerkennen. Trümmerberge liegen umher. Unser Haus und die Häuser in direkter Nachbarschaft haben anscheinend Volltreffer erhalten. Ob Bruno Bierlos dies geahnt hatte? Bis zum Jüdenhof brennt es und von der anderen Seite her genauso, überall Feuer, Qualm, Hitze und Verderben. Wenn Carola nicht so gedrängt hätte, lägen wir nun ganz gewiss unter dem schwelenden Schutthaufen. Den Koffer stelle ich neben mich. Unwillkürlich muss ich an Familie Abend denken, an die kleine Sarah. Mit dem Handrücken streiche ich über die Wange, an der Sarah geweint hatte. Wie mag das gewesen sein in ihrer letzten Sekunde? Ahnt man es? Weiß man es vielleicht sogar? Müde setze ich mich auf den Koffer und schaue in die Flammen der Ruine unseres Hauses. Aus war es mit unserem Zuhause. Leer fühle ich mich, komplett ausgebrannt. Uralt.
Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange ich die brennenden Trümmer des Hauses schon betrachte. Der Sturm in der Straße zerrt immer energischer. Meinen Mantel kann ich kaum noch festhalten und urplötzlich weiß ich, in diese apokalyptischen Flammen gehört mein Mantel mit dem angenähten elenden Makel rassischen Wahnsinns. Menschen schieben zahllos an mir vorüber, interessieren sich für nichts anderes als für sich selbst. Nicht einer achtet auf den anderen. Einige gehen zielgerichtet in eine Richtung, als ob es dort besser sei, andere genauso zielstrebig in die entgegengesetzte. Auf den Fragmenten des Bürgersteigs liegt ein Scheiterhaufen brennenden Bauholzes. Den Mantel nehme ich von der Schulter und lege ihn darüber. So kann ich jederzeit argumentieren, dass ich das Feuer hätte ersticken wollen. Der Mantel fängt sofort Feuer und brennt innerhalb weniger Augenblicke lichterloh. Niemanden interessieren die leuchtenden Flammen. Kein Polizist legt mir die Hand auf die Schulter, um mich zu verhaften. Nichts. Überhaupt nichts geschieht. Und mir kommt es vor, als hätte das Schicksal bei mir angeklopft. In jenem Moment geht eine große Verwandlung in mir vor. Das war gar nicht das Ende, nur das Kapitel ›Doktor Jakob Israel Löwenthal‹ ist in den Flammen der Faschingsnacht 1945 abgeschlossen. Ich schüttele mich wie ein Hund, der lästige Wassertropfen abschüttelt, und beginne zu lachen. Selbst mein lautes Lachen interessiert niemanden um mich herum. Umso besser. Hier und heute ergibt sich ein Neuanfang! Bisher hielt man mich für anders. Nun bin ich Anders. Kurt Anders.
Wohin jetzt? Ich habe keinerlei Lebenszeichen von Carola entdecken können. Nicht ein einziges bekanntes Gesicht ist mir begegnet und überhaupt gibt es kaum irgendetwas erkennbar Vertrautes. Meine Gedanken gehören den Nachbarn und Freunden, welche nun unter den brennenden Trümmern nicht mehr leben. Ich sehe geradezu jeden Einzelnen vor mir: die Abends mit ihrer hilflosen Tochter Sarah; Koslowski, das muskulöse Urviech; Witwe Bleibtreu, die ihrem Namen alle Ehre macht, seit ich sie kenne; Frau Steinmetz, deren aufgelöstes Haar ihr stets ins schüchtern wirkende Gesicht hing. Tja.
Tja, und die Löwenthals. Carola und Jakob Löwenthal liegen ebenfalls unter dem Feuer. Der Mantel ist längst bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Mit der Ferse stoße ich gegen den Koffer des Kurt Anders. Bis vor wenigen Augenblicken war dies der Koffer eines Juden gewesen. Aber nun, da ich mich endgültig von dem tödlichen Stern getrennt habe, stellt der Koffer die letzte Habe eines ganz normalen Menschen dar. Komisch, ich stehe vor den Trümmern meiner Existenz und dennoch fühle ich mich sogar ein wenig erleichtert. Nun gut, denke ich, lassen wir das alles dort in Frieden unter der Asche liegen. Und damit auch wirklich alles dort begraben bleibt, wäre es wahrscheinlich klüger, schnellstens zu verschwinden. Kurt Anders, sage ich in Gedanken zu mir, wenn dir hier ein Bekannter begegnet, würde der fehlende Stern auf der Brust nicht nur Unerfreuliches nach sich ziehen, sondern die plötzlich in Aussicht stehende Zukunft unter Umständen gleich wieder beenden. Zwölf Jahre lang hatte ich mich erniedrigen und bedrohen lassen, hatte vor Angst und Hunger Tag und Nacht gezittert und nun, wo eigentlich alles aus ist, möchte ich am liebsten laut pfeifend meine bisherige Umgebung verlassen.
Auf der Brühlschen Terrasse oder am Elbufer würde es bestimmt kühler sein und man müsste etwas freier atmen können als in diesem Glutofen. Wie lange war ich wegen des Verbots nicht mehr auf der Terrasse gewesen? Ohne Stern durfte ich ja. Muss ich mich erst dran gewöhnen. Überhaupt muss ich mich an mich selbst gewöhnen. Bisher habe ich mich tagtäglich so winzig wie möglich gemacht, und im Augenblick fühle ich mich nahezu unangreifbar. Unfasslich. Ich finde die neue Situation beinahe sogar höchst spannend. Die anderen Leute, die mir auf dem Weg zur Terrasse begegnen, sehen bedrückt aus, wirken entsetzt. Ich könnte lachen über das Ganze, so blödsinnig kommt mir alles vor, seit ich meinen Stern abgetrennt habe. Als hätte ich ... ja, als hätte ich die schwere Eisenkugel mitsamt Fußkette versenkt und würde schlagartig ein ganz normaler Mann wie früher sein. In den vergangenen Jahren hatte ich täglich geglaubt, dass mich alle Leute wegen des Sterns ständig misstrauisch beobachten und nur darauf warten, dass ich stolpere und mir etwas zuschulden kommen lasse. Und nun hier, heute Nacht, in Feuer, Tod und Verderben, vor den Treppen der mir bis jetzt verbotenen Brühlschen Terrasse, könnte ich die ganze Welt umarmen vor lauter Glückseligkeit, wieder ein ganz durchschnittlicher Mensch zu sein. Möchte am liebsten zum Himmel hinaufschreien ›Danke ihr geliebten Flieger! Danke, dass ihr mich unter Einsatz eures Lebens befreit habt!‹ Selbstverständlich werde ich nicht rufen, sonst ist ja die ganze Freiheit gleich im Eimer. Ich denke auf einmal ganz anders als gestern noch. Wahrscheinlich bin ich nur ein egoistisches Schwein, wenn ich mich so umschaue. Aber was gehen mich die anderen Leute an? Haben die sich nur eine Sekunde lang um mich gekümmert? Na also. Weiter, Jakob. Nein, Kurt.
Die Treppen hinauf mühe ich mich mit dem Gepäck und begrüße praktisch jede einzelne Stufe. Niemand achtet auf mich. Jeder hat genug mit sich selbst zu tun. Endlich stehe ich auf der obersten Stufe und beobachte das höllische Szenario.
Im Sturmwind brennt ringsum die ganze Stadt. Viele Gebäude gleichen überdimensionalen Fackeln. Eigentlich ganz passend für diese überdimensionale Heldenzeit. Hitlers Götterdämmerung im Feuersturm.
Wenn ich mir vorstelle, wie viele unwiederbringliche Kunstgegenstände und Werte, im unmenschlichen Nationalwahn jenes geistesgestörten Hilfsmalers aus Braunau, in Flammen aufgehen, bin ich fassungslos. Dieser Dilettant hatte Sturm gesät, und wie nicht anders zu erwarten, Orkan geerntet. Wäre er Maler geblieben, hätte er mit seinem Gepinsel in der Kunst viel weniger Schaden angerichtet. Wäre man an der Wiener Kunstakademie weniger selbstgefällig eingestellt gewesen, der Kunst wäre sicherlich vieles erspart geblieben. Und nicht nur der Kunst. Wie viele Kunstwerke mögen wohl in den vergangenen zwölf Jahren vernichtet worden sein? In diese Gedanken versunken habe ich den Eindruck, als beträfe mich persönlich der Untergang Dresdens nur als Zuschauer. Na, von frischer Luft kann absolut keine Rede sein. Der Funkenregen wirbelt bis hier hinauf. An Ausruhen ist nicht zu denken. Dauernd schwingt die Menschenwoge von einer Seite der Terrasse zur anderen. Zunächst habe ich die Leute noch belächelt, inzwischen werde ich das Gefühl nicht los, ich sollte mich besser dem Taumel anschließen, beinahe wie auf einem Schiff bei schwerem Seegang. Wenn die Flammen an einer Seite zu gefährlich werden, weichen wir automatisch zur andern aus. So geht es ohne Pause ständig hin und her und so langsam werde ich müde. Bestimmt besonders wegen des ungewohnten Koffers. Soll ich ihn liegen lassen? Mein Wort brechen? Selbst nach zwölf Jahren Barbarei will ich mich dazu nicht herablassen. Obwohl, wenn ich mich nicht zufälligerweise in der Bank befunden hätte, wäre der Koffer mitsamt seinem Besitzer verbrannt, und die Familie Anders in München hätte nie mehr etwas von ihm erfahren - immer das gleiche Lied bei mir: wenn, hätte, könnte. Wenn es nicht passiert wäre ... hätte ich vermieden ... könnte man möglicherweise. Ich liebe Konditionalsätze, aber das nützt mir zurzeit nichts, schimpfe ich mich selbst. Außerdem ist das auch wieder einmal nicht vernünftig weitergedacht. Im Koffer steckt schließlich unter Umständen meine neue Identität und die Möglichkeit, den Henkern in Uniform endgültig zu entwischen.
In der wogenden Menge Menschen sehe ich manche mit Handkarren voller Gerümpel umherlaufen. Solch ein Karren würde mir die Aufgabe schon erleichtern. Wie sollte ich an einen solchen kommen? Zwecklose Grübelei.
Von hier oben habe ich einen ausgedehnten Blick über die Stadt, und im weiten Umkreis sehe ich nichts anderes als Brände und lodernde Flammen. Auf unserer Seite der Elbe leuchten unzählige Feuerfackeln. Drüben am anderen Elbufer glüht das Dach des Finanzministeriums wie ein offener Hochofen. Da gibt es mit Sicherheit nichts mehr, was an menschliches Leben erinnert.
Wo fange ich jetzt bloß an, nach Carola zu suchen?, überlege ich. In den Flammen der Altstadt macht eine Suche keinen Sinn. Denn im Feuer herumzulaufen wäre idiotisch und gefährlich. Das Löschen der zahlreichen Brände halte ich für absolut undurchführbar. So viele Löschzüge gibt es weit und breit nicht. Und sollte Carola am Leben sein, würde sie sicherlich den Weg zur Elbe suchen. Wasser brennt ja schließlich nicht. Also wäre es das Vernünftigste, am Fluss nach ihr zu suchen.
In den vergangenen Stunden habe ich ausschließlich mit mir selbst zu tun gehabt. Nun, wo ich mit meinem früheren Leben abgeschlossen habe, gilt es zuallererst Carola wiederzufinden. Wie gern würde ich Carola erzählen, dass ich bei der Bank in der König-Johann-Straße ihre Stimme gehört habe. Diese Gedanken nützen nichts, rein gar nichts, ermahne ich mich selbst. Sachlich bleiben, Jakob Löwenthal ... ähm, Kurt Anders. Und ganz sachlich gesehen fühle ich mich auf der Terrasse auch nicht sicher. Das Albertinum scheint nicht viel abbekommen zu haben. Aber die Gebäude der Nachbarschaft wirken übel zugerichtet. Aus welchem Grund mag man Dresden innerhalb einer Nacht gleich zweimal angegriffen haben? Und um Himmels willen was, wenn die Angriffe gegen uns Zivilisten weitergehen? Auf der Brühlterrasse wären wir ein gefundenes Fressen für die Flieger. Dass irgendwo intakte Schutzräume zu finden wären, glaube ich nicht.
Am vernünftigsten wäre es wohl, wenn ich zum Elbufer hinuntersteigen und in Richtung ›Blaues Wunder‹ wandern würde. Schlicht und einfach meinen täglichen Spaziergang absolviere und mich ein wenig aus der Stadt heraushalte. Sobald der Morgen dämmert, würde ich zurückkehren, würde nach Carola suchen und dann nichts wie in die Forststraße geeilt und den Pass ändern lassen. Würde, würde, würde, es geht schon wieder los.
Ich schleppe mein Gepäck durch den Brühlschen Garten am Albertinum vorbei. Werfe einen Blick auf die von Gottfried Semper erbaute und von den braunen Barbaren zerstörte Synagoge und steige zum Terrassenufer hinab.
Unter der Carolabrücke setze ich mich auf das steinerne Fundament und ruhe mich eine Weile aus. Außerdem will ich endlich den Inhalt des Koffers mal etwas genauer untersuchen. Schließlich möchte ich ja wissen, was ich da mit mir herumschleppe. Nicht, dass darin irgendetwas viel Brisanteres steckt, was mich den Kopf kosten könnte. Ich werde seltsamerweise das Gefühl nicht los, dass ich in meiner neuen Identität tausendmal vorsichtiger sein muss als bisher. Mensch, Kurt, du musst ab sofort alles, was du tust, von zwei Seiten betrachten. Nachdenken reicht nicht mehr aus, ich muss unverzüglich mit Vordenken beginnen.
Der Schein der Feuer beleuchtet meinen Platz unter der Carolabrücke. Ich öffne den Koffer. Eine der in Papier gewickelten Rollen ziehe ich hervor und löse die Umschnürung. In dem Papier steckt ein Stück Leinwand. Ich rolle es auf. Ein Bild kommt zum Vorschein. Ein Mann mit einem Heiligenschein. Nie gesehen. Im Bild ist eine Expertise eingerollt: Lucas Cranach d.Ä. ca. 1530. Und dann eine Beschreibung in französischer Sprache. Mist, Carola kann Französisch, die könnte mir was über das Bild erzählen. Ui!, bei so viel Aufwand könnte das Bild wohl ein Vermögen wert sein. Mir wird warm, denn es befinden sich weitere Papierrollen im Koffer. Die mache ich jetzt aber nicht alle auf. Und ich schleppe so etwas hier durch den Dresdner Backofen. Hoffentlich bringe ich das heil nach München. Ach du lieber Himmel, ich sag das so, als wär’s ein Spaziergang dorthin. Und überhaupt, wo in München soll ich denn hin? Steht im Pass, hat Kurt Anders gesagt. Wo mag der vermaledeite Pass nur sein? Im Koffer jedenfalls nicht. Eine Autofahrerkappe steckt darin, so eine schicke aus Leder. Ich probiere sie aufzusetzen, und sie passt. Prima, ist zwar kein richtiger Hutersatz, aber immerhin besser als nichts. Besonders, weil ich den Schirm der Kappe tief ins Gesicht ziehen kann. Dann ziehe ich ein Bündel kleiner Hefte aus der Innentasche des Kofferdeckels. Das Bündel ist mit einer Schnur umwickelt.
Obenauf ein rotes Büchlein mit Hakenkreuz im Zahnradkranz. Die deutsche Arbeitsfront. Alle Beitragsmarken eingeklebt, bis einschließlich Februar 1945. Darunter ein Facharbeiterbrief. Kann auch nichts schaden. Im Arbeitsbuch steht vermerkt, dass der Mensch nie die Firma gewechselt hat. Nächstes Heft. Ich muss kräftig lachen. Ein Sparbuch der Dresdner Bank, ausgestellt in der Köpenicker Straße, Berlin. Kontostand 211 Reichsmark, 35 Reichspfennige. Die Dresdner Bank scheint mich zu verfolgen. Es ist einfach zu komisch. Was ist das? Familienstammbuch. Mit Heiratsurkunde vom 10. Juni 1939. Warum nicht? Und was ist das? Ach du lieber Gott, ein Ahnenpass. Na, dieser Unfug dürfte hoffentlich bald vorbei sein! Kurt Anders, geboren im Kreis Kalau - Kurt Anders ist demnach ein Kalauer. Die Eintragungen gehen zurück bis zum 25.10.1795. Na ja, heben wir den mal auf, vielleicht möchte die Familie Anders das Ding ja haben. Weiß man’s? Bloß von einer Adresse in München kann ich ums Verrecken nichts finden. Halt, Moment. Hat der Mensch nicht gesagt, im Reisepass steht die Adresse? Wo ist denn zum Donnerwetter der Reisepass? Keine Ahnung. Was nützt mir das ganze Geraffel ohne den Pass?, rege ich mich auf. Die Gedanken rasen.
Nach einer Weile habe ich mich wieder beruhigt. Ich wundere mich, dass die Papiere samt und sonders in Berlin ausgestellt sind. Nur den Pass kann ich nicht finden. Nochmals untersuche ich den Inhalt des Koffers. Eine flache Innentasche im Kofferdeckel habe ich doch glatt übersehen. Darin steckt eine Brieftasche mit vier nagelneuen Hundertreichsmarkscheinen und dem Pass.
Du gütiger Himmel. Einen Reisepass habe ich schon ewig nicht mehr in den Händen gehalten. Geltungsbereich Inland und Ausland. Wird ungültig am 24. Juli 1946. Juchhe!, der ist bis zum nächsten Jahr gültig. Name des Passinhabers Kurt Anders. Begleitet von seiner Ehefrau Ermine Anders, geb. Leuchter. Er geboren am 21. Mai 1913. Ist etwas jünger als ich, beziehungsweise war. Na gut, bin ich halt frühzeitig gealtert. Unauffällige Fotos. Dem Kurt Anders sehe ich beim besten Willen nicht ähnlich. Den Beruf eines kaufmännischen Angestellten kann ich ja noch vortäuschen. Gestalt: mittel. Stimmt. Gesicht: oval. Na gut, das ist Ansichtssache. Farbe der Augen: braun. Das trifft zum Glück zu. Farbe des Haares: dunkelblond. Kann man vielleicht was machen, bin ich eben in dieser Nacht ergraut. Besondere Kennzeichen: keine. Dass ich beschnitten bin, sieht ja niemand auf den ersten Blick. Ausgestellt vom Polizeipräsidenten in München, 93. Revier. Also doch München. Ich gebe die Unterlagen zurück in den Koffer.
Unwillkürlich muss ich an Johannes, Carolas Bruder denken. Er lebte als katholischer Pfarrer in Niedersedlitz. Er bezeichnete sich als apostatischen Prediger, den Glauben hatte Johannes während der Gewaltherrschaft verloren, die Liebe zu den Menschen nicht. Er machte leider keinen Hehl aus seinen Gedanken und predigte jeden Sonntag den Unterdrückten der unmenschlichen Diktatur zu helfen. Auch Strafandrohungen ließen ihn nicht schweigen. Nach der Niederlage von Stalingrad schrie Goebbels für den totalen Krieg und Johannes mahnte seine Gemeinde, sich nicht endgültig von dem rheinischen Krüppel in den Untergang schreien zu lassen. Wir haben nie mehr etwas von Johannes gehört. Sonderbar, woran man sich erinnert, wenn man mal eine Minute Pause macht und übers Schicksal nachdenkt. Schicksal? Zufall? Gott?! Demnach muss der ja wirklich ein komischer Vogel sein; so wie ich ein Spaßvogel zu werden scheine, bloß dass ich nicht fliegen kann. So, genug ausgeruht, sage ich mir, stecke die Sachen in den Koffer und schleppe ihn weiter am Flussufer entlang. Rollen müsste so ein Koffer haben, überlege ich. Eine angekohlte, sonst unversehrte Wolldecke liegt auf dem Gehweg. Der Besitzer ist anscheinend ohne sie davongelaufen. Ich schwinge die Decke um meine Schultern und den Rucksack. Sie wird die schlimmste Hitze der kochenden Luft für eine Zeit wohl von mir und dem Gepäck abhalten.
Der Sturm zerrt unnachgiebig an der Decke und so langsam fühle ich mich müder werden. Die Wunde in meinem Gesicht schmerzt, daran hatte ich schon lange nicht mehr gedacht.
Über die ab und an durchlässige Decke der Rauchwolken ziehen anscheinend normale Wolken. Es beginnt daraus zu regnen, und der Regen schmeckt nach Rauch und Säure. Der Boden spiegelt schnell vom öligen Regen. Die Decke saugt das Wasser auf und lastet von Schritt zu Schritt schwerer auf meinen Schultern. Der Rucksack zieht die Riemen ins Fleisch.
Ich möchte mich so gern einen Moment setzen, um mich auszuruhen, aber das wird nichts. Am Elbufer sind die paar Sitzgelegenheiten ausnahmslos besetzt. Mir fällt ein, dass ein Stück weiter oben, am städtischen Licht- und Luftbad zahlreiche Bänke stehen. Ich werde dort versuchen, einen Sitzplatz zu ergattern, wäre doch gelacht. Das bedeutet zwar eine zusätzliche körperliche Anstrengung, und so eine bin ich seit Langem nicht mehr gewohnt, denn in den Matsch hier unten mag ich mich nicht setzen. Ob der Regen den Koffer wohl aufweichen wird? Hoffentlich nicht. Sonderbar, dass ich in diesem brennenden Inferno so nachdrücklich auf das Eigentum eines Toten achte. Hm, Tod. Hm, Carola.
Na, oben kann ich lange suchen. Jedes Fleckchen ist besetzt. Ich kann mich bestenfalls an die Litfaßsäule lehnen. Auf einem Plakat wird jedem Benutzer von ›Doktor Müllers Wundertinktur‹ jünglingshafter Haarwuchs versprochen. Drunter steht, wohl mit Lippenstift geschrieben ›Warum sind Schamhaare gekräuselt? - Damit man sich nicht in die Augen sticht.‹ Sonderbare Art von Humor in dieser Zeit. Das tut richtig gut. Ich meine das Anlehnen.
Nach ein paar Minuten gehe ich ziellos weiter und spüre ständig einen dumpf stechenden Druck in den Augen. Ich schaue mich häufig nach der brennenden Trümmerstadt um. Wohin jetzt? Allzu weit möchte ich mich nicht entfernen. Carola würde sicherlich auch in der Nähe bleiben. Die Leute hier im Luftbad wirken hoffnungsloser, als die wabernde Menschenmenge dort unten am Ufer. Kaum eine Möglichkeit, stehen zu bleiben. Es wird wohl einfacher sein, mich von der Menge wieder zum Elbufer hin mitschieben zu lassen. Wozu soll ich mich so weit vom Stadtkern entfernen? Wenn dann endlich diese Nacht vorüber sein wird, muss ich den Weg ohnehin zurückgehen, um in der Nähe der Altstadt nach Carola zu suchen. Und das mit dem schweren Koffer und dem zerrenden Rucksack. Und die ständig nasser werdende Decke bringt mich um den Verstand, so schwer wird sie.
Ich treffe, während ich zum Ufer zurückgehe, auf verstörte Leute, die neben einem Holzkarren im Matsch sitzen und bitte, mich für einen Moment auf ihren Karren setzen zu dürfen, um wirklich mal ein wenig auszuruhen. Apathisch lassen sie mich gewähren. Ich stelle den Koffer neben mich, lege die verdammte Decke auf dem Karren ab und setze mich mit dem weiterhin angeschnallten Rucksack auf die Decke. Das erleichtert spürbar. Ein Mann aus dieser Gruppe spricht mich an. »Wohnen Sie nicht am Altmarkt? Ich meine, wir wären uns schon einmal begegnet.«
»Nein, tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern, verzeihen Sie.«
Er blickt irritiert auf mein Jackett. »Ich hätte gedacht, Sie ... Verzeihung.«
»Tut mir leid, ich kenne Sie nicht.«
Der Fremde zuckt, deutet eine Verbeugung an und lässt den Kopf wieder hängen. Mordsgefährlich, wenn der mich tatsächlich kennt und irgendwann stutzig wird. Ich such lieber schnell das Weite und lass die Decke gleich auf dem Karren liegen. Mögen die Leute sich darüber freuen. Wer weiß, wer mich noch alles erkennt? Ich ergreife den Koffer und entferne mich von der Gruppe.
Nach ein paar Schritten spüre ich eine Berührung am Arm und erschrecke fürchterlich, denn sie wirkt wie ein Stromschlag. Welch eine Zeit, die einen nur durch eine simple Berührung in Todesangst versetzt. Eine junge Frau lächelt mich stumm an und reicht mir ein feines Seidentüchlein, mit dem ich mein Gesicht abtupfen soll. Überaus erstaunt nehme ich ihr Angebot an. Sie hilft mir sogar die verkrustete Wunde notdürftig zu reinigen. Das Gesicht der Frau kommt mir irgendwie bekannt vor und ich habe erneut Angst, erkannt zu werden.
Das Gesicht wird beherrscht von einem selbstsicheren Blick samt wissend verzogenem Mundwinkel. Sie trägt erkennbar teure Kleidung, schwarze Lederschuhe und ihre Figur wirkt schlank unter dem dicken Wollmantel. Sie trägt mittellanges dunkles Haar unter einem blauen Hut.
»Ich danke Ihnen sehr, Frau ...«
Sie blickt mich lange intensiv an und ich möchte am liebsten weglaufen. Dann spricht sie freundlich aber sehr leise: »Sie sollten in den nächsten Tagen den Kontakt zu Menschen meiden und Dresden am allerbesten so schnell es nur irgend geht verlassen. Dass Sie Ihren Stern abgenommen haben, war vernünftig, doch allein deswegen sind Sie längst nicht in Sicherheit, Herr Doktor Löwenthal. Hier in Dresden ist die Führung leider noch lange nicht am Ende, glauben Sie mir. Sehen Sie zu, dass Sie einen Waggon Richtung Süden erwischen. Die Amerikaner werden bald in Bayern sein und auch über den Rhein, dann ist wohl endlich Schluss. Bis dahin müssen Sie übervorsichtig sein. Es reicht nicht, nur die Kappe ins Gesicht zu ziehen.«
Unverhofft mit meinem jüdischen Namen angesprochen zu werden, verblüfft mich. Mit dem Stern glaubte ich ebenfalls meine frühere Identität abgelegt zu haben. Offenbar ein Irrtum. »Mir fällt partout Ihr Name nicht ein. Wer sind Sie? Woher wissen ... nein, andersherum, wieso nennen Sie mich Doktor Löwenthal?«
Die Dame lächelt gequält. »Entschuldigung, mein Herr. Sie haben mir vor Jahren in einer sehr delikaten Angelegenheit geholfen, als Sie noch Ihre Kanzlei hatten.«
»Mein Gott, das ist ...«
»... lange her, ich weiß.« Sie lacht und zeigt dabei ein entzückendes Grübchen. Ich versuche krampfhaft mich zu erinnern. Vor Jahren. In meiner Kanzlei. Delikat. Was heißt delikat? So gesehen behandelt ein Jurist in seiner Kanzlei andauernd derartige Probleme seiner Klienten. Heikel empfand ich zum Beispiel den Schadenersatzanspruch wegen einer ungewöhnlich ausgeprägten analen Verletzung infolge homoerotischer Praktiken eines sehr bekannten Schauspielers am Dresdener Staatstheater. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Das Bekanntwerden seiner Verletzung aufgrund der besonderen Neigung hätte ihn die Zulassung bei der Reichskulturkammer kosten können und ihn möglicherweise mit einem rosa Winkel auf der Häftlingsjacke ins KZ gebracht. Wenngleich im ersten Jahr die NS-Justiz ganz andere Verfahren bevorzugt verhandelte. Ich hatte ihm von weiteren Eskapaden abgeraten und vor dem - ich hatte es seinerzeit ›Konzertlager‹ genannt - gewarnt. Diesen Ausdruck hatte er missvergnügt und stehend entgegengenommen. Erst nach zwei Wochen fühlte er sich wieder in der Lage, zu sitzen. Ich hatte allerdings wesentlich länger zu tun, ihm die Schadenersatzansprüche gegen den Strichjungen auszureden. Gut, er hatte den Bengel zwar genau dort aufgegabelt, wo sich auch zahlreiche SA-Männer mit kleinen Jungs versorgten, und gerade dies hielt ich für bedenklich. SA-Männern wurden derartige Vorlieben von verständnisvollen Führerpersönlichkeiten in der Regel meist vergeben - aber einem arischen Künstler? Sicherlich, jenen Fall wertete ich als problematisch.
Und ebenso empfand ich eine Anklage gegen den Vormund eines kleinen Mädchens wegen pikanter Übergriffe. Nun ja, einer sehr, sehr jungen Frau. Ich konnte mich exakt an die Kleine erinnern. Brünette Zöpfe zu Schnecken gewunden, weiche Züge und wenn sie lachte, sah man ein niedliches Grübchen. Ach du grüne Neune. Na klar, denke ich. Moment, der Name fällt mir gleich ein.
»Fräulein Ulrike Behr, nicht wahr?«
»Namen sind was für Grabsteine, Herr Doktor. Ich trage heute einen anderen Namen, doch das spielt keine Rolle. Wir haben nicht viel Zeit. Ich wollte ursprünglich vorgestern Dresden verlassen, fatalerweise konnte ich erst gestern Nachmittag mein Geld von der Bank holen und nun sitze ich hier vorübergehend im Schlamassel. Na ja, wird schon gut gehen, bloß nicht die Hoffnung verlieren. Ich freue mich, dass wir uns begegnen, Herr Doktor. Machen wir es kurz, ich bin Ihnen für Ihre Hilfe damals bis heute sehr dankbar. Wenn man Sie allerdings erwischt mit den Löchern der Naht, die den Stern prima ahnen lässt, kann Ihnen kein Mensch mehr helfen. Werfen Sie schleunigst dieses Jackett weg, Herr Doktor. Diese kleinen Löcher sind absolut tödlich.«
»Sie müssen mich verwechseln, gnädige Frau. Ich bin weder Doktor, noch sagt mir der Name etwas, den Sie mir zueignen wollen. Ich heiße Anders. Kurt Anders.« Chuzpe, Kurt, denke ich und schwitze wie ein Spanferkel über der Glut.
In ihren Augen blitzen kleine Sterne. Sie küsst meine Wangen.
»Das freut mich ungemein, Herr Anders. Trotzdem muss das Jackett weg. Sofort! Gegen die Herrschaften, die jetzt zuschlagen und den schmutzigen Rest erledigen, kann kaum jemand etwas machen. Schmeißen Sie die Vergangenheit in die Mülltonne der Zeit und retten Sie sich in die Zukunft hinüber. Leute wie Sie brauchen wir, brauchen wir dringend.« Sie flüstert nur noch. »Sie haben mir damals wirklich sehr geholfen, aber nun sollten wir beide endlich verschwinden. Gehen Sie irgendwohin, wo Sie niemand kennt. Und viel Glück. Haben Sie Geld?«
»Geld?«, frage ich. »Nee, wieso?« Die vierhundert Mark im Koffer gehören mir ja schließlich nicht.
»Nein, natürlich nicht, Sie Schaf. Jeder denkt an sich, nur Sie nicht.«
Sie zieht einige Geldscheine aus der Handtasche, drückt sie mir in die Hand, bevor ich ein einziges Wort widersprechen kann, nimmt ihren Koffer und verschwindet im Dunst der Brände. Ich blicke ihr nach in die Nebelwand. Wann war das gewesen? Es war alles so lange her, du liebe Zeit, bloß nicht daran denken. Ulrike hatte ihr Alter nicht verraten wollen. Ich hätte sie auf bestenfalls sechzehn Jahre geschätzt. Sie war alleine in meine Kanzlei gekommen und hatte mich angefleht, ihr zu helfen. Was sollte ich tun? Das weinende Bündel Mensch wegschicken? Damals trug sie brünette Mädchenzöpfe und nun ist aus ihr eine attraktive Dame geworden. Und aus mir ein alter Esel. An die Löcher der Naht habe ich überhaupt nicht gedacht. Ein idiotischer Fehler. Ich untersuche die Taschen des Jacketts. Darin sind lediglich die Schlüssel zu unserer Wohnung. Als Jude trägt man nicht gern Dinge in den Taschen mit sich. Schon ein einziges Erinnerungsstück an früher kann einen ins KZ führen. Obwohl es vollkommen sinnlos ist, möchte ich die Schlüssel nicht wegwerfen. Sentimentalitäten. Kann ich mir in diesen Zeiten an und für sich überhaupt nicht leisten. Also weg damit!
Ulrikes Geld stopfe ich in die Hosentasche, nehme den Rucksack ab und ziehe das Jackett aus. Dann zerre ich den Rucksack wieder auf den Rücken. Das Jackett lege ich mit den Löchern der Naht nach unten in den regennassen Schlamm neben dem Uferweg und setze mich darauf. Ich zähle leise bis zehn, erhebe mich und tue so, als hätte ich einen nassen Hosenboden. Niemand achtet in irgendeiner Weise auf mein Tun und ich lasse das Jackett im Schlamm liegen, nehme den Koffer auf und wandere weiter in Richtung ›Blaues Wunder‹.
Ich wundere mich auch, dass ich als Anwalt, seit Langem ohne Kanzlei, anscheinend doch noch nicht völlig von den Menschen vergessen bin. An sich ja eine schöne Vorstellung. Aber im Augenblick hätte ich viel lieber eine Tarnkappe statt der Autofahrerkappe gehabt oder so etwas Ähnliches. Mittlerweile wird’s mir lausig kalt, selbst in dieser Flammenhölle. Mantel verbrannt, Jackett im Dreck, und wenn ich weiterhin nur im Hemd herumlaufe, falle ich ganz bestimmt auf.


17.

Direkt am Wasser hockt eine Person im Schlamm, den Kopf in die verschränkten Arme gesenkt und dieser Kopf ist kahl, aber nicht so, als wären die Haare verbrannt, sondern rasiert. Das zieht natürlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Um die Schultern schlottert ein dünner Stoffmantel. Ein kahl rasierter Kopf und dazu eine armselige Gestalt assoziiert sofort Gefangener oder Zwangsarbeiter. Na, überlege ich, wenn in diesem Moment eine Streife vorbeikommt, ist es für den armen Teufel aus mit der Freiheit und noch mehr. Ich trete zu dem Mann.
»Jetzt lassen Sie sich doch nicht so hängen, Mann!«, spreche ich den Hockenden an. Der hebt den Kopf und macht Anstalten, fluchtartig aufzuspringen. Die Blicke erinnern an gehetztes Wild. Ich trete einen Schritt zurück, hebe die freie Hand mit der Handfläche voraus. »Keine Angst, mein Lieber.« Dann stutze ich. Das ist überhaupt kein Mann. Der Schädel ist geradezu modelliert, die Lippen weich, die Augen tiefblau und groß. Das ist eine Frau, und was für eine! Trotz des rasierten Schädels drücken die Züge wirkliche Schönheit aus. »Gute Frau, Sie können nicht so herumlaufen«, sage ich und wische mit der Hand über meinen Kopf.
Sie sucht mit flinken Augen die Umgebung ab. Ihre Gesichtszüge erinnern mich irgendwie an den Tschechen. Meinen Glücksbringer. Was mag wohl aus ihm geworden sein? Und aus Carola? Bloß nicht dran denken.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, frage ich und trete einen Schritt näher zu ihr. Sie zuckt. Gibt es eigentlich irgendeinen Menschen in diesem Land, der keine Angst hat? »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, aber so können Sie nicht weiter.« Angstvoll geweitete Augen suchen ganz offensichtlich nach einer Fluchtmöglichkeit vor mir. Ja, zum Henker, sehe ich denn aus wie einer von jenen? »Ich tue Ihnen nichts.« Ich hebe erneut beschwichtigend die Hand. »Können Sie mich verstehen?«
Sie schaut weiterhin recht zweifelnd, und nickt kurz. »Tak. Ja.«
»Tak? Tak ist Polnisch, nicht wahr? Sie kommen aus Polen?«
»Tak.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Zuchause.«
»Nach Polen? Über die Reichsgrenze? Oha. Na, da haben Sie sich ganz schön was vorgenommen.« Oh weh. Welch ein aussichtsloses Unterfangen. Dagegen sieht meine Lage ja geradezu golden aus. Vielleicht hat sie ja trotzdem Glück; doch zunächst muss sie unbedingt ihren Kahlkopf verstecken. Ich ziehe die Autofahrerkappe vom Kopf und reiche sie der Frau. »Setzten Sie sich mal die Kappe auf!«
Sie schaut erst die Kopfbedeckung an, dann mich. Endlich greift sie nach der Kappe und setzt sie auf den kahlen Schädel.
»Das sieht schon wesentlich besser aus«, stelle ich fest. »Und jetzt ziehen Sie den Schirm tief ins Gesicht!« Ich stelle den Koffer zwischen meine Beine und mache eine entsprechende Handbewegung. »Na also, sieht gleich noch viel besser aus.« Ob die Verkleidung allerdings ausreichen wird, um über die Grenze zu kommen, halte ich für unwahrscheinlich. Ein hübsches Mädchen und so vollkommen chancenlos. Eine Schande.
»Nach Polen kommen Sie im Augenblick kaum. Mädchen, hören Sie auf zu träumen und schauen Sie den Tatsachen ins Gesicht. Hier in dem Durcheinander sind Sie viel sicherer. Verstecken Sie sich und warten ab, bis die Russen kommen. Können Sie Russisch?«
Sie schürzt leicht die Lippen. »Tak. Ja.«
»Prima«, sage ich und wundere mich über mich selbst; wie rede ich eigentlich? Keine Ahnung, wie ich mich selbst aus dem Dreck ziehen soll und trotzdem gebe ich anderen Leuten kluge Ratschläge. Ist ja fast wie früher, als ich den Leuten juristische Ratschläge verkauft habe. Apropos verkauft. »Haben Sie Geld?«
Wie nicht anders zu erwarten, schüttelt sie den Kopf. Die Geldscheine, die Fräulein Behr mir vorhin geschenkt hat, drücke ich nun der Polin in die freie Hand. »Sie sind jung, Sie sind hübsch, sehen Sie zu, dass Sie überleben. Verstecken Sie sich bei irgendeinem Bauern. Geben Sie ihm etwas Geld dafür, für Geld tun Deutsche alles. Und wenn es sich um einen netten Bauern handelt, verdrehen Sie ihm den Kopf. Kapiert?«
Sie wirkt nachdenklich. Bestimmt übersetzt sie meine Worte im Stillen und schmunzelt schließlich wie ein Schulmädchen, spitzt die Lippen und deutet einen Kuss an. »Karaschow? Gutt?«
Ach so, sie will beweisen, dass sie Russisch kann. »Ja!« Ein paar Schritte weiter liegt eine Aktentasche im Schlamm und ich habe eine Idee. Ich hebe die Tasche auf, verflucht, kein Boden. Na, wenn schon. Ich drücke dem Mädchen die Tasche in die Hand. »So, nun sehen Sie wie ein Flüchtling aus, fällt in dem Gedränge hier gar nicht auf. Dass das Ding im Eimer ist, ist egal. Na los, Mädchen, mach dich auf den Weg. Immer die Elbe lang.«
Sie schaut reichlich verständnislos.
»Was ist?«, frage ich. »Haben Sie mich verstanden?«
»Habbe värstanden. Was Älbä?«
»Na der Fluss hier, Wasser. Jetzt du da lang«, ich rede automatisch lauter und wie jemand, der nur wenig Deutsch kann, als würde sie mich deswegen besser verstehen können. Dabei schiebe ich sie elbaufwärts. »Du gehen da lang bis Pillnitz oder Pirna oder noch weiter. Bauernhof! Was heißt Bauernhof auf Polnisch? Muh, muh, kikeriki! Viel, viel Glück«, wünsche ich. »Doswidanje, nee, das ist Russisch.«
Aber sie versteht ja Russisch.
»Do widzenia«, sagt sie.
»Ach so, ja. Do widzenia. Masseltov.«
Mein Glückwunsch scheint sie etwas zu irritieren. Sie nickt lächelnd. Nun ja, möglicherweise wird ihr ja das angenehme Äußere weiterhelfen. Auf alle Fälle muss ich mir weitere Patzer mit jüdischen Redensarten schleunigst abgewöhnen. Dann gehe ich selbst weiter die Elbe entlang und schaue dem Mädchen nach, bis sie in der Menge nicht mehr zu unterscheiden ist.
Es regnet inzwischen ausgiebiger, mein Hemd klebt vom Regenwasser auf der Haut und jetzt beginne ich trotz der Brände ringsherum richtig zu frieren. Das Gepäck scheint von Minute zu Minute schwerer und schwerer zu werden. Ich klettere über eine gemauerte Umzäunung eines Gartens hinauf bis an die abgestürzte Befestigung einer Terrasse. Vielleicht kann ich mich hier ein wenig unterstellen. Das dazugehörige Haus brennt lichterloh und das freut mich ungemein. Die Bonzenvillen sind nicht verschont geblieben. Das wird den hohen Herrschaften nicht sehr gefallen. Die Luft um das Gebäude herum glüht. Auf der Terrasse entdecke ich mehrere Koffer. Trotz der Hitze nähere ich mich diesen Koffern.
»Hallo!«, rufe ich vorsichtshalber. »Ist da jemand? Kann ich helfen?« Niemand antwortet, lediglich das Feuer prasselt. Die Hitze lässt meine nasse Kleidung förmlich kochen. Wenn tatsächlich irgendjemand im brennenden Haus ist, wäre er sicherlich nicht mehr zu retten. Aber soll man um Nazis trauern? Kommt ja gar nicht infrage. Lieber mal nachschauen, was so herumliegt.
Ich öffne einen der Koffer. Darin Damenkleidung, Bettwäsche, Unterwäsche. Mist. Der zweite Koffer ist sogar abgeschlossen. Zweimal Mist! Im dritten Koffer finde ich einen Herrenanzug, Schuhe und ganz oben drauf einen Mantel. Na also. Masselmolch, der ich bin. Die Anzugjacke und der Mantel sind mir zwar zu groß, doch einem geschenkten Gaul ... Ich schlüpfe in die Sachen, belade mich mit Rucksack und Koffer, und rutsche zum Uferweg hinunter. Ich unterscheide mich nun tatsächlich kaum von den anderen Leuten. Je weiter ich mich auf dem Uferweg von der Stadt entferne, desto geringer peinigt die Hitze, und sogar etwas windgeschützter ist es. Der Regen nimmt zu und der Boden entwickelt sich zu einer glitschigen Schlammbahn. Die brennende Stadt leuchtet bis hierhin taghell.
Mir kommt es so vor, als ob immer mehr Menschen am Elbufer eintreffen. Sie stehen und sitzen einzeln oder in Gruppen und machen nichts anderes als zuzuschauen, wie Dresden brennt. In der Nähe nichts als Feuer, in der Ferne ausschließlich Feuer - überall nichts als gleißendes Feuer. Brennende Dächer, von Feuern hell erleuchtete Fensterrahmen und berstende Mauern. Das vom Regen dampfende Denkmal auf der Brühlschen Terrasse erweckt in dieser Hölle einen höchst seltsamen Eindruck - ein dampfender Mann. Ein Wahrzeichen großartiger geschichtlicher Bedeutung, der jetzt das wohl Bedeutungsloseste ist, was existiert.
Neben dem Wasser liegen Wackersteine aufgeschichtet. Sicherlich war seinerzeit mal geplant gewesen, den Uferweg zu befestigen. Aber in unserer großen Zeit bleibt weder Zeit noch Geld, eine solche Arbeit durchzuführen. Mir kommt der Haufen gerade recht. Ich stelle den Koffer auf die Steine und setze mich darauf. So kann ich ein wenig dösen, bis der Morgen dämmert und ich komme wenigstens nicht mit dem Matsch in Berührung. Man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar. Ich überlege, ob ich mein Gepäck nicht im Keller irgendeines Gebäudes verstecken soll. Dann könnte ich mich zumindest etwas freier bewegen und nach Carola suchen. Ach Unsinn, lieber nichts riskieren und in Ruhe abwarten. Mein Gott, bin ich hundemüde. Ich kann kaum die Augen aufhalten. Und zu allem Übel puckert mein Gesicht jetzt wieder schmerzhaft im Rhythmus des Herzschlags. Wie spät mag es wohl sein? Was soll es, ich werde früh genug merken, was mir die Stunde geschlagen hat. Meine Gedanken kreisen immer schneller nur um mich selbst, obwohl ich weiß, dass das endlose Grübeln nichts bringt. Ohne dass es mich berührt, sehe ich, dass über der brennenden Stadt der Morgen zu dämmern beginnt. Ich habe so sehr auf die Dämmerung gewartet und weiß jetzt nichts damit anzufangen.
Mit den lächerlichen zur Verfügung stehenden Mitteln wird die Stadt an diesem frühen Mittwochmorgen nicht einmal annähernd gelöscht werden. Ich stehe vom Steinhaufen auf, recke mich, wandere planlos zurück in Richtung Brühlsche Terrasse und beobachte ein paar Leute, die mit Eimern Wasser aus der Elbe holen und versuchen einen Brand zu löschen. Vermutlich versuchen sie, ihr eigenes Haus zu retten. Aber sobald das Wasser die Flammen gelöscht hat und die Leute zur Elbe eilen, um neues Wasser zu holen, entzündet sich das Ganze in einer Verpuffung sofort wieder und selbst der Regen hilft keine Spur. Dresden wird wohl auch an diesem 14. Februar eine lodernde Fackel bleiben.
Die Terrasse, ja das ganze Elbufer wimmelt von hierhin oder dorthin gehenden Menschen. Nicht zu schätzen, wie viel Tausende Leute unterwegs sind, wie die Ameisen. Was mache ich nun? Weiter die Elbe abwärts? In die Neustadt und schon mal nach dem gelben Haus in der Forststraße suchen? Oder in die Altstadt zurück? Irgendeine unerklärliche Anziehungskraft drängt mich nach Hause. Ein letztes Mal möchte ich bei Tageslicht schauen, was davon übrig geblieben ist. Das mache ich!
Der Weg gestaltet sich wie ein mörderisches Hindernisrennen. Nicht nur, dass die Straßen durch noch mehr Schutt und Trümmer versperrt sind, herabstürzende brennende Balken und ganze Dachstühle bilden beim Überklettern der Hindernisse eine unabsehbare Gefahr. Der kochende Straßenasphalt glänzt flüssig. Ohne Warnung stürzen ganze Gebäude von einer Sekunde zur anderen in sich zusammen, glühende Steine und brennendes Holz fliegen bis auf die Straße und durch die mitgeführte Luft entzündet sich der Asphalt. Die hochspritzenden Feuertropfen entzünden wiederum Haare, Kleidung, Strümpfe und Gepäck. Das Grauen ist so aufwühlend, dass ich kopflos immer weiter gehe. Namen kann ich den zerstörten Straßen nicht zuordnen.
In einer mir vollkommen unbekannten breiteren Straße mit gepflasterten Bürgersteigen klettert unmittelbar vor mir ein etwa zehnjähriger Junge in den üblichen kurzen Hosen und Pimpfjacke mit Kniestrümpfen an den nackten Beinen über einen Trümmerhaufen. Ob der Junge die Katastrophe als solche erkennt? Vielleicht bedeutet für ihn dies alles nur ein riesengroßes Abenteuer? Nichts hat sich geändert.
Ich selbst kann mich sehr gut an den Herbst 1914 erinnern. Ich war gerade sieben Jahre alt und marschierte begeistert neben den mit Gewehren und Marschgepäck beladenen Soldatenreihen her, die in den Krieg ziehen durften. Mädchen und Frauen bewarfen die Soldaten mit Blumen. Männer schwenkten die Hüte und riefen begeistert: »Hurra!« Ich bildete mir ein, ebenfalls ein gefeierter Held zu sein und hatte die Soldaten damals beneidet - ich hatte keinen blassen Schimmer, was Krieg bedeutet. Dadurch, dass ich neben den Soldaten marschierte, fühlte ich mich ihnen gleich. Alle konnten mich, den tapferen Helden Jakob Löwenthal sehen; besonders die Erna Säckinger aus der Pillnitzer Straße. Sie stand vorm Haus, ich hatte ihre langen Zöpfe sehr wohl bemerkt und war dann besonders nah an ihr vorbeimarschiert. Eine süße Gänsehaut lief mir damals den Rücken hinunter, denn ich war verliebt in Erna. Nicht nur wegen der langen Zöpfe, sondern sie lispelte auch ein wenig und ich empfand das als etwas ganz Besonderes.
Heute im brennenden Inferno muss ich sogar ein wenig über den kleinen Helden vor mir auf dem Trümmerberg lächeln. Nein, nichts hat sich geändert. Welche Rolle der Junge vor mir in seiner Vorstellung spielt, kann ich nicht wissen. Ich ahne, dass er sich der schwachsinnigen Vorstellung seiner HJ-Führer würdig und mutig zeigen möchte. Armes Kerlchen, überlege ich, wenn nun bald dieser ganze Spuk vorbei sein wird, wie soll dann diese Jugend mit dem mörderischen Bild ihrer Ideale fertig werden? Wer hat mich vor Kurzem bloß gefragt, wie lange es wohl dauern würde, diesen Pimpfen den Blödsinn aus den Köpfen zu kriegen? Vergessen. Ich vergesse in letzter Zeit sowieso so viel. Hm, vielleicht ist’s auch nur Verdrängen, was weiß ich. Der Junge befindet sich gerade auf dem Abstieg zum Gehweg hin und ich bemerke mit Entsetzen, dass die zweistöckige Fassade des Hauses rechts von uns auf den Bub zustürzt. Instinktiv springt er aus der Gefahrenzone auf die Straße. Ich sehe, dass die Straße gar keine mehr ist, denn er versinkt bis zu den Knöcheln im flüssigen Teer, fällt hysterisch schreiend auf die bloßen Knie und Hände und das schreiende Gesicht ertrinkt im kochenden Teer.
Keine Chance zu helfen. Oh Gott, die kleine Hand bewegte sich noch. Viel zu lange brauchen die fallenden Mauern, um die Qual zu beenden. Aber nein, die Hand bewegt sich gar nicht, durch die Hitze kocht das Wasser unter der Haut und wirft Blasen auf, wie bei einem Spanferkel. Welch eine teuflische Erbärmlichkeit. Oh Gott, wo bist du? Hat hier im Land der Teufelei nur der Satan Einfluss?
Minutenlang kann ich mich nicht bewegen, schaue nur auf den Trümmerhaufen und die mittlerweile schwarzverbrannten Finger der Jungenhand, die langsam unter den Steinen versinkt. Die Menschen, die weiterhin auf dem Bürgersteig über Mauerreste und Schutt klettern, nehmen keinerlei Notiz von dem Geschehen. Von dem Jungen ist nichts mehr unter den Trümmern der Fassade zu entdecken. Als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht habe ich ja nur geträumt, rede ich mir ein. Wenn ich hierbleibe, ändert sich auch nichts. Nun mag ich mich gar nicht mehr zum Himmel hinauf bei den Bomberpiloten bedanken! Denken die wohl daran, was sie am Boden anrichten? Nutzlose Gedanken in einer Welt, in der Mord und Totschlag mit Orden belohnt wird. Ich gehe mechanisch in irgendeine Richtung. Wie eine Maschine, die sinnlos weitermacht. Mir ist plötzlich gar nicht mehr zum Lachen zumute.
Das Fragment irgendeiner Kirche glüht dunkelrot, gleißende Sonnen schimmern durch geborstene Mauern hindurch. Mit einem Mal weiß ich, wo ich mich befinde! Dort steht doch das vornehme Patrizierhaus mit den malerischen Türmchen rechts und links vom Eingang. Also stehe ich am Marktplatz. Das Haus scheint wie im Schüttelfrost zu zittern und stürzt dann in sich zusammen. Gerade wegen der entzückenden Türmchen hatte ich dieses Haus schon seit meiner Kindheit bewundert. Immer hatte ich mir vorgestellt, wie wohl der weite Blick über Dresden aus den Fenstern dieser Türmchen wäre.
Die Straßen, Häuser, Monumente und Schmuckstücke der Baukunst der vergangenen Jahrhunderte, die steinernen Zeitgenossen meiner Kinder- und Jugendzeit verschwinden einfach im Nichts. Das unerbittliche Finale menschlichen Irrsinns in Form militärischer Gräuel.
Ich habe keine Lust mehr, mein ehemaliges Zuhause nochmals zu besuchen und wende mich der Elbe zu. Lieber keinen letzten Blick auf die Reste unseres Hauses werfen, als dieses Sterben weiter aus der Nähe zu betrachten. Mittlerweile geht diese Nacht weit über meine Kräfte und mein Gehirn ist nicht länger in der Lage, das gefühlsmäßige Entsetzen auszugleichen.
Langsam erhebt sich die Sonne aus der Morgendämmerung im Osten, während das herrliche ›Florenz des Ostens‹ in der Götterdämmerung verglüht. Es ist nur ein schwacher Trost, dass wenigstens auch die behördlichen Gebäude unbeirrt niederbrennen.

Der neue Tag kriecht als schmaler Streifen am Horizont aus der Dunkelheit. Es wird tatsächlich doch wieder hell. Und weiterhin strömen Menschenmassen, als folgen sie einem magischen Zeichen, zur Uferstraße an der Elbe. Ich kehre an meinen windgeschützten Platz auf den Steinen direkt am Fluss zurück, setze mich erneut auf den Haufen Pflastersteine am Wasser und beobachte die unzähligen Menschen, die in geringer Entfernung planlos in beide Richtungen an mir vorüberziehen. Vielleicht haben die ja recht. Vielleicht beruhigt das die Nerven. Ich mag mich einfach nicht aufraffen, ebenfalls in dem Menschenstrom unterzutauchen. Zu groß erscheint mir die Gefahr, dass irgendein Einzelner in der Menge mich als den Juden Löwenthal erkennen könnte. Einen Juden, für den das Nichttragen des verhassten Sterns in dieser Zeit deutscher Größe und Ehre ein todbringendes Verbrechen bedeutet, todbringend, weil sehr viele Menschen in Deutschland das Denunzieren als Ehrensache betrachten. Trotz des allgegenwärtigen Untergangs nicht nur immer noch, sondern immer mehr!
Auf meinem Steinhaufen fühle ich mich wie ein unbeteiligter Zuschauer einer entgeisterten Wanderung entsetzter Ratten auf der Flucht. Nein, nicht Ratten, wie heißen die Tiere, die freiwillig ins Wasser gehen?
Lemminge!
Endlich streichelt die Sonne mit sanftem Morgenlicht die Brühlsche Terrasse. Und eben dieses sanfte Licht zieht mich genau dorthin, zieht mich magisch an. Beruhigt stelle ich fest, dass niemand Notiz von mir nimmt, obwohl nur wenige Menschen diesen Platz beleben. Je weniger Menschen ich begegne, desto geringer ist die Gefahr, auf einen Bekannten zu treffen. Obwohl beides ja nicht in linearem Verhältnis zueinander steht. Ich lenke meine Schritte in Richtung Staatsoper und begegne auf meinem Weg vielen Frauen, aber nur sehr wenigen Männern, und diese wenigen sind meist Greise. Komisch, mir ist bisher gar nicht aufgefallen, dass ich einer der wenigen noch nicht zu den Greisen gehörender Mann bin. Vielleicht hat man mich deswegen so häufig kontrolliert und nicht nur wegen des Sterns.
Ich stelle den Koffer auch hier auf den Boden, setze mich darauf und schaue über die Augustusbrücke hinweg dem Flusslauf nach. Ein malerischer Anblick trotz der Trümmer ringsherum. Ein Gefühl der Hoffnung und Ruhe legt sich über meine Gedanken.
Ich muss eine ganze Weile dort gesessen und gedankenlos vor mich hin geträumt haben. Schließlich wache ich aus den Träumen auf. Mein Blick fällt auf eine Reihe Leute, die vor der Mauer zwischen ein paar armseligen geretteten Habseligkeiten hocken. Wandelnde Leichen mit tief in den Höhlen liegenden Augen und eingefallenen Wangen. Ich stehe auf, nehme den Koffer und nähere mich den Leuten. Keine Ahnung wieso.
Eine Frau kniet neben einem auf den Steinplatten liegenden Menschen. Ich sehe zwar nur ihren Rücken, bemerke aber, dass sie dem Liegenden die verbrannte Haut mit irgendwelchen Stoffresten oder Papierstreifen säubert und ab und zu die Lippen des Verletzten mit Wasser befeuchtet. Die anderen Leute sehen apathisch und ohne jegliche Neugier, Mitleid oder gar Hilfsbereitschaft zu. So unzählig viele Tote liegen herum, dass ein einzelner Verletzter gar nicht mehr zählt. Ich blicke von der Krankenschwester ohne Uniform zu einem vielleicht zehnjährigen Jungen, der barfuß in viel zu großer Bekleidung, die Hosenbeine eingekrempelt, auf der Terrassenmauer über den Leuten hockt und die Arbeit der Frau teilnahmslos betrachtet. Eine schmutzige Jacke schlottert um seine schmalen Schultern. Der Junge schaut von dem Verletzten weg und spuckt vor sich auf die Pflastersteine. Sein leerer Blick folgt der Spucke und er murmelt ein paar Worte an niemanden gerichtet. »Schade ums Wasser, wird eh verrecken.«
Dieser Junge drückt seine Sicht unserer großen Zeit punktgenau aus, er hat mit jeglicher Menschlichkeit abgeschlossen. Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Selbst wenn der Junge vierzehn oder gar fünfzehn Jahre alt wäre, hätte er doch, seit er denken kann, nur den völkischen Schwachsinn von Partei, Schule und besonders von den Eltern eingetrichtert bekommen - was um Himmels willen wird aus dieser Generation einmal werden? Welches Verbrechen haben die mit Minderwertigkeitskomplexen beladenen kleinbürgerlichen Väter deutscher Obrigkeitshörigkeit an den heranwachsenden Menschen begangen?! Diese Sorte Väter sind der Abschaum unseres Vaterlandes. Sie sind mit den Händen an der Hosennaht geboren und auch noch stolz darauf, so zu sterben. ›Vaterland!‹ prügeln diese Väter in ihre Söhne! ›Vorgesetzten ist unbedingter Gehorsam zu leisten!‹ prügeln solche Väter in ihre Söhne! ›Gehorsamkeit und Disziplin! kapierst du endlich, ja?!‹ prügeln gewissenlose Väter in ihre Söhne!
Und dieser Junge dort auf der Mauer sitzt nun vor dem Ergebnis von Gehorsamkeit und Disziplin. Hoffentlich kann dieser gefühllose, hoffnungslose Jungen irgendwann einmal diese Bilder vergessen.
Vielleicht werden in dreißig oder vierzig Jahren einmal Väter begreifen, dass selbstständiges Denken viel wichtiger ist als bedingungsloser Gehorsam und blinder Glaube. Tja. Später ... viel später vielleicht. Nicht gleich wütend werden, ja? Aber das wäre doch immerhin möglich. Das Ergebnis treudeutscher Erziehung fliegt uns ja gerade sehr anschaulich um die gehorsamen Ohren.
Wenn Carola meine Gedanken wüsste, würde sie wieder schimpfen. Na ja. Gedankenversunken wende ich meine Blicke von dem Jungen ab und beobachte die Bemühungen der Krankenschwester. Ob sie meine Blicke spürt, weiß ich nicht, sie wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu und ich schaue in Carolas fassungslose Augen. Wir springen beide auf und Carola betrachtet mich, als wäre ich eine Erscheinung aus dem Jenseits.
»Jakob?!«, ruft sie viel zu laut. Einige der bisher Desinteressierten blicken sofort zu uns. »Jankele!«


ZWEITES BUCH

1.

»Jankele!«, ruft Carola.
Ich versuche, ihr den verräterischen Kosenamen für mich mit meinem verkrusteten Mund von den Lippen zu küssen. Ich schmecke salzige Tränen und halte mit der linken Hand Carola und mit der anderen krampfhaft den Koffer fest. So ein Koffer erweist sich als sehr störend während einer herzlichen Begrüßung. Ihn abzustellen traue ich mich nicht, denn wenn der Koffer mir geklaut wird, wäre es ja wahrscheinlich Essig mit den neuen Papieren. Beruhigend klopfe ich nun mit der linken Hand Carolas Schulter. Ihre mittelgrünen Augen werden eine Spur dunkler.
»Jakob, lass das! Ich bin schließlich kein Pferd.«
»Jetzt schweig mal fein stille.«
»Du hast doch wohl nicht mehr alle ...« Sie betrachtet mein blutiges Gesicht, als suche sie eine unverletzte Stelle darin, um dies schlagkräftig zu ändern. Sie atmet tief ein, wohl um mir gehörig die Meinung zu sagen. Ich küsse sie also vorsichtshalber nochmals leidenschaftlich und lächle sie dann an.
»Carola, sei jetzt bitte mal eine Minute still.«
»Ich soll still sein? Spinnst du? Seit Stunden laufe ich durch die Stadt und suche nach dir, wie nach dem Heuhaufen in der ... nein, andersherum. Du weißt schon. Und du verlangst, dass ich still bin?«
Herrlicher Anblick, wenn sie wütend ist. Ich stelle den Koffer zwischen meine Beine und drückte Carola an mich und stelle fest, dass sie weint. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, du ... du ...«
Immer weinen lassen, das fällt im Augenblick überhaupt nicht auf und bringt Zeit.
»Ich habe mir ebenfalls Sorgen gemacht, Carola.« Muss man beruhigen, die Frau. Am besten einfach irgendetwas Belangloses erzählen. »Vorhin habe ich eine junge Polin getroffen, die will nach Polen, denk dir nur. Welch ein Unterfangen, die tut mir richtig leid.« Oh weh. Liebe und Hass sollen ja ganz eng verbundene Nachbarn sein. Hätte ich bloß nicht mit dem Beruhigen angefangen. Gleich platzt Carola.
»Du Schuft! Du Mädchenhändler! So, die Schickse tut dir leid, ja? Du Schmock!«
So geht das nicht, denke ich und es läuft mir heiß und kalt über den Rücken. Man kann nur eines tun, damit sie wenigstens den Mund hält: sie küssen. Das schadet am wenigsten. Ihre Fäuste treffen meine Brust, meinen Hals und mein Gesicht, das wieder zu pochen beginnt. »Aua!« Sie schweigt wenigstens. Na also, geht doch. »Himmel, tut das weh! Musst du so zuschlagen?« Ich schiebe sie ein wenig von mir. »Tu mir den Gefallen und sieh mich bitte genau an. Ganz genau!«
Sie erkundet mein Gesicht wie ein Ringarzt den angeschlagenen Boxer.
»Tut mir leid, ich wollte nicht ...« Sie versucht zu lächeln. Dann tritt sie einen Schritt zurück und betrachtet den fremden Mantel, den ich trage.
»Hm, der Mantel ist neu, hast du den geklaut?«
»Ach, klauen würde ich es nicht gerade nennen. Sagen wir mal geborgt. Meinen habe ich nämlich vor unserem Haus verbrannt. Und das Jackett habe ich weggeworfen, weil die Löcher von dem ... weil die Löcher der Naht zu sehen waren. Verstehst du?« Ich fahre mit der Hand über die Nase und atme ein. Dann wische ich die Hand an der Stelle des Mantels ab, an der normalerweise weithin sichtbar der Stern geheftet sein müsste, wo nun kein Stern mehr leuchtet. Carolas Gesicht wirkt von einer Sekunde zur nächsten aschfahl.
»Das hätte ich dir nicht zugetraut, Jakob.«
Sie nimmt mich bei der Hand und zieht mich von den Menschen weg, die ihr bei der Samaritertätigkeit zugeschaut hatten. Nur mit Mühe kann ich den Koffer aufnehmen, so zerrt sie mich mit sich. Wir bleiben an der Mauer neben einem Plakat stehen, auf dem Hitler für die großartige Zeit gedankt wird, die wir glücklichen Deutschen gerade erleben dürfen.
Der Junge mit den trüben Augen springt von der Mauer und zieht dem leblos Liegenden die Schuhe aus, den Carola gerade vergeblich behandelt hat. Dann steigt der Junge in die viel zu großen Latschen hinein. Besser zu große Schuhe als keine, muss ich ihm recht geben. Der kann sicherlich alles gut gebrauchen, egal, was.
»Bist du denn meschugge?«, flüstert Carola. »Wie kannst du den Stern abnehmen? Wenn se dich nu kontrollieren?« Sie küsst meine unverletzte Gesichtshälfte wieder und wieder.
»Das macht nichts. Dann bin ich eben der Deutsche Adolf Kleingeist oder so. Hitlers willfährige Helfer werden augenblicklich bestimmt Dringenderes zu tun haben, als nach Juden zu suchen und Ausweise zu kontrollieren. Falls doch, ist die Rübe so oder so ab. Vielleicht erschießen sie mich ja auch bloß, soll ja recht angenehm sein, habe ich gehört, Carola.« Nach und nach werde ich ihr erzählen, was geschehen war. Muss ja nicht gleich in der ersten Minute mit der Tür ins Haus fallen und beschreiben, was ich so vorhabe.
Sie boxt mich in die Seite und streicht über den Mantelstoff.
»Gute Qualität. Also tatsächlich geklaut.«
»Nein. Ja. Nicht direkt geklaut! Vor einer brennenden Bonzenvilla habe ich einige Koffer gefunden und in einem davon steckte die Jacke und dieser Mantel. Meine Sachen sind alle zu Hause verbrannt.«
»Hast du es gesehen?«, fragt sie leise.
»Ja. Nicht lang nach dem zweiten Angriff stand ich vor der Ruine. Wenn du dich nicht geweigert hättest, dort in den Keller zu gehen ...«
»Ja. Wo warst du nur während des Angriffs? Als ich in das Haus in der Zeughausstraße eintreten wollte, hat es geknallt und weg warst du. Mich hat ein Mann, der direkt vor mir stand, in den Arierkeller gezogen und bums war die Tür zu. Die Leute dort drinnen wollten mich auf gar keinen Fall rauslassen, um dich zu suchen. Ich habe mich schrecklich geschämt vor Angst. Wo warst du denn geblieben?«
»Na, wo schon. Hinten im Hof im Judenkeller, was glaubst du denn?«
Sie presst die Faust gegen die Lippen.
»Mach jetzt keine schlechten Witze, Jakob. Dort ist alles zerstört. Den Verschlag gibt es gar nicht mehr.«
»Ja, das habe ich auch gesehen.«
»Jank ... mach mich nicht rasend! Wenn du in dem Keller gewesen warst, wieso hast du dann gesehen, dass er zerstört ist?«
»Na, ich bitte dich. Wenn man bei so einem Volltreffer dabei ist, sollte man doch am besten wissen, was geschehen ist. Oder?«
»Dann ist man tot und kann nichts mehr wissen.«
»Carola, sei nicht gleich so dramatisch. So eine Bombe weiß ja nicht, was sie tut. Gut, sie macht alles kaputt. Mich selbst hat sie in Einzelteile gesprengt, aber bei mir heilt so etwas rasch«, lächle ich sie an. »Ach richtig, meinen Hut habe ich dabei verloren. Was soll’s, das war wirklich ein alter Hut. Dafür hatte ich ja die Kappe, und die habe ich ja dem Polen ...« Au verdammt, fang ich schon wieder damit an. Wenn ich Carola erzähle, wem ich die Kappe geschenkt habe, gibt’s gleich Zunder.
Carola tritt einen Schritt zurück betrachtet mich eindringlich.
»Wer bist du und was hast du mit dem wahren Jakob gemacht?«
Ich schaue kurz zu Boden.
»Der wahre Jakob ist tot. Ich bin der wahre Kurt. Zumindest mal eine Weile lang.«
»Was soll der Blödsinn? Natürlich, du bist ja am Kopf verletzt. Ist es sehr schlimm?«
Carola greift wie eine Oberschwester nach meiner Hand, und normalerweise hätte ich ihr sofort alles erklärt, nur dazu muss man erst mal die richtigen Worte finden. Und die brennenden Ruinen um uns herum sind der falsche Rahmen für ein klärendes Gespräch. Dafür hätte ich Kerzenlicht und Champagner vorgezogen. Nun ja, Kerzenlicht hat in den vergangenen Monaten öfter mal unsere Hauptbeleuchtung ausgemacht, und mit dem Champagner hapert es seit Jahren.


Meinen letzten Champagner hatte ich im März 1933 in Zürich genossen, während eines juristischen Kongresses. Das heißt logischerweise abends, nach dem Kongress. Und in absoluter Nüchternheit hatten mich mehrere Kollegen beschworen, nicht nach Deutschland zurückzukehren, weil der Antisemitismus Hitlers jedem klar sein müsste. Die Phrasensammlung, die er während seiner Landsberger Festungshaft verbrochen hatte, war gemeinhin bekannt. Ich hatte den Unsinn gelesen, ohne daran zu glauben. Jetzt weiß ich, er hat alles detailliert angekündigt, was er später wahr gemacht hat. Was haben wir in Zürich gelacht über die rassischen Neidhammel mit den Hosen voll Angst, ob nicht vielleicht Juden und Neger tatsächlich größere Glieder hätten!
Zunächst hatten die Lumpen ja reichlich damit zu tun, die politischen Gegner auszumerzen, wie man sich auszudrücken beliebte. Und wir Juden kämen ganz sicher ebenfalls bald an die Reihe, beteuerten meine Kollegen. Ich wollte dies partout nicht wahrhaben. Und wirklich wissen wollte dies sowieso niemand. Ich hatte stattdessen kräftig über das Gesindel in ihren kackbraunen Uniformen gelacht. Dann fuhr ich nach Dresden zurück. Und kurz darauf lachte ich nicht mehr.
Lange habe ich nicht mehr so richtig von Herzen gelacht. Aber heute muss es einfach mal sein, weil Carola sich wundert, was es mit meinem Geisteszustand auf sich hat. Trotz Chaos, Tod und Verderben rings um mich herum, lache ich sie an.
Die vergangene Nacht hat aus mir geprügeltem Hund einen relativ gelassenen Menschen gemacht. In den vergangenen Jahren hatte ich Angst. Angst vor allem Möglichen. Ich hatte mich gefühlt, wie ein räudiger, von jedem getretener Köter. Seitdem ich mich für jemanden engagiere, wenn auch einem Toten gegenüber, dem ich ein Versprechen gegeben habe, fühle ich mich erstmals seit Langem als normaler Mensch.
Seitdem ich den Koffer aus der Dresdner Bank mit mir durch die Dresdener Hölle schleppe, hat sich mein für mich sprichwörtlicher Fatalismus verabschiedet. Und seit ich Carola gefunden habe, fühle ich mich sogar bereit, den schwammigen Begriff Glück wieder ins Kalkül zu ziehen.
»Schau mich nicht so traurig an, Carola. Ich bin ganz normal. Wenn wir jetzt ein bisschen Massel haben, kann uns diese herrliche Zeit nicht mehr viel anhaben. Ich werde dir alles erzählen, das verspreche ich dir. Erst einmal müssen wir über die Brücke auf die andere Seite der Elbe. Das ist für uns lebensnotwendig.«
»Was willst du dort?«
»Etwas sehr Bedeutsames für unsere Zukunft besorgen. Etwas Lebenswichtiges. Schau mal, unser bisheriges Leben ist zerstört. Nicht nur die Wohnung. Alles.« Ich mache eine Handbewegung, als würde ich mich am Herzen kratzen.
»Ja, das habe ich begriffen.«
»Heute im Chaos wird hoffentlich kein Mensch nach unseren Papieren fragen. Und wenn, dann heißen wir Anders und unsere Wohnung in der, sagen wir mal, Wilsdruffer Straße ist zerstört. Nein, besser in der Prager Straße, da steht nämlich gar nichts mehr. Sagen wir, in Nummer zwölf hätten wir gewohnt und den Angriff im Albertinum überlebt, weil wir dort in der Nähe gewesen wären, als es losging.«
»Aber, Jakob, du dürftest doch nachts gar nicht raus.«
»Weshalb nicht?«
»Na weil du, ach so, der Stern ist ja weg. Daran muss ich mich erst gewöhnen.«
»Das wäre fein. Und ebenso fein wäre es, wenn du mich ab sofort Kurt nennen würdest.«
»Wieso Kurt?«
»Weil es den Jakob Löwenthal nicht mehr gibt. Zumindest für eine Weile nicht mehr. Später müssen wir dann mal sehen. Also bitte nicht mehr Jakob, sondern Kurt.«
»Kurt. Geht klar, mach ich. Ich bleibe Carola Löwenthal?«
»Um Himmels willen. Du heißt ab heute Ermine.«
»Oh, welch ein wunderschöner Name.«
»Na, stell dir vor, du würdest Adolfine heißen.«
»Oh Gott Agathe.«
»Wieso Agathe? Adolfine habe ich gesagt.«
Carola neigt den Kopf ein wenig.
»Vergiss es. Wie heißen wir denn nun überhaupt?«
»Anders.«
»Ja, Jak ... hm ... Kurt. Dass wir nun anders heißen habe ich kapiert. Aber wie?«
»Himmelherrgottnochmal! A N D E R S! Nicht im Sinne von unterschiedlich sondern als Eigenname. Kurt und Ermine Anders!«
»Deswegen brauchst du nicht so zu schreien. Ich höre recht gut.«
»Wundervoll. Wir haben keine Papiere, weil die in meiner Aktentasche in der Wohnung verbrannt sind. Aber im Koffer habe ich Unterlagen; Arbeitsbuch, Sparbuch und so weiter, darin ist kein Foto eingeheftet. Kann uns also keiner. Und halt dich fest, sogar ein Ahnenpass ist im Koffer. Wer wird denn schon so etwas mit sich herumtragen, wenn nicht der wahrhafte Besitzer?«
»Ein Ahnenpass?« Carola wirkt sehr verwirrt.
»Klar. Hier in diesem Koffer. Und ich verspreche dir, jeder Polizist, dem ich das Ding unter die Nase halte, bohrt sich lieber darin, als in meiner Vergangenheit. Du musst das praktisch sehen. Solange diese Phrenesie in Deutschland noch weitergeht, könnte solch ein dämliches Ding glatt ein Menschenleben retten. Und wenn der Spuk vorbei ist, sehen wir weiter. Ich möchte einfach nur überleben. Mit dir!«
»Das ist nett. Wo hast du die Unterlagen und den Koffer her? Geklaut?«
»Du weißt ganz genau, dass mir Klauen nicht liegt. Und nachdem du mich vor der Dresdner Bank eindringlich gebeten hattest, nicht wieder wegzulaufen, habe ich die Bank betreten.«
»Was habe ich gemacht?« Carola blickt mich entgeistert an.
»Na, ich habe deine Stimme gehört und bin der gefolgt.«
»Ach ja? Brav, solltest du immer tun.«
»Ja, Pustekuchen. In der Bank ist mir dann der wahre Kurt Anders begegnet und hat mich gebeten, diesen seinen Koffer zu nehmen und so zu tun, als wäre ich er.«
Carola schaut mir in die Augen und hebt die Brauen. »Doch, klingt alles sehr wahrscheinlich. Verstehe ich vollkommen. Es ist ja völlig normal, dass ein Mensch mit deutschen Papieren im brennenden Dresden sein Gepäck und diese lebensnotwendigen Papiere irgendeinem Juden in die Hand drückt, damit der seine Haut retten kann. Muss ja jeder begreifen. Nicht wahr?«
»Nein, Carola. Quatsch, Ermine, ganz so war es nicht. Der Mann war schwer verletzt. Direkt vor meinen Augen hat ihn ein brennender Balken getroffen. Ich habe erst ihn in die Bank geschleppt und dann auf seinen Wunsch hin den Koffer. Und er hat mich aufs Innigste darum gebeten, diesen Koffer mitsamt dem Inhalt zu seiner Familie nach München zu bringen. Ich habe ihm dies versprochen. Ich konnte nicht anders handeln.«
»Nach München. Selbstverständlich. Liegt ja buchstäblich gleich um die Ecke, also nichts wie hin. Bloß vorher noch schnell auf die andere Seite der Elbe, hast du gesagt. Willst du da etwas Besonderes? Ist es von dort aus kürzer bis nach München? Oder stehen an jener Stelle Taxis? Du kommst mir gänzlich fremd vor, schon allein die Art, wie du redest.«
»Ich weiß, dass das alles viel zu schnell geht, Carola, nein Ermine. Oh je, das ist mir zu blöde. Wenn wir allein sind nennen wir uns bei unseren richtigen Namen, ja?«
»Ich tu alles, was du willst. Wenn ich geahnt hätte, dass ich mir tausend Sorgen um dich mache, während du Theater spielst und für wildfremde Menschen quer durchs Reich reisen möchtest, hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Carola, nach zwölf Jahren Hundeleben habe ich heute Nacht beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Ich will nicht mehr kuschen. Ob ich die Aufgabe, den Koffer nach München zu bringen, schaffe, weiß ich nicht, aber ich bin mir selbst wieder etwas wert. Dieses Versprechen möchte ich einlösen, mein Wort halten und wenn es irgend geht, überleben in unserer verantwortungslosen Zeit.«
»Ach du guter Mensch von Sezuan. Mit der Nummer könntest du im Staatstheater auftreten.«
»Das existiert nicht mehr, also spar dir deinen Sarkasmus. Es geht nicht darum, ob ich gut oder schlecht bin. Es geht ausschließlich darum, dass ich ein ganz normaler Mensch unter anderen Menschen sein möchte. Und wie jeder andere ganz normale Mensch möchte auch ich mein Dasein retten. Und da mir nun der Zufall behilflich zu sein scheint, möchte ich diese Chance nutzen. Möglicherweise ist es verwerflich, doch nichtsdestotrotz ist es absolut menschlich. Magst du mit mir kommen?«
»Natürlich, du dummer Kerl.«


2.

Mittwochmorgen. 14. Februar 1945. Aschermittwoch, welch bezeichnender Name für diesen Tag, an dem ganz Dresden in Schutt und Asche liegt. Es regnet in Strömen. Nicht mehr wichtig, denn uns ist erstaunlicherweise im Bombenhagel und Flammeninferno nicht nur nichts Arges geschehen, sondern wir haben uns im Chaos zum Glück auch wiedergefunden. Wir verweilen noch einige Zeit und Carola hört nicht auf, mein Gesicht abzuküssen.
»Wenn ich gewusst hätte, dass ein Rebell in dir steckt, Jakob, wäre ich schon längst mit dir in den Untergrund gegangen.«
»Das steht uns nun sowieso bevor, ob München oder nicht. Aber bei allem, was geschieht, dürfen wir nie mehr den Mut verlieren oder die Hoffnung aufgeben, Carola-Ermine. Eigentlich eine gute Idee. Ein Doppelname ist gar nicht schlecht. Solange unser Kopf funktioniert und wir uns bewegen können, wird sich bestimmt selbst in den scheußlichsten Momenten eine Gelegenheit bieten uns zu wehren.«
Die Situation bleibt trotz meiner Zuversicht grotesk. Gemeinsam unterliegen wir einer beinahe doppelt so großen Gefahr, von irgendeinem Menschen erkannt zu werden. Und den so ungeheuer zahlreich vertretenen Denunzianten in der einfachen Bevölkerung gäbe dies reichlich Gelegenheit, ihrer geliebten Pflicht nachkommen zu können. Zumal jetzt, wo ich den Stern abgelegt habe, eigentlich Carola mich verraten müsste. Jetzt ist sie genauso in Gefahr wie ich.
»Du musst nicht mit mir kommen, Carola. Deswegen frage ich dich, willst du dein geliebtes Dresden wirklich wegen mir verlassen?«
»Ja, natürlich, wieso fragst du erneut?«
»Du hast in den vergangenen Jahren nicht einmal einen Ausflug machen wollen. Selbst der Dippelsdorfer Teich war dir zu weit weg. Jetzt mal ganz ernsthaft, Carola. Ich kann nicht versprechen, dass es tatsächlich so simpel werden wird, wie ich hoffe. Es wird Einschränkungen und mit Sicherheit Schwierigkeiten geben. Wir werden tagelang nicht vernünftig schlafen können. Wir werden uns unter gewissen Umständen manchmal nur nachts weitertrauen können, während Bomben fallen, weil sich dann Polizei, SS und Feldjäger in ihren Bunkern verkrochen haben werden. Wir werden nur sehr wenig zu essen haben und frieren werden wir wie die Schneider. Ist dir das klar?«
»Klar! Wobei festzustellen wäre, dass hier und heute nicht nur Schneider frieren. Schlafen können wir seit Jahren nicht mehr richtig wegen der Alarme«, mokiert sie sich. »Die ganze Mischpoche hat uns zwölf Jahre lang nicht in Ruhe gelassen, die können mich jetzt so kurz vor dem Ende, auch nicht mehr beeindrucken. Du hast ganz recht. Und hungern und frieren müssen wir schon seit 1942. Wo ist da ein neuer Aspekt?«
»Da ist kein neuer Aspekt. Nein halt, es gibt einen. Ich bin Jude und trage meinen Stern nicht. Ich habe mich entschlossen, nicht länger in der Herde mitzulaufen und stelle mich gegen die Vorschrift. Du weißt, dass ich den Stern tragen muss. Und du bist dazu verpflichtet, mich zu melden. Andernfalls bist du mit mir dran. Das möchte ich nun wiederum nicht!«
»Brüll noch ein bisschen lauter!«, ermahnt mich Carola. »Süßes Jüdlein, du hast vorhin selbst gesagt, dass dir kein Mensch außer unseren Bekannten innerhalb von Dresden beweisen kann, dass du Jakob Löwenthal bist. Und hungern müssen wir vorläufig nicht. Schau mal, was ich uns mitgebracht habe.«
Carola greift meine Hand und drückt sie an ihre linke Brust. Aber doch nicht jetzt! Ich spüre unter Carolas Brust ganz genau die Umrisse eines Brotbeutels. Carola lächelt und schiebt meine Hand wieder zur Hüfte.
»Das ist ein Brotbeutel, den habe ich einem Soldaten abgenommen, der tot in irgendeinem Hausflur gelegen hat, ganz instinktiv. Nein, das ist Blödsinn, der hat natürlich nicht instinktiv in einem Flur gelegen, sondern ich habe ... ach egal. Also, was haben wir zu verlieren? Nichts. Freiheit ist der Zustand, in dem man nichts mehr zu verlieren hat, hab ich einmal gehört. Und wer dies behauptet hat, hat recht. Komm, wir machen uns auf den Weg.«
Carola und ich halten uns an den Händen, während wir gehen, und ich erzähle ihr nun detailliert von der Begegnung in der Dresdner Bank und dem Versprechen, nach Bayern zu gehen. Unvermittelt bleibt Carola stehen.
»Eine Tante von mir lebt ich Hof, kann ebenso eine Großtante sein, was weiß ich. Das wäre zumindest erst mal ein Ziel. Ob Tante Fanny sich über unseren Besuch freut, kann ich allerdings nicht sagen.«
Wir lassen uns im Menschenstrom das Elbufer entlangtreiben, bis wir den Schlossplatz erreichen. Wir wollen versuchen über die Augustusbrücke ans rechtselbische Ufer zu kommen und haben während unseres Wegs kindische Pläne geschmiedet.
Am Ende des Dampferlandeplatzes taucht urplötzlich Blumenthal vor uns auf. Seine Angehörigen hat er bislang nicht gefunden. Das Töchterchen schlummert auf seinem Arm. Blumenthal blickt entgeistert auf meinen sternlosen Mantel. Er schüttelt verständnislos den Kopf und beginnt zu weinen.
»Wie können Sie nur? Und Ihre liebe Frau ziehen Sie mit ins Unglück. Nein, kommen Sie mir nicht zu nahe! Ich will nichts damit zu tun haben!« Blumenthal geht zwei Schritte und spricht zaghaft. »Gleich wird das Kind wach werden und Hunger haben. Ich selbst hätte gern eine Tasse Tee und ein bisschen Frühstück - was soll ich nur machen?«
»Das weiß ich leider auch nicht. Keine Ahnung«, antworte ich und spüre selbst, wie der Hunger im Bauch sich meldet. Carolas Marken sind ja verbrannt. Und auf ihren Namen hin neue zu beantragen, passt nun wieder nicht zu unserer neuen Identität. Wir verfügen lediglich über Carolas Brustbeutel, Unfug, ich meine natürlich Brotbeutel. Brustbeutel klingt allerdings nicht schlecht, denke ich und muss lachen.
Blumenthal schaut mich gekränkt an und lässt uns dann grußlos stehen.
»Warum hast du ihn ausgelacht?«, fragt Carola böse. »Du hast doch gesehen, der Mann ist fertig. Ich wollte ihm gerade ein wenig aus dem Brotbeutel anbieten. Du bist herzlos.«
»Gut, bin ich eben herzlos. Weshalb soll ich für irgendjemand Mitleid empfinden? Ich will nicht mehr an andere und für andere vor- oder nachdenken, nur noch für uns beide. Und wenn ich mich nicht täusche, werden wir mit uns selbst bis auf Weiteres mehr als genug zu tun haben. Ich habe zwar Freunde auf der ganzen Welt, aber leider keinen einzigen wirklichen Freund in diesem beschissenen Land. Halt den Mund, ich darf so reden. Da du mit mir verheiratet bist, hast du ebenso Freunde in der ganzen Welt. Wenn wir es bis zu denen schaffen wollen, müssen wir überleben. Nicht nur leben, sondern überleben. Das könnte nicht nur schwierig werden, sondern hat zwingend zur Folge, dass wir ab heute nur an uns selbst denken dürfen. Sich möglichst auf niemanden verlassen. Blumenthal hätte genauso wie ich den Davidstern entfernen können. Er hätte etwas tun können, statt wie alle anderen genügsam zu parieren. Wenn jetzt, in dieser Sekunde, irgendein Parteiheini den Blumenthal nach mir fragen würde, was glaubst du wohl, wie würde seine Antwort ausfallen? ›Der Jude Jakob Israel Löwenthal steht mit seiner nichtjüdischen Frau dort drüben und er trägt seinen Judenstern nicht!‹ Das würde er sagen, funktionieren würde er - wie alle.«
»Was ist mit dir geschehen, Janke ... Jak ... Kurt? Du bist so anders, so deutlich. Wo ist deine Devotion? Wo dein angstvoller Fatalismus? Wo ist denn plötzlich deine - entschuldige - bodenlose Feigheit geblieben?«
»Weg. Ist alles verschwunden. Ich bin nicht mehr unterwürfig! Ich bin nicht mehr gehorsam! Ich funktioniere nicht mehr! Ich tue nicht mehr das, was andere von mir verlangen. Ich werde mich künftig wie der Götz verhalten! In den vergangenen zwölf Jahren hat man versucht mein Rückgrat zu brechen, hat mir manch idiotische Doktrin versucht einzupressen - und ich habe sie rausgeschissen, als ich in der Dresdener Bank stand und deine Stimme gehört habe.«
»Was habe ich dir denn so Großartiges mitgeteilt?«
»Eben genau dies, Carola. Vergiss es im Moment! Ich werde dir das alles später erklären. Bitte glaube mir, ich werde dir alles erklären, nur nicht jetzt und nicht hier. Lass uns zunächst mal auf die andere Seite der Elbe gehen.«
»Wir könnten ja in die Pulsnitzer Straße gehen. Zum jüdischen Friedhof.«
»Keine gute Idee, alles Jüdische sollten wir für eine Zeit umgehen. Allerdings habe ich dort in der Nähe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Also los, es sieht nicht so aus, als würde auf der Brücke kontrolliert. Ich glaube, wenn wir erst den Albertplatz hinter uns haben, dürfte der restliche Weg ungefährlich sein.«
»Was heißt keine gute Idee? Wir waren schon lange nicht mehr dort auf dem Friedhof in der Pulsnitzer.«
»Tja, das war mal ein guter Treffpunkt.« Ich hole tief Atem. »Für Juden.«
Pause. Lange Pause.
»Ach so«, sagt sie. »Du gehörst ja nicht mehr dazu. Muss ich mich wirklich erst richtig dran gewöhnen.«
»Ich werde mich an meine Leute stets erinnern. Aber im Augenblick müssen wir alles verdrängen, was irgendwie jüdisch ist. Ausschalten. Vielleicht sogar ablehnen, wenn wir überleben wollen. Ich muss an Bruno denken.«
»Wieso?«
»Wenn in diesem Moment einige schreien würden ›Juden raus!‹, dann würde ich lauter schreien als die anderen. Nur um nicht aufzufallen.«
»Na hör mal!«
»Nix hör mal. Und außerdem, wer soll den jüdischen Friedhof besuchen? Wer von uns ist denn noch da?«
Es dauert unendlich lange, bis Carola mich wieder ansieht. »Meinst du, sie sind verloren?«
»Ich kann es nicht ändern. Meister Ehrhardt hat mir heute Morgen, nein gestern Morgen anvertraut, dass jetzt die mit Ariern verheirateten Juden vermutlich bis zum Wochenende ins Gas geschickt werden.«
Carola hält mich am Ärmel und bleibt stehen. »Davon hast du mir nichts erzählt. Wer hat das gesagt?«
»Bäckermeister Ehrhardt, der hat mir das Brot und die Brötchen geschenkt, erinnerst du dich? Und er weiß es aus sicherer Quelle. Wer soll denn da noch helfen? Das könnte nur jeder für sich selbst tun. Carola, bitte, bevor du mich verachtest, hör mir bitte zu. Ehrhardt hat mir einen Brief zu lesen gegeben. In dem Brief hat ein SS-Mann aufgeschrieben, was an der Rampe des KZ Birkenau täglich geschieht. Den Brief habe ich vernichtet, aber ich kann dir schildern, was darin steht.«
Ich lerne komischerweise ungemein schnell auswendig und informiere Carola über den Inhalt des Briefes wahrscheinlich wörtlich aus dem Gedächtnis. Während ich rede, weint Carola immer mehr. »Niemand kann jetzt noch irgendetwas ändern«, füge ich hinzu. »Wir Menschen haben versagt. Denk an unsere Freunde. Es waren sehr kluge Menschen darunter. Wie oft haben wir uns über die Zukunft unterhalten - nunmehr unsere Vergangenheit. Und haben geglaubt. Viel zu viel an die Vernunft der Menschen geglaubt. Auch wir beide, Carola, haben fest daran geglaubt, es würde so schlimm nicht werden - letztendlich sind wir Deutsche wie alle anderen. Entsinnst du dich, wie ich aus Zürich zurückgekommen bin? Und gelacht habe? Ja?«
»Hm.« Carola atmet hörbar aus, Tränen rinnen aus ihren Augen.
»Ja genau, hm. Ich würde gerne allen helfen, Carola, wirklich. Es geht nicht. Wir können höchstens, wenn überhaupt, uns selbst helfen. Wenn wir aufhören zu glauben und endlich damit beginnen zu denken!«
Carola weint weiter und ich lasse sie weinen. Vielleicht hilft es ihr ja. Schließlich trocknet sie die Tränen, küsst mich und sucht nach meiner Hand, um weiterzugehen. Ich greife den Koffer und folge ihr. Der Wind bläst feuchtkalt über die Augustusbrücke.
An der Augustusbrücke selbst halten sich die Schäden in Grenzen. Aber dass die Wohnhäuser mit den vielen Zivilisten darin umfassend zerstört wurden, finde ich besonders bezeichnend. Militärisch nutzbare Brücken verschonen die Alliierten. Könnte man glatt drüber lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre.
Vom Blockhaus links der Brücke ragt lediglich ein Eckpfeiler, einem erhobenen Zeigefinger gleich, allein in den Himmel. Und rechts daneben das Finanzministerium brennt immer noch lichterloh. Klar, die unzähligen Akten und Massen von Unterlagen bieten den Flammen reichlich Nahrung.
Wir überqueren den Neustädter Markt und wollen die Hauptstraße entlang bis zum Albertplatz gehen, doch dieses Vorhaben erweist sich als aussichtslos. Hier auf der Neustadtseite haben die Angriffe ebenso viel zerstört wie auf der Altstadtseite. Vielleicht kommt mir dies allerdings nur so vor. Es ist ja oft so, dass einem dort, wo man sich gerade befindet, alles viel schlimmer vorkommt als anderswo, wo man nur von Weitem hinschaut.
Die Hauptstraße entlang können wir nicht gehen, also versuchen wir, am Königsufer vorbei in die Nähe des Carolaplatzes zu gelangen, möglicherweise sogar bis zum Skagerrakplatz und von dort aus die Bautzner Straße zu erreichen. Bei aller Chuzpe, die in mir ist, möchte ich trotzdem unbedingt so schnell wie möglich in die Forststraße und den Pass des Kurt Anders ändern lassen. Und dann raus aus Dresden.
Wir laufen nun wiederum am diesseitigen Ufer der Elbe zurück, passieren das lodernde Finanzministerium und erreichen die Carolabrücke. Zu dumm, hätten wir die Zerstörung des rechtselbischen Dresdens geahnt, hätten wir uns den Umweg über die Augustusbrücke sparen können. Der Verkehr über die Carolabrücke läuft nur sehr schleppend, vielleicht hat die Brücke etwas abbekommen? Auf der gegenüberliegenden Seite des Carolaplatzes steht das Zelt des ›Zirkus Sarrasani‹ und ich fühle ein Kribbeln bei dem Gedanken, dass hier gestern Abend noch eine Vorstellung zur Unterhaltung der Leute stattgefunden haben muss. Wie viele der Besucher mögen nun nicht mehr am Leben sein?
Vom Zirkus in den Tod - Brot und Spiele!
Menschenmengen ziehen auch an dieser Seite des Elbufers hin und her. Wie mögen diese Ameisenwanderungen rechts und links des Flusses wohl aus der Luft wirken? In der Menge mitgeschoben bewegen wir uns weiter. Wir erreichen den Staudengarten am Skagerrakplatz. Ich betrachte die Häuserzeile, die aus Sicherheitsgründen oberhalb möglicher Flutwellen des Flusses gebaut worden war. Das hat vor der Flutwelle der Bomben aus der Luft aber nichts geholfen, selbst bei genauestem Hinsehen kann ich nur Ruinen erkennen. Süßlicher Geruch verbrannter Leichen liegt über dem Ufer, an dem sich ebenfalls unzählige Menschen niedergelassen haben. Und ebenso wie drüben wogen die Menschenmassen auf der schmalen Uferstraße ziellos hin und her.
In schlammiger, von vielen Tausend Füßen matschig getretener Erde stecken zahllose ausgebrannte eckige Metallhülsen: Stabbrandbomben - eine durch und durch deutsche Erfindung. Spontan muss ich an Coventry denken - dort hat es damals gewiss nicht anders ausgesehen. Und das hier war sicherlich die Rache dafür. Bei allem, was bereits geschehen ist oder uns vielleicht sogar noch blühen wird, dürfen wir niemals vergessen - Deutsche haben angefangen!
Aus vielen Häusern an der vornehmen Straße über uns schlagen Flammen. Bisher hatte ich angenommen, dass zuallererst bei den wohlhabenden Parteigrößen gelöscht werden würde, aber anscheinend gibt es nicht einmal mehr dort oben genügend Löschwasser. Na ja, diese Damen und Herren werden bestimmt schnell einen Weg finden, ihre - auf welche schmutzige Art auch immer - zusammengerafften Vermögen wiederzubekommen.
Carola drückt meine Hand so fest, dass es schmerzt. Es liegen von der Hitze ausgedörrte, scheinbar geschrumpfte Leichen im Matsch und auf den Wegen. Nur wenige der zahllosen Leichen sind unversehrt. Einzelne Gliedmaßen liegen verstreut. Ein Bein. Ein Fuß. Arme. Hände. Das Fragment eines einzelnen Kopfes klebt am Boden, in der Pfütze Gehirnmasse. Ein Vogel pickt darin. Wie und wo das Tier die Nacht überlebt haben mochte, sein Leben geht weiter.
Carola bleibt stehen und betrachtet eine im Matsch liegende Hand, die eine abgebrannte Stabbrandbombe umfasst hält. Der Rest des Körpers ist nicht zu entdecken. Weshalb hält diese feingliedrig zarte Hand das Gerät fest? Einige Schritte weiter liegt die zu einer schwarzen Kruste verbrannte Leiche eines Menschen, dem der Brandsatz noch im Leib steckt. Beide Hände umschließen die Bombe, die offenbar nicht mehr aus dem Körper zu zerren war. Wen haben diese Hände wohl gestreichelt oder je nach Stimmung sanft oder fest angefasst? Ich ziehe Carola vorwärts.
Der Skagerrakplatz ist großräumig abgesperrt. Kein Durchgang. »Weitergehen!«, ordnet ein Stahlhelmträger in langem Ledermantel an und unterstreicht seinen Befehl mit der vor den Bauch gehaltenen Maschinenpistole. »Weitergehen, hier gibt’s nüscht zu sehen.«
Ein in schmutzigem Kampfanzug gekleideter Soldat mit Sturmgepäck auf den Schultern und einem übergehängten Gewehr will anscheinend den Stahlhelmträger beiseitedrängen. »Ich muss durch.«
Der Bedrängte ist mindestens einen Kopf größer als der Soldat und sich dieser Überlegenheit bewusst. »Da muss geener durch!«
»Ich wohne doch hier.«
»Hier wohnt ooch geener mehr. Abmarsch, bevor ich Pilzfleesch aus dir mach.« Der Größere steht breitbeinig und grinst ebenso breit. Eine schier unüberwindbare Sperre. Er nestelt demonstrativ an seiner Waffe.
Mit einer ungeheuren Behändigkeit schwingt der Soldat das Gewehr von der Schulter, spannt und entriegelt das Schloss und zielt mit dem Lauf des Gewehrs auf den Kopf unter dem Stahlhelm, der die Hände von der MP nimmt. Der Landser wedelt leicht mit dem Gewehrlauf.
»Mach dich aus dem Weg, du alberner Spargel. Für einen Arsch wie dich habe ich nicht im Orelbogen den Kopf hingehalten. Na los, beiseite, Kerl, oder du bist gleich ein Sieb! Ruki werch! - gewöhn dich langsam an den Ausdruck. Wenn die Russen demnächst eintreffen, wird das Standard.«
Das Gesicht des Hünen wirkt aschfahl, die Mundwinkel zucken. Er hebt brav die Hände und der Landser weist mit dem Kinn voraus.
»Dreh dich um, du Scheißer. Du gehst mir voraus. Wenn du zuckst, bist du tot.«
So etwas habe ich noch nie gesehen. Die umstehenden Menschen anscheinend auch nicht. Am liebsten hätte ich spontan Beifall geklatscht. Unglaublich.
Ein gepflegt wirkender Offizier mit viel Lametta und Silber auf den Schultern und einer jungen Frau am Arm nähert sich. Er wirkt wie ein wandelnder Weihnachtsbaum. »Was geht hier vor?«
Der Lange mit den erhobenen Händen schöpft wohl Hoffnung, denn er lässt spontan die Arme ein wenig sinken und spürt sofort das Gewehr im Rücken.
»Kusch!«, ruft der Soldat. »Mach das noch mal und du hast es hinter dir.«
Der Offizier wirkt leicht verunsichert. »Soldat, wissen Sie, was Sie da tun? Das kann Sie den Kopf kosten.«
»Ich habe schon mehr Scheiße überlebt als ihr Kasper alle zusammen.« Mit der freien Hand knöpft er den Mantel auf. »Da, Gefrierfleischorden, EK2, EK1. Mit Schwertern und Kranz. Glaubst du, die hätte ich für solchen Kindergartenkram bekommen, wie ihr hier den Leuten vormacht?«
Der Lamettaoffizier zeigt sich sichtlich beeindruckt. Er träumt insgeheim seit Jahren vom Eisernen Kreuz und ärgert sich maßlos, dass er seit Kriegsbeginn ausschließlich mit der Formung des Heldennachwuchses betraut ist. Mittlerweile bildet er Schuljungen und zittrige Greise zu Volkssturmgruppen aus und weiß, dass er so kaum zu dem begehrten Stückchen Blech kommen wird. Er tritt zu dem schmutzigen Soldaten. »Das konnte der Kamerad doch nicht wissen. Entschuldigen Sie bitte, Kamerad. Worum geht es denn überhaupt?«
»Ich habe einen Tag Urlaub bekommen, um zu heiraten. Um 11 Uhr müssen wir auf dem Standesamt sein. Meine Frau, also meine zukünftige Frau, wohnt dort drüben. Durch den dämlichen Angriff geht kein Zug mehr pünktlich und ich will jetzt schnell meine Frau abholen, damit wir den Termin einhalten können und dieser Hanswurst will mich nicht durchlassen.«
»Ihre, hm, Verlobte wohnt hier?«
»Ja, drüben, Nummer 16, erster Stock.«
Schweigen. Das Gesicht unter dem Stahlhelm zuckt. »Hier ist sehr viel zerstört und es liegen noch zwee Blindgänger dort. Deswegen haben wir den Platz gesperrt. Und bis die Zwangsarbeiter da sind, um die Bomben zu entschärfen, darf niemand durch.«
»Es ist sehr viel zerstört?« Der Soldat lässt kurz den Blick schweifen.
»Ja, Mensch, mach die Oogen uff! Da gibt es nüscht mehr. Auch keene Nummer 16, du dämlicher Frontaffe.« Der Hüne senkt die Arme und grinst breiter als vorhin. Ein Schuss knallt. Der eben noch grinsende Mann sinkt mit erstauntem Gesichtsausdruck zu Boden. Der Soldat senkt das Gewehr und schießt erneut. Der Mensch am Boden zuckt ein letztes Mal. Dann herrscht Schweigen. Kein Muckser unter den Umstehenden.
»Das kann ich nicht durchgehen lassen.« Der Offizier wittert offenbar die Chance zu einer Heldentat und zieht nun seinerseits eine Waffe aus dem Halfter. »Ich nehme Sie fest. EK1 oder nicht, das war Mord. Geben Sie mir Ihre Waffe!«
Der Soldat schüttelt den Kopf.
»Ich gehe jetzt zum Haus meiner Frau. Wenn Sie wollen, dann erschießen Sie mich von hinten. Das wäre mir ganz recht.«
Er schreitet an der Leiche vorbei, das Gewehr pendelt am Riemen an seinem Arm, die Mündung schleift über den Boden. Welch eine Sinnlosigkeit. Ein weiterer Schuss knallt, noch einer. Die Waffe in der ausgestreckten Hand des Offiziers raucht leicht. Der Soldat liegt mit dem Gesicht nach unten am Boden.
»So weit sind wir also schon, dass wir unsere eigenen Leute erschießen!«, ruft eine Stimme. »In den Rücken schießen, das könnt ihr, und wehrlose Leute quälen. Aber sonst seid ihr zu allem zu feige.«
Der Offizier rührt sich nicht, obwohl er die Worte gehört haben muss. »Was hätte ich denn tun sollen? Es war doch meine Pflicht.«
Die junge Frau an seiner Seite tritt ein paar Schritte zurück. »Deine Pflicht wäre es, dich selbst zu erschießen. Du mieser kleiner...«
»Erika ...«
»Nichts mehr mit Erika!« Sie spuckt ihm ins Gesicht und verlässt den Platz durch den Ring der Zuschauer in Richtung Elbufer. Wir schauen ihr nach.
Wieder knallt ein Schuss. Der silbergeschmückte Ordensüchtige liegt ebenfalls am Boden. Aus der geplatzten Schädeldecke schießt Blut. Unglaublich viel Blut.


3.

Metallgerippe zerstörter Wagen versperren den Weg. Von einem ausgebrannten Schuppen steht lediglich der Rahmen der Tür. Manche Leute führen Bettzeug, Kleidung, Töpfe und Ähnliches auf Karren mit sich, andere sitzen auf Kisten und Ballen. Unzählige Menschen bewegen sich in Richtung Neustädter Bahnhof und ebenso viele Menschen strömen in die entgegengesetzte Richtung. Das heißt, genau genommen strömt hier rein gar nichts, sondern man schiebt sich langsam gegenseitig weiter und ist ständig träge unterwegs.
So viele Menschen, ganz Dresden muss schier überquellen von Leuten, Soldaten und Flüchtlingen aus dem Osten. Ob das die Alliierten nicht wissen? Und wenn sie es wissen, wie können sie so viele Flüchtlinge nur mit Bomben abschlachten? Das ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Das ist purer Massenmord. Mit jeder Minute scheint der Menschenstrom anzuschwellen. Wir schließen uns dem Strom elbaufwärts an und für die paar Hundert Meter vom Skagerrakplatz bis zur Löwenstraße benötigen wir endlose Zeit. Durch die Löwenstraße kommen wir wieder in normalem Tempo voran und erreichen letztendlich die Bautzner Straße. Carola möchte geradeaus weitergehen in die Pulsnitzer. Ich lenke unsere Schritte nach rechts. Ich will nicht zum Friedhof. Wäre ohnehin sinnlos. »Wir müssen in die Forststraße.«
»Warum müssen wir dorthin?«
»Das habe ich dir bereits zweimal gesagt, weil ich dort etwas sehr Wichtiges zu erledigen habe. In einem gelben Haus. Du wirst du schon sehen. Komm jetzt bitte.«
Die Forststraße hat kaum etwas abbekommen. Wir laufen die gepflasterte Straße entlang und suchen nach dem gelben Haus. Wir finden zwei gelbe Häuser, die sich rechts und links der Straße nahezu gegenüberstehen. Was nun?
»Welches von beiden suchen wir?«, will Carola wissen.
»Ich habe keine Ahnung. Damit habe ich nicht gerechnet.«
Ich setze den Koffer ab. Wo ist denn nun mein Massel geblieben? Habe ich zu viel gelästert?
»Was machen wir nun?«
»Das fragst du mich? Es war schließlich deine Idee. Würdest du mir jetzt vielleicht freundlicherweise erklären, worum es überhaupt geht? Was suchen wir denn?«
»Komm, setz dich mal zu mir. Der Koffer ist breit genug.«
Sie setzt sich neben mich.
»Ich habe dir doch von der Bank erzählt und dem Pass.«
»Ja.«
»Und hier in der Forststraße, in einem gelben Haus, können wir uns den Pass fälschen lassen, hat mir Kurt Anders erzählt. Na ja, nicht gerade fälschen, aber unsere Fotos können wir in den echten Pass hineinarbeiten lassen. Kurt Anders hat mir auch ausgeführt, was ich an der Tür des gelben Hauses sagen soll. Welches ist bloß das richtige Haus? Wenn wir das falsche Haus erwischen und ich meinen Text aufsage, wer weiß, was dann geschieht?«
»Was meinst du mit Text?«
»Na, ich klopfe erst mal Vau.«
»Was klopfst du?«
»Morsezeichen. Dreimal kurz und einmal lang. Victory. Radio London, weißt du?«
»Radio London? Seit wann hörst du London? Ich glaube, ich werde wahnsinnig! Du wirst mir so langsam unheimlich, Jakob.«
Ich winke ab. »Dann soll jemand die Tür öffnen und mich fragen, was ich wünsche.«
»Ja, und?«
»Wie und? Was mach ich denn, wenn der mich nicht fragt?«
»Dann wird’s ja wohl der Falsche sein.«
»Stimmt eigentlich. Kann ja im Grunde nichts schiefgehen.«
»Hm. Warte mal, Jakob. Könnte doch etwas schiefgehen. Wenn es der falsche ist, aber zufällig ein höflicher Mensch. Und der fragt dann, was du möchtest.«
»Nicht möchte, sondern wünsche.«
»Meinetwegen wünsche. Wenn derjenige fragt, was du wünschst, was geschieht dann?«
»Du bringst mich völlig durcheinander. Was geschieht dann? Ach ja. Ich muss sagen: Bin ich hier richtig bei Müller?«
»Müller gibt es in Dresden wie Sand am Meer. Das hat nichts zu bedeuten. Und dann?«
»Was dann?«
»Was antwortet darauf der andere, wenn er der Richtige sein sollte?«
»Dann sollte er sagen: Schillers Glocke gefällt mir gut. Dann frage ich: Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard? Hör jetzt auf zu lachen, Carola! Ich habe mir den Stuss nicht ausgedacht. Und dann muss der andere entgegnen: Ein Seitensprung schadet nicht. Ja, da vergeht dir das Lachen, was?«
»Wieso? Ich finde die Idee gar nicht mal so verkehrt. Ein Seitensprung schadet nichts, muss ich mir wirklich mal überlegen.«
»Also weißt du.« Man glaubt es nicht. Carola lacht mich ganz offensichtlich aus und ich merke das wieder mal viel zu spät. Das war schon früher so.
»Ach Jakob«, lacht sie. »In welches gelbe Haus gehen wir denn nun zuerst? Rechts oder links?«
»Rechts liegt mir nicht. Lass uns nach links gehen, das könnte immerhin ein gutes Zeichen sein.«
Wir treten durch ein eisernes Gartentor, das lediglich an einer Schraube hängt und mit der unteren vorderen Kante in einem moosigen Weg steckt.
Die Haustür befindet sich zwei Treppenstufen höher. Zwei Klingelknöpfe ohne Namensschild sind am Türrahmen montiert.
Einen Keller kann ich partout nicht entdecken. Irgendetwas nicht Greifbares springt mich geradezu an. Mir sträuben sich die Haare. »Lass es uns beim anderen gelben Haus versuchen.«
Wir verlassen das Grundstück. »Obwohl ich rechts nicht mag, gehen wir besser dorthin.«
»Wenn wir nun ein Stückchen weitergehen, kehrtmachen und die Forststraße zurückgehen«, amüsiert sich Carola, »liegt auch das andere Haus links, dann haben wir mit rechts nichts zu tun, dann stimmt es doch wieder. Du mit deinem Aberglauben, einfach kindisch.«
Na und? Ich fühle mich übermütig wie ein kleiner Junge. Das andere gelbe Haus wirkt gepflegt, der Plattenweg von der Straße zum Haus zeigt kein bisschen Moos. Das Rosenbeet daneben ist peinlich vorbildlich. Ich mag keine Rosenbeete. Dieses Haus strahlt gehobene Bürgerlichkeit aus.
Der Keller ragt knapp einen Meter aus dem Erdboden heraus. An der Tür glänzt ein Messingklingelgriff. Darunter steht in gotischen Lettern ›M. Schatz‹ eingraviert.
Ich bewege den Griff nach oben und wir hören ein recht lautes Klingeln im Haus.
Nach wenigen Augenblicken öffnet uns ein Dienstmädchen in schwarzer Tracht, nebst weißer Schürze und ebensolchem Spitzenhäubchen. Sie knickst sogar vor uns. »Ja bitte?«
Was denn jetzt, der Text stimmt zwar nicht, aber ich lass es einfach mal drauf ankommen. »Bin ich hier richtig bei Müller?«
Sie knickst erneut. »Nein, tut mir leid.« Blödsinnige Knickserei. Sie schließt die Tür.
Ich stelle den Koffer ab und erschrecke maßlos, weil die Haustür mit Schwung aufgerissen wird. Ein Mann in schwarzer Hose und beigefarbenem Pullover erscheint im Türrahmen. Die blonden Haare millimeterkurz gestutzt, Schnurrbartbürste und Gehstock.
»Schon wieder Idioten, die uns belästigen!«, schnauzt er mich an. »Hier wohnt nicht Müller. Der haust auf der anderen Seite. So langsam wird es mir zu bunt, muss sich die SS mal drum kümmern. Das stinkt ja zum Himmel in letzter Zeit.« Er knallt die Tür ins Schloss, dass der Rahmen zittert.
Ich nehme den Koffer und wir verlassen das Grundstück. Komischer Kauz.
Vor der Tür des anderen gelben Hauses überlege ich mir, ob wohl die untere Klingel eher zu einer möglichen Kellerwohnung zuzuordnen wäre. Ich drücke den Knopf. Nichts, kein Geräusch. Gar nichts. Dann glaube ich eine Bewegung im Spion der Tür zu erkennen.
Natürlich, von Klingeln hatte mir Kurt Anders gar nichts gesagt. Klopfen soll ich. Habe ich total vergessen. Mit meiner Vergesslichkeit sieht es inzwischen übel aus. Viele solcher Flüchtigkeitsfehler sollte ich mir nicht erlauben. Ich klopfe nun energisch: Tip, Tip, Tip, Bum. Die Tür bleibt geschlossen. Keine Reaktion. Nach einer kurzen Ewigkeit wird die Tür einen Spaltbreit geöffnet.
»Was wünschen Sie?«, fragt eine weibliche Stimme.
Na also, geht doch, denke ich. »Bin ich hier richtig bei Müller?«
»Schillers Glocke gefällt mir gut«, antwortet die Stimme durch den Türspalt. Hier sind wir richtig.
»Ist Ihre Lieblingsspeise Coq à la Canard?«, frage ich und merke, dass dieser Unsinn in dieser Situation gar nicht mal so unsinnig ist. Da wird die Tür geschlossen. Was soll das jetzt? Ein metallisches Klirren ist zu hören, offenbar war eine Kette vorgelegt gewesen. Nun wird die Tür geöffnet. Im Rahmen erscheint eine schwarzhaarige Frau mit Adlerblick, die die Kleidung einer katholischen Nonne trägt. »Ein Seitensprung schadet nicht«, sagt sie und ich muss lachen. Von einer Nonne klingt dieser Satz noch sonderbarer. »Wer schickt Sie?«, erkundigt sie sich.
Ich weise mit dem Daumen zur Straße. »Herr Schatz aus dem gelben Haus von gegenüber.«
Ihr Gesichtsausdruck gefriert. »Wie meinen Sie das?«
Ich erzähle von dem Ausbruch des Herrn und der Drohung.
»Um Himmels willen, da sei Gott vor«, entsetzt sich die Nonne wohl zu Recht - wer hätte es besser wissen sollen als sie. Im gleichen Augenblick hören wir das ferne Brummen von Flugzeugmotoren. Eiskalt läuft es mir den Rücken hinab. Nicht schon wieder! Ich suche den Himmel ab. Das Brummen wird lauter. Es muss sich um zahlreiche Flugzeuge handeln. Bislang ist keine Maschine zu sehen.
»Ich sehe sie«, bringt Carola tonlos heraus. »Das ist ein weiterer Angriff.«
Die Nonne schaut auf ihre Uhr. »Viertel nach zwölf. Wieso gibt denn keiner Alarm? Das kann doch alles nicht wahr sein. Sie beide scheinen mir Vorboten des Bösen zu sein. Wo kommen Sie her?«
»Aus der Altstadt. Sporergasse 2.«
Die Nonne betrachtet meine Herzgegend und schaut mir sehr lange fest in die Augen. »Man hat Sie falsch informiert, ich verstecke keine Juden.«
Immer näher hört man die Motoren der Flugzeuge brummen.
»Darum geht es gar nicht«, blocke ich ab. »Das ist im Augenblick völlig gleichgültig. Gibt es in der Nähe einen Arierkeller?«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Sie wohnen im Judenhaus und wollen in einen Arierkeller? Darauf steht KZ!«
»Sie haben mich missverstanden. Unsere Wohnung existiert nicht mehr, deswegen trage ich das Ding nicht mehr.« Ich tippe gegen die linke Brust. »Man hat mir einen Reisepass gegeben und mir gesagt, ich soll hierher kommen, dann würde mein Problem geregelt.«
Die ersten Einschläge in der Vorstadt klingen bis zu uns herüber.
»Den Pass würde ich gerne mal sehen.«
Ich stelle den Koffer ab, öffne ihn, nehme die Brieftasche aus der Innentasche und reiche sie der Nonne. Sie schaut hinein und lächelt.
»Man hat Ihnen also aufgetragen herzukommen und die Erkennungssätze beigebracht?« Sie schaut zum Himmel. Die ersten Fliegerstaffeln erscheinen am Horizont. Kein Flakwölkchen, keine Abwehrgeschosse, wehrlose Hilflosigkeit.
»Kommen Sie erst mal rein, bevor es gleich losgeht.«
Ich lasse Carola den Vortritt und betrete dann ebenfalls den Flur, der nach dem Schließen der Haustür in tiefer Finsternis liegt. Nur durch den Türspion schimmert ein winziger Lichtstreifen.
»Wir sollten in den Keller gehen, das ist sicherer. Ich habe mir unten ein Schlafzimmer eingerichtet nach den ersten Angriffen. So muss ich nicht in einen öffentlichen Schutzraum. Mein Keller ist recht sicher. Gehen wir dort hinunter. Lassen Sie den Koffer am besten hier stehen.« Die Nonne hat eine Kerze angezündet und geht auf eine metallene Kellertür zu.
»Nein, den lasse ich nicht oben. Der Inhalt ist mir äußerst wichtig.« Es bereitet erhebliche Mühe, den Koffer die ziemlich enge und steile Treppe hinunterzutragen. Ich halte den Griff und Carola vor mir versucht die Last abzustützen. Die Decke über dem Keller scheint mir glatt zwei Meter dick zu sein. Die Nonne verschließt die Kellertür und steigt hinter mir die Stufen hinab. Wir erreichen einen mehrere Meter langen Gang, der aus Betonwänden errichtet ist. In die rechte Wand sind drei weitere Türen eingelassen. Zur Treppe hin verschließt die Nonne erneut eine Stahltür. Dann drückt sie sich an uns vorbei, öffnet die erste der drei Türen und lässt uns in einen etwa zwei mal zwei Meter großen fensterlosen Raum treten, in dem sich nur ein Bett, ein Stuhl und ein niedriger Hocker befindet.
»Hier sind wir sogar bei einem Volltreffer sicher. Atemluft wird durch mehrere Saugstutzen im Garten gepumpt.« Nicht der geringste Laut ist von draußen zu hören. Die Nonne setzt sich auf den Stuhl und fordert uns auf, Platz zu nehmen. Dazu bleibt lediglich das Bett übrig. Wir schweigen eine Weile. Jetzt hört man von draußen ein ganz feines Summen und Puckern. Das müssen Einschläge sein. Klingt überhaupt nicht gefährlich. Ein Bumsen ist etwas lauter, als fiele eine reife Melone auf einen Holzboden.
»Das war in der Nähe«, folgert die Nonne. »Haben Sie die beiden Angriffe in der Altstadt erlebt?«
»Ja.«
»Wie sieht es da aus?«
»Fürchterlich, es ist nahezu alles zerstört. Die Flieger dort oben können eigentlich nur Ruinen umpflügen. Das gilt jetzt eindeutig der Zivilbevölkerung. Unfassbar! Was müssen das für Menschen sein, die solche Befehle geben! Der Krieg ist sowieso fast vorbei.«
Die Nonne winkt ab. »Noch lange nicht, die Brut ist zäh. Ich hatte Freunde in Coventry, in Rotterdam, in Warschau, ach, überall. Und alle meine Leute sind umgekommen. Von ganz normalen Soldaten der deutschen Wehrmacht kaltblütig ermordet. Dies ist nun schon der zweite Weltkrieg, den unsere Schwerindustrie angezettelt hat. Sie brauchen gar nicht die Köpfe zu schütteln, kennen Sie Brecht, Bert Brecht? Er hat zwar Unglück gesagt, aber ich finde, Krieg ist auch ein Unglück. Brecht sagte also: ›Ein Krieg kommt nicht wie der Regen. Krieg wird von Menschen gemacht. Krieg gibt es nur, wenn einige wenige daran ordentlich verdienen.‹ Wussten Sie, dass Krupp die Technik für die Zünder der englischen Bomben und Luftminen liefert? Jede einzelne Explosion über unseren Köpfen bringt den Ruhrbaronen bares Geld in die Kasse. Die Herrschaften ärgern sich wahrscheinlich nur, dass sie nicht in gleichem Maße an den amerikanischen und russischen Waffen verdienen. Krieg ist ein ausgezeichnetes Geschäft, glauben Sie mir. Nicht ein einziges Nachbarland hat mit Deutschland Krieg spielen wollen, weder 1914 noch 1939. Sie haben recht, wenn Sie annehmen, dass Deutschland auch diesen Krieg verloren hat, doch solange daran verdient wird, geht der Spuk weiter. Selbst wenn die alten Spinner ihr Pulver längst verschossen haben.«
»Die alten Spinner«, entrüste ich mich, »haben ihr Pulver am 1. August 1914 verschossen. Deren unbelehrbare Söhne am 1. September 1939; allesamt unverbesserliche obrigkeitshörige Idioten mit dicken Scheuklappen.«
»Das haben Sie schön formuliert. Muss ich mir merken. So, nun kommen wir mal zum Kern der Sache. Ihrem Pass werde ich passende Fotos einfügen. Der Preis stimmt.«
»Welcher Preis?« Wovon redet die? »Wir haben nicht eine Reichsmark.«
»Sie haben mir den vereinbarten Preis mit dem Pass gegeben.« Sie zieht die vierhundert Reichsmark aus der Brieftasche.
»Habe ich völlig vergessen. Das Geld gehört uns nicht. Von Bezahlen hat mir Herr Anders nichts angedeutet. So geht das nicht!« Ich greife nach der Brieftasche. »Geben Sie her, wir vergessen das Ganze!«
»Dann haben wir mit Zitronen gehandelt.« Sie hält plötzlich eine Pistole in der Hand und zielt auf mich. »Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie mich so einfach aufs Kreuz legen können. Ich hätte Ihnen beinahe geglaubt. Das Spiel ist aus. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich töte nur sehr ungern. Aber angebliche Juden mit einem falschen arischen Reisepass und einer immer weniger glaubwürdigen Geschichte, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Wer schickt Sie? SS? Gestapo?«
Carola drückt sich an mich. »Zeig ihr den Koffer. Die anderen Sachen. Zeig ihr deine Kennkarte. Hier ist meine.« Carola hält der Nonne die Karte entgegen.
Ich will mich gerade erheben, um meine ›J‹-Karte aus der Hose zu fischen.
»Ganz ruhig bleiben«, mahnt die Nonne. »Wenn Sie nach Ihrer Waffe auch nur ansatzweise greifen, schieße ich auf der Stelle. Sie bleiben hübsch auf dem Bett sitzen und lassen mich Ihre Hände sehen. Und Sie«, sagt sie zu Carola, »Sie legen Ihre Karte auf den Boden und schieben sie mit der Fußspitze in meine Richtung. Keine schnellen Bewegungen bitte, sonst ist es sofort vorbei.«
Carola tut, wie ihr geheißen. Ich verschränke die Hände im Nacken. Man wird ganz kleinlaut, wenn eine Waffenmündung auf einen gerichtet ist.
»Das ist sehr gut, mein Herr. So können wir verhandeln.«
Sie zieht Carolas Kennkarte mit dem Fuß zu sich, greift mit einer Hand danach ohne uns aus den Augen zu lassen. Sie hält die Karte direkt neben die Waffe und betrachtet sie und uns gleichzeitig.
»Wer hat Ihnen meine Adresse gegeben?«
»Ein Mann in der Dresdner Bank, König-Johann-Straße.«
Sie lacht und schüttelt den Kopf.
Ich seufze. »Passen Sie auf, ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte. Darf ich meine Hände auf die Knie legen? Wir haben keine Waffen.«
Sie nickt und ich beginne zu erzählen.


4.

»Meine Judenkennkarte steckt in meiner Hose. Ich zeige sie Ihnen.«
Sie nickt. »Ich warne Sie. Keine unbeherrschten Bewegungen, ich töte wirklich nur sehr ungern.«
»Da bin ich aber beruhigt«, antworte ich und stehe vom Bett auf. »Ich muss zunächst den Rucksack ablegen, in Ordnung?« Man kann gar nicht achtsam genug sein.
Sie nickt und zielt trotzdem unbeirrt auf meine Brust. Schon wieder ein völlig neues Scheißgefühl. Endlich liegt der Rucksack auf dem Bett.
»Stellen Sie ihn auf den Boden.«
Das mache ich. »Ich ziehe nun den Mantel aus.« Vorsichtig ziehe ich erst den einen, dann den anderen Arm heraus. Der Mantel fällt auf das Bett.
»Lassen Sie den Mantel neben den Rucksack fallen.«
Mit einem Fuß schiebe ich ihn vom Bett. Ich verschränke die Hände im Nacken und drehe mich einmal um die eigene Achse. »Wie Sie sehen, trage ich keine Waffe.«
»Hm. Beeindruckend. Sie machen das sehr professionell. Auf welcher Bullenschule hat man Ihnen das beigebracht?«
»Auf keiner. Ich war früher mal Rechtsanwalt. Doktor Jakob Löwenthal. Nie gehört?«
»Mit solch feinen Herrschaften verkehre ich nur selten. Machen Sie weiter.«
Grotesk, denke ich, fein ist gut. Ich ziehe mich hier aus vor zwei Frauen und komme mir vor wie ein alberner Bordellbesucher. Ich öffne die Hose mit der linken Hand und ziehe mit zwei Fingern vorsichtig meine Judenkennkarte daraus hervor. Ich beuge mich vor, lege sie auf den Boden und schiebe sie mit der Zehenspitze in die Nähe der Füße der Nonne. Dann verschränke ich die Hände erneut im Nacken und setze mich aufs Bett. »Zufrieden?«
»Das kann ich derzeit nicht sagen, erst mal die Karte kontrollieren.«
Wie zuvor Carolas Karte, studiert sie meine genauso aufmerksam, ohne uns aus dem Blick zu verlieren. Die Nonne beeindruckt mich schon sehr, eine solche habe ich vorher noch niemals getroffen.
»Wenn die Karte gefälscht ist, dann ich es eine hervorragende Arbeit.« Sie legt meine Karte neben Carolas auf den Hocker. Sie schaut uns sehr lange ungeheuer intensiv und nachdenklich an. »Nun lassen Sie mich mal sehen, ob Sie weitere Ausweise in der Unterhose tragen.«
»Blödsinn.« Ich ärgere mich über die unwürdige Situation.
»Wenn Sie wirklich Jude sind, müssten Sie ja eigentlich beschnitten sein, nicht wahr?«
»Unsinn, nicht alle Juden sind beschnitten. Nur die orthodoxen, bei uns traditionellen ist dies nicht unbedingt nötig.«
»Ach ja? Und Sie sind selbstverständlich traditionell, nicht wahr?«
»Ja«, sage ich. Plötzlich ist mein stiller ›Leck-mich-am-Arsch-Standpunkt‹ von früher da. Zwölf Jahre war er verschwunden, nun ist er wieder da. Ich streife die Unterhose ab und halte ihr mein Glied entgegen. »So, hier sehen Sie, ich bin trotzdem beschnitten. Guck nicht so, Carola, aber bevor die Männerfeindin uns abknallt, zeige ich der lieber mein Prachtstück!«
»Wieso Männerfeindin?«
Die Nonne fragt mich das doch wohl nicht im Ernst? »Ich denke, Sie sind mit dem HERRN verheiratet?«
Die schaut an sich hinab. »Ach so«, lacht sie.
»Zufrieden? Darf ich mich jetzt anziehen? Ich schäme mich sonst möglicherweise noch.«
»Wenn Sie im KZ wären, würden Sie nur nackt herumlaufen, bestenfalls. Stellen Sie sich nicht so an, in unserem Land muss man sehr vorsichtig sein und darf möglichst niemandem trauen.« Sie nimmt den Reisepass und betrachtet das Foto des Kurt Anders. »Ich kann dieses Gesicht niemandem zuordnen. Auch der Name ist mir nicht bekannt. Okay, Anders nennen sich mittlerweile ein ganzer Haufen Leute. Der Witz ist abgedroschen. Was mache ich nun mit Ihnen beiden?«
Da fällt mir die Notlösung ein, das Medaillon. »Sagt Ihnen der Name Louisa etwas?«
Die Pistole fällt zu Boden, geht aber zum Glück nicht los. Die Nonne hebt die Waffe auf. »Ja, der Name sagt mir etwas. Wieso?«
»Weil mir Kurt Anders ein Medaillon gegeben hat, das heißt wohl Louisa. Auf jeden Fall hat er mich angewiesen, es zu zeigen, wenn die Situation tödlich werden würde. Hatte ich völlig vergessen. Moment.«
Ich steige in meine Beinkleider und stopfe das Hemd in den Hosenbund. Schließlich ziehe ich die Kette mit dem Medaillon aus dem Kragen des Hemdes und reiche sie der Nonne.
Die beginnt hemmungslos zu weinen. Schluchzt sogar. Carola und ich tauschen verständnislose Blicke aus. Was mag das denn jetzt zu bedeuten haben? Mal abwarten.


5.

»Sie müssen sich zunächst einmal rasieren«, bestimmt die Nonne freundlich. »Ein Reisepassfoto sollte möglichst seriös wirken. Wenn Sie kontrolliert werden und sollten nicht korrekt rasiert sein, können Sie sich herausreden, dass Sie dazu keine Zeit gehabt hätten. Das Foto hingegen muss Sittsamkeit und bürgerlichen Anstand ausstrahlen. Hier ist ein Rasierer und ein Pinsel. Seife gibt es nicht, das muss nur mit Wasser gehen. Seien Sie mit der Klinge etwas vorsichtig, sie ist nicht mehr so ganz scharf und deswegen gefährlich. Nicht zu stark drücken. Lieber rasieren Sie sich mehrmals sanft. Wenn Sie sich verletzen, müssen wir erst die Blutung stillen und das dauert unnötig lange. Es wird ohnehin lästig genug sein, Ihr Gesicht wieder einigermaßen in Form zu schminken. Na gut, das kriege ich hin. Trödeln Sie bitte nicht herum. Wenn der Schatz wirklich die SS ruft, können Sie die nächsten Stunden nicht raus. Und das wird mir nicht gefallen, Ihnen sicherlich genauso wenig. Rein kann kaum einer, da müssten die erst das Haus in die Luft jagen. Und selbst das nützte wenig. So, machen Sie voran, ich fotografiere inzwischen Ihre Frau.«
Zum Glück habe ich mich an das Medaillon erinnert. Junge, hat die Nonne geflennt. »Sind Sie sicher, dass er tot ist?«, hat sie gefragt.
»Ja, leider. Er hat mir die Anweisungen gegeben, eine halbe Flasche Cognac getrunken und dann irgendwas genommen, Gift nehme ich an. Eiskalt hat er auf mich gewirkt.«
»Er wird nicht beerdigt werden können, nicht wahr?«
»Nein. Von dem Gebäude ist nichts mehr übrig, befürchte ich. Wer ist das Mädchen auf dem Medaillon?«
Die Nonne hatte noch eine ganze Weile geweint.
»Louisa, das Mädchen auf dem Foto, ist mein Patenkind. Früher wohnte sie in Berlin-Steglitz, sind aber im August 1944 nach Bayern gezogen. Nach München, hat mir Louisas Vater geschrieben. Allerdings heißt der in Wirklichkeit gar nicht Kurt Anders. Außerdem hatte er früher einen prächtigen Vollbart getragen, deswegen konnte ich ihn auf dem Passfoto nicht wiedererkennen. Der Pass muss demzufolge schon einmal mit neuen Fotos versehen worden sein, und wie Sie hatte er sich wohl den Bart abrasieren müssen. Sieht einfach seriöser aus!«
Genau wie bei mir, denke ich nun.
»Erstklassige Arbeit. Der Pass natürlich, nicht das Rasieren«, meint die Nonne, die gar keine ist. In Situationen kommt man.
Louisas Vater war Jude und auch auf der Flucht. Nun begreife ich, weswegen er mir so schnell hatte vertrauen mögen. Was für ein Zufall. Wieder unerklärlich. Das hätte er mir ohne Weiteres sagen können. Würde mich mal interessieren, ob heutzutage überhaupt irgendjemand der ist, der er zu sein vorgibt.
»Wie hieß dieser angebliche Kurt Anders denn tatsächlich?«, erkundige ich mich.
»Das spielt für Sie gar keine Rolle, wichtig ist nur, dass Sie einen ordentlichen Pass auf diesen Namen bekommen. Je weniger Details Sie kennen, desto sicherer für uns alle.«
»Fabelhaft. Und wie soll ich seine Familie finden, wenn die ganz anders heißt?«
»Sie sind ein Schaf. Natürlich nennt sich die Familie Anders, schließlich steht doch seine Frau als Ermine mit im Pass. Oder?«
»Man kann nicht in allem beschlagen sein.«
»Das ist auch gut so.«
»Und Sie?«, frage ich. »Sind Sie wirklich eine Nonne?«
»Wenn Sie unbedingt im Bilde sein wollen, nein! Aber wie Sie sehen, trage ich die Tracht einer geistlichen Schwester und das reicht schon hin. Mehr brauchen Sie gar nicht zu erfahren. Wenn ich mal verschwinden muss, werde ich wieder jemand anders sein. Das heißt, wenn Sie nachher weggehen, sollten Sie mich am besten vergessen. Sie wissen lediglich, dass Sie hier eine Ordensschwester getroffen haben, die Ihnen während des überraschenden Angriffs Luftschutz gewährt hat. Was glauben Sie, wie viele Menschen draußen in Splittergräben zu überleben versuchen müssen. Da ist jeder froh für ein paar Mauern um ihn herum.«
Wo sie recht hat, hat sie recht. ›Gor net ignorieren‹ würde mein lieber Freund und Kollege aus Wien sagen, am besten weiß man nix.
Wir haben den Raum, in dem ich mich hatte entblättern müssen, verlassen und die Nonne - ich nenne sie der Einfachheit halber weiterhin so - hat uns im Kellergang zur dritten und letzten im Beton eingelassenen Tür geführt, die dreifach versperrt war. Jeden einzelnen Riegel schließt sie auf und wir betreten einen weiteren fensterlosen Raum, in dem ein großes Bücherregal zwei Wände über Eck komplett verdeckt. Davor steht ein Schreibtisch mit zwei Sesseln und einem Holzstuhl mit geflochtener Sitzfläche. Darauf sitzt Carola und wartet auf uns.
Die Nonne verschließt die äußere Tür und legt zwei eiserne Riegel in die dafür vorgesehenen Haken, die sozusagen bombenfest in den Beton eingelassen sind. Die gleiche Sicherung nimmt sie bei den beiden weiteren Türen vor. Da wäre man von außen bestenfalls mit einem Panzer durchgekommen. In der rechten Ecke neben der Tür steht ein Fotoapparat auf einem Stativ. Und hinter einem Paravent in der linken Ecke ist ein Waschbecken angebracht mitsamt Spiegel. Endlich mal wieder rasieren, freue ich mich. Ein Bad hätte mir zwar auch gut getan, aber man kann ja nicht alles haben. Ich blicke mein Gesicht im Spiegel an, bloß gut aufpassen mit dem Rasierer. Das ist überhaupt kein Rasierer, sondern eine Bartausreißmaschine. Wenn das so weitergeht, sehe ich gleich aus wie ein gekochter Hummer. So, und nun gegen den Strich geschabt, dann dürfte es reichen.
Ein zischendes Geräusch lenkt mich ab. Es riecht stark nach Wunderkerzen. Tannenbäume hier unten im Keller? Kaum vorstellbar, denn vom dritten Angriff haben wir nicht das Geringste gespürt. Die Vorstellung, dass in diesem Moment über uns tausendfach gestorben wird, erscheint völlig unwirklich.
Ich schaue um den Paravent und erkenne den Grund des Geruchs. Die Nonne hat ein Blitzlicht aus Magnesiumpulver gezündet. Das elektrische Licht leuchtete zum Fotografieren wohl nicht hell genug. Ich trockne mein Gesicht ab und trete zu Carola und der Nonne.
»Sind Sie schon mal geschminkt worden?«, fragt sie mich.
»Nein, so einer bin ich nicht.«
»Egal, setzen Sie sich in den Sessel, legen Sie den Kopf zurück und schließen Sie die Augen. Lassen wir zunächst mal ein paar Falten verschwinden.« Sie reibt mir mit einem kleinen Tuch eine gefärbte Paste ins Gesicht und verteilt diese dann mittels eines Pinsels. »Sie sollen die Augen schließen!«
Gott, man ist doch neugierig, denke ich. Das Pinseln kitzelt recht angenehm.
»Ich werde jetzt Ihr Auge einreiben. Das könnte unter Umständen ein wenig schmerzen. Beherrschen Sie sich bitte, sonst muss ich noch mal anfangen.«
Ist alles nur halb so schlimm.
»So, nun setzen Sie sich dort hin«, fordert die Nonne mich auf. Gehorsam setze ich mich, wo Carola zuvor gesessen hat und schaue in das Objektiv der Kamera. Die Nonne schraubt das Stativ etwas höher und stellt den Apparat ein. Dann schüttet sie weißes Magnesiumpulver auf das kleine Tableau, hält es links vom Fotoapparat mit einer Hand in die Höhe. In der rechten hält sie einen kleinen schwarzen Gummiball, der durch einen dünnen Schlauch mit dem Apparat verbunden ist.
»Schauen Sie bitte auf den Auslöser. Ja, so ist es gut.« Das Magnesium verbrennt zischend und es riecht erneut nach Wunderkerzen. »Danke«, sagt die Nonne, zieht die Fotoplatte aus dem Apparat und geht zum Bücherregal.
»Ich werde die Fotos nun entwickeln, das wird eine Weile dauern. Egal, was passiert, mucksen Sie sich nicht. Hier kommt so leicht niemand herein.«
»Wir werden still sein wie eine Regierung, wenn sie Geld klaut«, beteuert Carola.
Die Nonne lacht. »Haben Sie Hunger?«
»Na, und wie.«
Sie schwingt einen türgroßen Teil des Bücherregals hinter dem Schreibtisch auf und schaltet das Licht in dem dahinter verborgenen Raum an. Sie betritt den Nebenraum, wir hören einige Geräusche und dann kehrt sie zurück, mit einem Tablett auf den Händen. Ein halber Laib Brot und eine Hartwurst liegen samt einem Messer darauf. Sie stellt das Tablett auf den Schreibtisch.
»Bedienen Sie sich. Zu trinken haben wir leider nur Wasser aus der Leitung.«
»Vielen Dank. Darf ich Ihnen vielleicht bei der Arbeit zusehen?«, bitte ich.
»Nein, auf gar keinen Fall. Erstens mag ich das nicht und zweitens haben wir vorhin schon darüber geredet. Es ist besser, wenn Sie so wenig wie möglich wissen.« Mit diesen Worten schließt sie die Türöffnung des Bücherregals von der anderen Seite.
Carola schneidet zwei daumendicke Scheiben vom Brot und von der Wurst ab. Wir essen beinahe gierig, zum Glück kann uns niemand dabei beobachten. Carola lässt Wasser aus der Leitung laufen.
»Willst du aus dem Hahn trinken?«, frage ich sie.
»Was sonst?«
»Moment«, sage ich, öffne den Koffer und nehme zwei der Goldbecher heraus. »Noblesse oblige. Bitte schön, Carola.« Ich reiche ihr einen Becher.
Sie betrachtet ihn eingehend. »Ist im Koffer noch mehr so ... Gold und so?«
»Ja. Gold, Schmuck, uralte Bilder, Schnaps, was weiß ich.«
»Und das gehört jetzt dir? Uns?« Carola wirkt irgendwie gierig.
»Nein, das gehört der Familie Anders. Wir verwahren es lediglich für sie und transportieren den Koffer nach München. Schon vergessen?«
»Und wenn es die gar nicht mehr gibt?«


6.

Wir sitzen ausgestreckt in den beiden Sesseln, sind satt und dösen vor uns hin. Dass ich eingeschlafen bin, habe ich überhaupt nicht bemerkt. Erst als mich jemand am Ärmel zupft, schrecke ich auf. Die Nonne steht neben meinem Sessel.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber diese Arbeit braucht nun mal seine Zeit.«
»Keine Ursache, ich habe süß und selig geschlafen.« Die Nonne reicht mir den Reisepass. Ich schlage die erste Seite auf und blicke auf mein Foto in einem gültigen Reisepass. Und ich werde den Eindruck nicht los, auf dem Foto sogar etwas jünger zu wirken. Unfasslich. Ich hätte lachen und weinen können. Gleichzeitig.
»Entschuldigung, Carola! Aufwachen! Carola!« Ich stemme mich aus dem Sessel und drücke der Nonne einen Kuss auf die Wange.
»He«, wehrt sie ab.
»Veronika, der Lenz ist da!«, beginne ich und singe zu jener Melodie einen Augenblickstext von mir. »Carolala, der Lenz ist da - und auch der Pass, drum trallalla!«
Mit einem Schmatzen erwacht Carola und schlägt die Augen auf. »Hoppla, ich muss eingeschlafen sein. Ich fühle mich wie erschlagen.« Sie streckt sich, erkennt mich und tippt dann mit dem Finger an die Stirn. »Was hat der denn? Isser meschugge?«
Ich improvisiere nämlich derweil weiter. »Carolala, die Welt ist schön - drum lass uns in die Ferne ziehn.« Ich tanze mit mir selbst Charleston, eine Hand an der Hüfte, die andere hinter dem Kopf. Mir fällt bloß kein Text mehr ein, drum beginne ich von vorne und tanze durch den Raum. Carola und die Nonne lachen. Ich fasse beide bei den Händen und tanze mit ihnen. Ein Sessel fällt um. Mir fällt wieder etwas ein. »Veronika, die Welt ist braun - doch lass uns in die Zukunft schaun! Und mit unserm Reisepass, macht Reisen sehr viel Spaß! Carolala, der Lenz ist daaa!« Ich versuche in Tenorpose den letzten Ton zu halten, aber ich muss husten. »Ach Mädchen«, jubel ich, als ich endlich Luft kriege, »ihr wisst ja nicht, wie glücklich ich bin. Carola, kannst du dich erinnern? Im März 1929 in Hamburg? Da haben wir die Burschen das erste Mal gesehen. Kinder, was hat die Bude getobt. Trallalallaladidada. Und ich sage euch, wenn der Irrsinn vorbei ist, werden die Comedian Harmonists wieder gemeinsam auftreten. Alles wird so wie früher. Na ja, hoffentlich nicht alles, wenigstens das Schöne. Ach, liebe Frau Nonne, kommen Se, Se kriegen noch een. Und du ooch. Hier, Carola, guck dir mal die Passfotos an. Sehe ich nicht prächtig aus? Und du erst. Nu biste Ermine Anders, nu komm schon.« Die beiden Frauen lassen sich von mir nahezu widerstandslos küssen. Carola schüttelt den Kopf.
Die Nonne lächelt. »Schlafen war das Beste, was Sie machen konnten. Es ist Viertel nach drei. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis es zu dämmern beginnt. Das wird für Ihre Abreise sicherlich von Vorteil sein, möglicherweise finden Sie sogar ein Nachtquartier. Ich habe Ihnen zwei Lebensmittelkarten für Reisende ausgestellt, mit den entsprechenden Marken. Ist alles im Preis inbegriffen. Die sind noch für den Rest der Periode gültig. Dann müssen Sie sich von irgendeiner Behörde der Stadt, in der Sie sich gerade aufhalten, aktuelle Marken aushändigen lassen. So, ich glaube, wir haben nun alles beisammen. Nein, Moment. Sie haben gesagt, dass Sie kein Geld besitzen und ohne wird es nicht viel werden mit der Reise nach München. Ich habe eine Idee. Sie geben mir das Sparbuch und ich zahle Ihnen dafür hundert Reichsmark in bar aus. Das wird zunächst reichen.« Sie drückt mir ein paar brandneue Geldscheine in die Hand. So wie ich das einschätze, ist das Geld bestimmt falsch. Von den Zwanzigern blickt eine brave B(ubi)-D(rück)-M(ich)-Maid betreten beiseite, ein kitschiges Edelweiß vor der Brust.
»Stecken Sie die größeren Scheine in die Innentasche Ihres Mantels, den Pass dazu. Sicher ist sicher. Halten Sie nur zwei Fünfer in den äußeren Manteltaschen. So haben Diebe es nicht allzu leicht. So, Eheleute Anders, nun werfe ich Sie hinaus. Ich habe noch ein bisschen was anderes zu tun, als zu tanzen und mich des Lebens zu erfreuen. Stecken Sie Ihren Pass bloß nicht in die Hose, das wirkt sehr unseriös. Die J-Kennkarte habe ich bereits vernichtet. Viel zu gefährlich.«
Somit ist meine wahre Identität auch in diesem Punkt komplett vernichtet. Gefällt mir insgeheim überhaupt nicht.
»Ich habe meine im Schuh versteckt«, sagt Carola. »Unter den Einlegesohlen. Dann trete ich meine Vergangenheit mit Füßen.«
Ich ziehe den Mantel an und greife nach dem Rucksack, aber Carola fällt mir in den Arm. »Lass mich den tragen, du Tanzkavalier. Es reicht, wenn du dich mit dem Koffer abschleppst.«
»Ich lass Sie hinten raus«, bestimmt die Nonne.
»Hinten?«
»Ja, es gibt einen separaten Ausgang durch den Hühnerstall im Garten. Immer hübsch zurückhaltend, Herr Anders.« Die Nonne schwingt einen weiteren nur kniehohen Teil des Bücherregals zurück. Wir kriechen hindurch und erreichen einen Gang, in dem wir aufrecht gehen können. Der Gang ist ebenfalls durch mehrere dicke Stahltüren gesichert und mündet in einen Treppenaufgang. Die Nonne erklimmt die Stufen vor uns, dreht mit einer Winde eine sehr dicke Betonplatte zur Seite, hebt eine darüberliegende Abdeckplatte aus Holzbalken an und klappt sie ganz auf.
Der Hühnerstall. Der Boden ist mit Stroh ausgelegt, nur Hühner kann ich nicht entdecken. Die Nonne beobachtet die Umgebung akribisch und sehr lange.
»Hier schleicht niemand herum«, bekundet sie. »Wenn ich die Klappe wieder geschlossen habe, verteilen Sie bitte das Stroh darüber. Gehen Sie langsam zur Forststraße. Vielleicht erwischen Sie am Neustädter Bahnhof einen Zug. Sollte Sie jemand wider Erwarten ansprechen, während Sie den Garten verlassen, dann behaupten Sie ganz einfach, dass Sie den Angriff im Stall abgewartet hätten. Dafür kann Ihnen niemand etwas vorwerfen. Und nun ade.« Sie klettert die ersten Stufen hinab.
»Schalom«, verabschiede ich mich.
Ihr Kopf erscheint nochmals in der Luke über dem Boden. »Tun Sie sich selbst einen Gefallen und verkneifen sich ab sofort jegliches jüdische Wort, zumindest für die nächsten paar Monate. Selbst wenn es Ihnen schwerfällt oder sogar ankotzt, sagen Sie so oft wie nur irgend möglich ›Sieg Heil‹! Jeder wird Sie für einen völkischen Idioten halten - die beste Lebensversicherung, die es im Moment gibt.«
»Genau. Leben Sie wohl und vielen tausend Dank, liebe Nonne.«
»Seien Sie nicht so freundlich. In bösen Zeiten sollte man selbst böse sein. Denken Sie an Shakespeares Richard III.: ›Ich bin gewillt, ein Bösewicht zu werden!‹ Und viel Spaß dabei!« Die Nonne verschwindet endgültig unter der Klappe im Hühnerstall.
In den Hühnerstall fällt nur durch den dünnen Türspalt ein wenig Licht. So weit ist dies durchaus von Vorteil, denn wir können unbeobachtet das Stroh über der Klappe verteilen. Danach verlassen wir den Stall und gehen langsam durch den ungepflegten Garten. Auf der anderen Straßenseite brennt ein einzelnes Haus. Zwei Männer, einer davon einbeinig, der sich auf Krücken stützt, schauen dem Brand zu.
Das Gartentor war wohl durch den Luftdruck einer Detonation zwischen die Pfeiler geklemmt und lässt sich kaum bewegen, so fest steckt es verkeilt. Nach mehrmaligem Zerren und Rütteln fällt das Tor endlich zu Boden.
Der Einbeinige schwingt geschickt in einer einzigen Bewegung auf den Krücken um seine eigene Achse und steht nun mit dem Gesicht zu uns. Er stößt den anderen Mann mit dem Ellbogen an. Der dreht sich nun ebenfalls um. Mist, mit dem heimlichen Verschwinden wird das nichts.
»Komm, Carola, lass uns rübergehen. Ist am wenigsten verdächtig.«
Ich spreche die beiden Schaulustigen an. »Schlimme Sache, was?« Ich blicke zu der brennenden Ruine.
»Ja, den hat’s schön erwischt«, sagt der Einbeinige. »Ist aber nicht schade um den Kerl. Der war sympathisch wie eine Handgranate.«
»Und so einer heißt Schatz, man glaubt es kaum«, bemerkt der andere Mann.
Erst jetzt erkenne ich, das war das andere gelbe Haus mit dem gehobenen Ambiente. Von dem gepflegten Haus steht nur noch eine Seitenwand inmitten eines funkensprühenden Feuers.
»Warum löscht denn niemand? Weiß man, was mit den Bewohnern geschehen ist?«, fragt Carola.
»Wer soll denn löschen? Und womit? Da ist sowieso nichts mehr zu retten. Der hat es hundertfach verdient, der alte Denunziant.«
Na Gott sei Dank, denke ich. Wenn unsere Nonne dies wüsste, wäre sie sicherlich beruhigt. Soll man zurückgehen und sie informieren? Nein, besser nicht.
»Apropos«, meint der Einbeinige. »Was haben Sie denn da drüben gemacht?«
Mist. Mist. Doppelmist.
»Wir habe dort im Garten im Hühnerstall vor dem Angriff Schutz gesucht.«
»Aha.«
»Was heißt denn ›Aha‹?«, will ich empört wissen. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken. »Hätten wir vielleicht hier im Freien abwarten sollen?«
»Nein, nein. Schon gut. Aber wieso kommen Sie erst jetzt heraus?«
»Wieso erst jetzt? Wie meinen Sie das?«, fragt Carola.
»Nun, der Angriff ist doch längst vorbei.«
Ich bemühe mich, gelangweilt das Gesicht zu verziehen. »Wir müssen wohl eingeschlafen sein.«
Die Männer lachen. Der Einbeinige winkt ab. »So sieht auch jemand aus, der in einem Hühnerstall gepennt hat. Sie machen viel eher den Eindruck, als kämen Sie direkt von einer Varietébühne. Schauen Sie sich bloß mal Ihr Gesicht an. Sie sind geschminkt, als wären Sie ein warmer Bruder!« Der Einbeinige schlägt dem anderen Mann kräftig auf die Schulter.
Ich betaste mit den Fingerspitzen mein Gesicht. Die Schminke. Ach herrje, völlig vergessen. Wie kriege ich das Zeug ab?
Der Einbeinige grinst breit. »Wenn eine Streife Sie so aufgreift, geht es sofort ab mit rosa Winkel auf der Brust. Mann, waschen Sie sich das Gesicht, oder sind Sie wirklich vom anderen Ufer? Eigentlich schade bei der Dame.«
Carola unterdrückt mühsam das Lachen. »Nein, er ist ganz normal. Er ist aus beruflichen Gründen geschminkt. Ob man sich im Bahnhof waschen kann?«
»Müssen Sie erst mal bis dort hinkommen in der Verkleidung«, lacht der Einbeinige weiter. »Was für einen sonderbaren Beruf hat er denn?«
Chuzpe, denke ich. »Ich bin Schauspieler. Sie kennen sicherlich Shakespeares Richard III.?«
»Nö.«
Ich werfe mit einer Hand theatralisch das Haar zurück. So würde das bestimmt ein Mime tun. »Ich bin gewillt ein Bösewicht zu werden. Nun denn!«
Carola klatscht. »Haach, du bist wundervoll.«
»Wirkt trotzdem schwul«, meint der andere Mann. »Wenn Sie mögen, ich wohne gleich da vorne. Regenwasser habe ich genug in der Tonne und einen Lappen zum Abtrocknen finden wir auch. Na?«
»Seien Sie für diese edle Tat geadelt, mein Herr.« Nie gewusst, dass ich das Dramatische drauf habe. Passt aber irgendwie zu meinem Juristenberuf. Muss ich mir merken. Wir folgen den beiden. Der Einbeinige humpelt neben uns her. Wir erreichen den Garten vor einem Haus aus der Gründerzeit. Neben dem Eingang steht eine Regenwassertonne unter der Traufe.
»Warten Sie, ich hole einen Lappen.«
Ich stelle den Koffer ab. Wenig später kehrt der Mann mit einem Blecheimer zurück. Über dem Arm trägt er ein rot-weiß kariertes Handtuch. Er reicht mir das Tuch und füllt den Eimer mit Regenwasser. Vorsichtig wasche ich mein Gesicht ab. Das Wasser im Eimer verwandelt sich in eine milchige Brühe. Das verletzte Auge wasche ich lieber nicht. Wegen des schmutzigen Wassers. Das Tuch wringe ich aus und trockne mir damit das Gesicht.
»Wie sehe ich nun aus?«
»Schön dreckig, das fällt überhaupt nicht auf«, bestätigt der Einbeinige. »Nun hält Sie niemand mehr für so einen. Eher für einen Richter oder so. Haben Sie mal einen Richter gespielt?«
Ich schmunzle. »Nicht direkt. Allerdings Rechtsanwalt war ich schon.«
»Das passt auch besser, als der Dings da gerade. Schägsbier oder so ähnlich haben Sie gesagt.«
»Danke. Gehen Sie gelegentlich ins Theater?«
Der Einbeinige vollführt mit der rechten Hand mehrere Kreise in die Luft. »Nö, ist genügend Theater um uns herum. Das reicht satt.«
Carola zupft mich am Arm. »Komm, wir wollen doch zum Neustädter Bahnhof.«
»Wird nicht viel nützen. Der Schlesische Platz hat ordentlich was abgekriegt. Genau wie der Bahnhof dort. Außerdem müssten Sie zu Fuß gehen. Es hat zwar hauptsächlich Stabbrandbomben geregnet, aber die Oberleitung der Tram ist im Eimer. Da fährt nichts mehr«, erklärt der Einbeinige und lehnt sich auf die Krücken.
»Woher wissen Sie das alles, waren Sie dort?«, frage ich.
»Mit einem Bein? Glauben Sie, ich kann fliegen? Nein, ein paar Landser haben es erzählt, die waren wohl dort in der Nähe. Am Bahnhof Neustadt hat sich anscheinend ein Teil der Ostfront versammelt. Und zwar hauptsächlich Offiziere und Unteroffiziere. Rückzug à la bon Chance, Sie verstehen? Die einfachen Soldaten verteidigen höchstwahrscheinlich ganz allein mit dem Volkssturm das unselige Reich und die Verantwortlichen verpissen sich nach Haus zu Mutti. Na ja, die Landser wollten sich möglicherweise auch absetzen, deswegen sind sie vermutlich aus dem Trubel hier herausgekommen. Verstehen kann man es, wer möchte jetzt noch gerne erschossen werden? Also wenn Sie aus Dresden wegwollen, dann vielleicht über den Hauptbahnhof, mag sein, dass dort Züge fahren. Auf der anderen Seite der Elbe steht nicht mehr viel. Da braucht’s eine Menge Glück.«
»Wir werden es versuchen. Bin ich Ihnen was schuldig für Wasser und Tuch?«
»Keine Ursache. Viel Glück euch beiden!« Der Einbeinige klopft mir auf die Schulter. »Nichts für ungut, dass ich Sie vorhin so bezeichnet habe, aber nun sehen Sie ehrlich anständiger aus. Na, hoffentlich kommen Sie aus dem Schlamassel heil raus.«
»Wieso benutzen Sie solch ein Wort?«
»Na, weil ich nicht gern Scheiße sage. Ich selbst habe tief dringesteckt. Oder glauben Sie, ich hätte mein Bein zu Hause vergessen?«
»Nein, entschuldigen Sie bitte. Masseltov!«
Die beiden Männer schweigen ernst. Mist, überlege ich, kaum bin ich gerührt, rede ich jüdisch. Ich muss viel mehr aufpassen. »Ich wollte sagen, auch Ihnen viel Glück.«
Carola zieht mich mit sich und ich stolpere neben ihr her. Der freundliche Wassergeber und der Einbeinige schauen sich an.
»Das klang ja beinahe so, als wäre der ein ...«
»Ein was?«
»Hm. Ein Mensch.«
»Natürlich waren das Menschen. Bist du besoffen?«
»Nein. Noch nicht. Aber ich hab ein paar Flaschen Strohrum. Echten ostmärkischen. Willst du ‘nen Grog?«
»Wenn der echt ist und du einen anständigen machst, gerne.«
»Was meinst du mit anständig?«
»Rum muss. Zucker kann. Wasser braucht nicht!«


7.

Wir marschieren die Forststraße langsam hinab und biegen nach rechts zur Bautzner Straße ein. Die Brände halten sich wirklich in überschaubaren Grenzen, wenngleich die Löscharbeiten meist nur in privatem Rahmen vorgenommen werden. Es hatte ja keinen Alarm gegeben und so waren die meisten Leute in ihren Wohnungen überrascht worden. Eigentlich ein Glück für so manchen, denn da offenbar ein größerer Teil der Brandbomben wohl mit Zeitzündern eingestellt war, hat manch einer die jeweils drei Minuten nach dem Aufschlag bis zum Entzünden der Bomben genutzt, sie aus den Häusern zu werfen.
Die Bautzner Straße ist gepflastert und den Pflastersteinen können die Phosphorkanister nur wenig anhaben. In Höhe der Pulsnitzer Straße hat eine Sprengbombe den Mast der Oberleitung der Straßenbahn wegrasiert. Das Kabel liegt auf dem Boden. Wir wollen ihm lieber nicht zu nahe kommen. Keine Ahnung, ob darin noch Strom ist. Bin ich ein Elektriker?
»Jakob?«
»Ja.«
Carola bleibt stehen und druckst ein wenig herum.
»Na, nun sag schon.«
»Bist du sehr böse, wenn ich dich bitte, ein paar Minuten zum Friedhof zu gehen?«
»Nein. Jetzt können wir uns das leisten. Als Arier dürfen wir überall hingehen. Na los.«
Das Synagogengebäude scheint bis auf die Schäden von 1938 weitgehend unversehrt zu sein, aber das Tor zum Friedhof ist fest verschlossen. Wir schweigen und denken an unsere Freunde, mit denen wir uns früher hier getroffen hatten.
»Wenn ich nur wüsste, was die Thora dazu sagt, ob ich mit einem falschen Pass beten darf?«, murmel ich.
»Ich halte diese Frage für eine Auslegungssache. Müssen wir späterhin mal mit einem Rabbi drüber reden. Im Augenblick würde ich sagen, natürlich darfst du, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir begehen ja mit dem falschen Pass kein Verbrechen, sondern versuchen den Verbrechen, die man uns antun will, zu entgehen. Es ist mir als arische Frau ja auch nicht verboten, in einer Synagoge zu beten. Und du darfst ja als ... hm«, sie schaut sich um, ob uns jemand zuhört, »in jede andere Kirche gehen. Nur eben nicht in Deutschland. Aber könnten wir später darüber reden?«
»Du hast recht. Gehen wir. Ich bin viel zu sentimental.«
Carola wirkt die nächsten Minuten sehr bedrückt. Wir passieren das ›Theater des Volkes‹ vorm Albertplatz. Wir biegen nach rechts in den Straßenkreis um den Platz in Richtung Königsbrücker Straße. Dort, nur weiter draußen, hat Erich Kästner gewohnt, als er ein kleiner Junge war.
»Meinst du, ob wir jemals wiederkommen werden? Nach Dresden?«, fragt Carola.
»Schwer zu beantworten. Das hängt von mehreren Dingen ab. Ob wir überleben werden. Ob Dresden russisch werden wird. Ob es Dresden überhaupt noch geben wird.«
»Oh Gott, wie meinst du das?«
»Na, schau dich mal um. Ein paar weitere Angriffe, und nichts bleibt mehr übrig. Und dann könnte es möglicherweise vernünftiger sein, wenn wir uns an das ehemals schöne Dresden erinnern.«
Carola setzt sich auf eine Gartenmauer und beginnt zu weinen. Tja, was soll ich sie anlügen? Ich lasse sie gewähren. Weinen fällt nicht im Geringsten auf. Das ganze Land ist ohnehin in beinahe jedem Winkel ein Tal der Tränen.
Nach einer Weile beruhigt sich Carola. Sie schnäuzt in ihr Taschentuch, das sie stets im Ärmel mit sich führt. »So, jetzt ist mir besser.«
»Das ist gut. Sollen wir weiter? Kannst du wieder?«
»Ja. Wie wäre es denn, wenn wir uns zunächst in die Sächsische Schweiz begeben. Vielleicht ist der Weg dorthin nicht so mit Flüchtenden verstopft. Und von dort aus wäre es nur ein Katzensprung bis in die Tschechei. Und dann so schnell wie möglich bis nach Bayern. Mit unserem Reisepass müsste das doch gehen.«
Diesen Vorschlag lehne ich vehement ab. »Es erscheint mir schon unsicher genug, im Reich unbeschadet voranzukommen, aber zweimalige Grenzübertritte halte ich für absoluten Wahnsinn, besonders in diesen verrückten Tagen. Großdeutschland schrumpft zwar wie Schnee in der Maisonne, aber Wachen gibt es mit absoluter Sicherheit an allen Ecken und Enden. Außerdem gilt unser Reisepass nur für das Reichsgebiet. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, ob die Tschechei noch zum Reich gehört. Lass uns lieber nichts riskieren.«
»Entschuldige, das habe ich einfach vergessen.«
»Wenn wir so wenig wie möglich auffallen und unsere Geschichte glaubhaft vortragen ...«
»Welche Geschichte?«, fällt sie mir ins Wort.
»Na, die Geschichte, dass wir in Dresden als gute Volksgenossen ausgebombt seien und uns nun auf der Flucht zu Verwandten gen Süddeutschland befänden, erscheint mir glaubwürdig. Ich hoffe außerdem darauf, dass sich viel zu viele Menschen auf der Flucht befinden, als dass man alle auf ordentliche Papiere hin kontrollieren kann. Mal ganz davon abgesehen, dass wir nahezu ordentliche Papiere besitzen.«
»Du hast ja recht. Junge, Junge, ich kenne dich überhaupt nicht mehr. Bist ja schon fast wieder ein Jurist.«
»Danke vielmals, das könnte recht hilfreich sein. Lass uns weitergehen, es wird schnell dunkel, befürchte ich.«
Rund um den Neustädter Bahnhof sieht es ähnlich aus wie gestern rund um den Altmarkt. Hier haben die Brände richtig gewütet und die Feuer erhellen die Umgebung gespenstisch. Rings um den Schlesischen Platz warten zahllose Leute auf den Abtransport, die wohl von dem Angriff ohne Vorwarnung blutig getroffen wurden.
Der Platz ist geradezu übersät mit zum Teil noch dampfenden Leichen und schwelenden Wagentrümmern. Unter einigen Pferdeleichen ragen Menschenbeine hervor. Wenn sie nicht durch die Detonationen getötet worden waren, sind sie wahrscheinlich unter den schweren Pferdeleibern hilflos verreckt. Der Gestank nach verbranntem Fleisch überschreitet jegliches Maß menschlicher Vorstellungskraft. Verbrannte Frauenleichen halten ebenso schwarzverbrannte Kinder an sich gekrallt. Soldaten mit verbogenen Gewehren liegen seltsam verkrümmt daneben. Am Rand des Platzes liegt eine auf die Seite gekippte Gulaschkanone. Leute schaben mit bloßen Händen darin nach essbaren Resten. Soldaten mit verrußten Gesichtern hocken apathisch beieinander. Die schützende Gemeinschaft hat sich diesmal als trügerisch gezeigt. Von herumfliegenden Trümmern, Steinen und Splittern sind viele Gesichter zerschlagen, Münder zerquetscht, Kleidung zerrissen. Nicht wenige Leichen liegen gänzlich unbekleidet auf dem Platz. Bei manchen sieht man, dass die Kleidung auf der Haut verbrannt sein muss, andere wirken unverletzt, als hätte der Sturm sie ausgezogen. Wie muss es wohl sein, die letzten Sekunden in schutzloser Nacktheit zu erleiden?
Wir mühen uns durch die zähe Masse der Leute hindurch in Richtung Bahnhofsgebäude. Selbst im Gebäude liegen unzählige Leichen. Auf der rechten Seite, wo es normalerweise zu den Bahnsteigen geht, hat man Munitionskisten gestapelt, auf diese Stapel Bretter gelegt und mit eitrig gelben Wachstüchern bedeckt. Militärärzte operieren auf diesen improvisierten Operationstischen. Und plötzlich begreife ich, dass die Tücher gar nicht aus gelblichem Wachs bestehen, sondern von tatsächlichem Eiter und Exkrementen gefärbt sind. Beine und Arme werden ohne Betäubung amputiert. Die Ärzte fackeln nicht lange, so viele Verletzte warten auf eine Behandlung. Eine regelrechte Schlange aus Hilfe suchenden Verletzten hat sich davor gebildet. Zwei Sanitätsgefreite nehmen anscheinend die Erstuntersuchungen vor und entscheiden dann, wer auf dem Tisch aus Eiter, Blut, und weiß der Himmel was, landet. Entfernte Organe und Gliedmaßen werden achtlos zu Boden geworfen. Die Ärzte stehen in einem Matsch menschlichen Abfalls. Nicht zu fassen!
Leichtere Brandwunden und Verletzungen werden von einem weiteren Sanitäter versorgt. Er pinselt irgendeine rötlich braune Salbe oder Flüssigkeit auf die Wunden. Natürlich, jetzt muss sich mein Auge wie durch feine Nadelstiche melden. So lange ich die Wunde vergessen habe, schmerzte sie nicht. Nun puckert sie wie wild. Aber hier möchte ich mich nicht einpinseln lassen. Danke schön. Ich schiebe Carola vor mir her durch die Menge zu den Bahnsteigen.
Das Dach des Bahnhofs liegt zertrümmert auf den Schienen. Dort wird in den nächsten Stunden vermutlich kein Zug abfahren. Zu schade.
Die Dämmerung legt sich wie ein Tuch über Dresden und kündigt die Nacht an. Wo finden wir bloß ein Quartier? Weder die Menschen draußen noch die drinnen können auch nur annähernd untergebracht werden. Früher haben die Frauen vom NSV wenigstens Stullen und Tee ausgeschenkt. Dieser Verein scheint ebenfalls nicht mehr zu existieren. Nichts ist von der früheren Ordnung mehr zu spüren. Die Behörden lassen die Menschen einfach im Stich.
Die Dunkelheit veranlasst zu allem Übel immer mehr Menschen, das Innere des Bahnhofs aufzusuchen und eine Menschenwelle drängt die Treppen zu den Bahnsteigen hinauf. Der Druck der Folgenden schiebt uns weiter den Bahnsteig entlang. Wir schieben Körper an Körper in der Masse Mensch. Geruch nach verbrannten Haaren mischt sich mit dem von verbrannter Kleidung, Schweiß und feuchten Wunden. Die Luft trägt den sauren Brandgeruch der Umgebung.
Die ersten Menschen stürzen von den Bahnsteigen auf die Schienen. Andere springen angesichts dieser vermeintlichen Lösung der Enge hinterher und trampeln die vorher Gefallenen rücksichtslos zu Tode. Männer schlagen wild um sich, Frauen versuchen Kinder zu schützen und schreien, sobald sie von der nachrückenden Menge zu Boden gedrückt worden sind. Es beginnt ein sinnloser Kampf einer tollwütigen Meute um nichts.
»Lass uns abhauen, Carola.«
»Wie denn?«
»Weg von den Treppen, die erreichen wir sowieso im Leben nicht mehr. In die andere Richtung und dann auf den Schienen weiter. Los komm.«
Wir gewinnen etwas Abstand zu der nachdrängenden Meute und haben endlich genügend Platz zum Laufen. Das Ende des Bahnsteigs liegt weit außerhalb des Daches des Bahnhofsgebäudes. Ich zähle einhundertundvierundzwanzig Schritte, bis wir am Ende des Bahnsteigs die Treppe zu den Schienen hinunter erreichen. Die schreiende Masse liegt gottlob weit zurück.
»Die hätten uns glatt totgetrampelt«, schnaufe ich atemlos, den Koffer fest in den Händen.
»Wie die Tiere«, bestätigt Carola. »Wo willst du denn hin?«
»Auf den Schienen entlang, so weit wie möglich weg.«
»Auf den Schienen?«
»Ja. Die Gleise führen in Richtung Cottbus. Meinetwegen gehen wir bis dorthin zu Fuß. Unter irgendeiner Brücke werden wir übernachten, was weiß ich. Lass uns erst mal gehen. Nur weg!«
Wenn man auf Bahnschwellen langgeht, muss man einen gewissen Rhythmus finden, um nicht zu stolpern. Das geht nach recht kurzer Zeit besser als erwartet. Bloß, dass man unentwegt nach unten schauen muss, um nicht zwischen den Bahnschwellen zu stolpern. Carola hält mich am Arm fest.
»Schau mal da vorn.«
Ich blicke auf. Vor uns brennen Lichter. Die unverkennbare Scheinwerfersilhouette einer Lokomotive, ein leuchtendes Dreieck.
»Sofort vom Gleis runter!«, rufe ich Carola zu. »Es reicht ja, wenn der Zug gleich die Menschen im Bahnhof zerquetscht. Wir müssen ja nicht vorher dran glauben.«
Wir springen die Böschung hinunter und hocken uns ins Schotterbett. Nach einer Weile traue ich mich, den Kopf zu heben und suche nach den Lichtern. Sie scheinen unverändert am selben Platz geblieben zu sein.
»Du, der kommt gar nicht näher.«
»Der darf bestimmt nicht in den Bahnhof einfahren, zur Sicherheit«, vermutet Carola. »Ich habe eine Idee. Wenn wir auf dem rechten Gleis weitergehen - ich weiß du magst rechts nicht - kann der Zug von vorne doch nicht gefährlich sein. Und von hinten kann schließlich kein Zug durch den Bahnhof kommen.«
»Stimmt eigentlich. Gut, machen wir. Lass mich hinter dir gehen. Ich schau trotzdem lieber öfter mal zurück.«
Wir klettern den Bahndamm wieder hinauf und balancieren auf dem rechten Gleis weiter. Alle paar Sekunden schaue ich mich um. Keine Gefahr. Das Scheinwerferdreieck der Lokomotive vor uns nähert sich nun langsam. Das heißt, wir näheren uns. Alles ist relativ, Herr Einstein, nicht wahr? Noch vor der Brücke über die Lösnitzstraße erreichen wir den Zug, der vor einer Weichenanlage steht.
An die Lokomotive sind offenbar einige Güterwaggons gehängt. Ein Soldat mit einer Batterielampe leuchtet uns entgegen.
»Mollwitz, sin Sie das? Ei verbibbsch, wer sin denn Sie? Da brat ma doch eener ‘nen Storch, aber de Beene recht saftich! Wie gomm Sie denn hier her? Geloofn?«
Wir steigen über den linken Bahndamm und stehen neben einem Feldwebel im Schotterbett.
»Jawohl, Herr Feldwebel.«
»Was ’n los da vorn? Mer gönn nämlich nich durch. Meen Melder is schon underwegs, fragn, wie wa weidergomm. Und wo wolln Sie hin? Zu de Russen?«
»Nein, nach Bayern. Dresden ist heute dreimal gebombt worden. Also gestern und heute. Wir haben alles verloren und wollen nach Süddeutschland zu Verwandten.«
»Süddeutschland? Zeichen Sie mol Ihre Papiere!«
Jetzt nicht zucken, Jakob. Nonchalant ziehe ich unseren Reisepass aus der Innentasche des Mantels und reiche ihn dem Feldwebel. Der blättert, betrachtet das Bild, schaut mich an. Dann mit Carola das Gleiche.
»Ach, Sie gomm aus München. Denn is ja gut.«
Er reicht mir den Pass zurück. Im gleichen Augenblick höre ich ein Krad näher kommen. Der Feldwebel verliert sogleich jedes Interesse an uns. Das muss wohl der Melder sein. Er spricht einige Zeit mit dem Feldwebel und fährt dann zum letzten Waggon. Über eine Rampe lenkt der Melder das Krad dort hinein. Der Feldwebel kehrt zu uns zurück.
»Mer müssen nu über Moritzburch und Meißen und denn um Dresden herum zurück zum Hauptbahnhof. Von dort gehn noch Züje in Westen. Wolln Sie mitgomm?«
Wir blicken uns an. Zurück nach Dresden? »Dresden ist doch kaputt. Was wollen Sie denn bloß dort?«
»Verflägung und Befehle holen. Nu, wolln Sie nich mitgomm? Ze Fuß is och Käse.«
»Warum nicht mal unter dem Schutz unserer geliebten Wehrmacht reisen?«, sage ich zu Carola. »Wir nehmen Ihre Einladung gerne an, Herr Feldwebel. Danke und Sieg Heil.«
Er hebt müde eine Hand an die Mütze, führt uns zum ersten Waggon und hilft Carola einzusteigen. Mir natürlich nicht (Sauhund, blöder). Soldaten sitzen darin und machen Platz für uns. Den Koffer reiche ich Carola in den Waggon und klettere dann selbst rein. Wir setzen uns auf ihn. Von draußen hört man den Feldwebel deutlich mit jemandem sprechen. »Was fürn gomischer Beglobbder. Sacht der Affe Siech Heil zu mir. Bestimmd een hohes Tier. Dürfen wir nich dumme gomm dem Herrn. Na los. Abfohrt!«
Der Zug ruckt an. Wir fahren umgeben von Soldaten des Reichs zurück ins zerstörte Dresden. Schon wieder ein völlig neues Scheißgefühl, scheint sich zu potenzieren. Vielleicht durch Zellteilung?
Bitterkalt zieht die rauchige Luft in den Waggon. Wenn man wenigstens die Tür zuschieben könnte. Wird wahrscheinlich verboten sein. Ein Obergefreiter räuspert sich und spricht uns an: »Haben Se wat dajejen, dat wir de Tür zoo mache?« Er spricht mit dem breiten Dialekt der Rheinländer. »Dat stink zwar mehr, äwwer dafür isset dann nich so eklich kalt.«
Carolas Blick drückt aus, was auch ich denke: Wieso fragt der uns? Das kann nur an der Aussage des Feldwebels liegen. Anscheinend halten die Männer uns wirklich für Bonzen. Nie gewusst, dass ein Rheinländer einen Sachsen versteht.
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, antwortet Carola. »Danke schön.«
»Brauchste mich nix für ze danke.«
Er löst den Riegel und schiebt die Tür mit Schwung ins Schloss. Nun herrscht zwar absolute Dunkelheit, dafür bleibt uns der eisige Wind erspart. Etwas Blechernes klappert. Dann ein Knistern. Vermutlich sind Carola und ich die Einzigen, die nichts erkennen können. Soldaten haben sicherlich geübtere Augen. Erneutes Scheppern, dann ratscht es und Funken sprühen. Eine winzige Flamme erhellt den Waggon ein wenig. Das Licht wandert zum Boden hin und auf einmal erleuchtet eine bläulich schimmernde Flamme den Raum. Auf dem Deckel eines Kochgeschirrs erkenne ich einen Esbitkocher, auf dem ein weißer Würfel munter brennt. Die Helligkeit beruhigt.
Der Soldat, der den genialen Einfall gehabt hat, ein Feuer zu entfachen, greift zum Unterteil des Kochgeschirrs und gießt aus einer Feldflasche ein wenig Flüssigkeit in das Behältnis. Dann stellt er diesen kleinen Topf auf die Flamme. Ein betörender Duft nach Rum verbreitet sich im Waggon.
»Mensch, Kuddel, du bist mir aber eine gute Idee, du. Mehr hast du nicht? Sch... Komm, ich habe noch eine ganze Flasche. Ist genau das Richtige und wärmt prächtig.«
Der dunkle Inhalt dieser Flasche wird nun ebenfalls in den Unterteil des Kochgeschirrs, eben den kleinen Topf geschüttet.
»Franz, hast du etwas Zucker?«
Der Angesprochene kramt eine Papiertüte aus der Jackentasche hervor. Brauner Zucker rieselt daraus in den Topf. Mit einem Spatel wird die Brühe umgerührt. Nach einiger Zeit beginnt das Gebräu zu dampfen. Der Rheinländer will wissen, ob irgendjemand Wasser bei sich hat, um einen Grog zu kochen.
»Wasser?«, regt Kuddel sich auf. »Wasser, pfui S-pinne. Bissu bescheuert? Wissu uns vergiften? Bei uns trinken wir pur. Bei so ’n Sauwedder glatt zum Frühs-tück.«
»Sie kommen aus Hamburg?«, frage ich. Wie lange bin ich nicht mehr in Hamburg gewesen.
»Nein, das ja nu grad nich. Ich bin aus Sankt Pauli, aber da liecht Hamburg gleich bei. Wolln Se ein lütten Schluck?«
»Nein, danke. Ich habe sehr lange keinen Schnaps mehr getrunken. Ich befürchte, das wird mir nicht bekommen.«
»Heiliger Sankt Georg, das is doch kein Schnaps nich. Da is Zucker drin. Aba wer nich will, der hat schon. Prost. Na, Deern, willst du?«
»Gerne, Kuddel. Darf ich Kuddel sagen?«
»Is gemacht, Prost min Deern.«
Er reicht Carola den Topf. »S-top, nicht unten drunter fassen, da isser bannig heiß.«
Carola setzt den Topf an den Mund und probiert einen Schluck. »Hui.« Dann trinkt sie noch etwas und reicht den Topf zurück. »Superklasse!«
Kuddel wächst im Sitzen.
»Die Deern ist richtig«, sagt er zu mir und zwinkert. »Mann, hast du ein Glück.«
»Glück haben heute nur die Juden«, meldet sich eine Falsettstimme aus dem Hintergrund. Nur der Wind und die Räder auf den Schienen sind plötzlich zu hören.
»Halt endlich dein blödes Maul, Paul.« Kuddel, der Hamburger schüttelt den Kopf. »Das dürfen Sie dem S-tink-s-tiebel nich übel nehmen, der is nich mehr ganz dicht in seiner Mansarde.«
Das Falsett quäkt lauter. »Die Juden sind an allem schuld. Und ich erkenn einen auf zehn Schritt Entfernung. Die sind schuld, die sind schuld, die sind schuld!« Der Mann, der Paul genannt wird, gibt rasselnde Laute von sich. »Rrrrr sssscht rrrr.« Dabei schwingt er im Sitzen hin und her und lässt den Kopf kreisen, mit an die Ohren gepressten Hände. »Rrrrr ssscht rrrr.«
Kuddel schließt die Augen, verzieht den Mund und schüttelt leicht den Kopf.
»Ist nur ein Anfall. Das arme Schwein saß in einem Loch, über dem ein T 34 wie ein Schaufelbagger kreiste, um das Loch zuzuschütten. Machen die Russen oft und die Kameraden ers-ticken. Wenn man die dann wieder ausbuddelt, s-tehen den Jungs die Zungen kerzengerade und s-tock-s-teif weit aus dem Mund.« Kuddel weist mit dem Kopf zu Paul. »In jenem T 34 s-teckten anscheinend besondere Sadisten. Die haben nämlich die Erde im Loch nicht endgültig zusammengequetscht, sondern sind etwas zu früh losgefahren und Paul hat nun s-tändig diese Anfälle. Nehmen Sie es dem armen Deibel nich übel.«
Carola hält eine Hand vor den Mund. »Was tun Menschen anderen Menschen an?«
»Alles«, erwidert eine Bassstimme. »Alles, um der blutigen Hure Krieg zu dienen. Alles, für Volk und Vaterland. Ist in jedem Land dasselbe. Darauf wollen wir trinken.«
Der Topf macht die Runde und jeder trinkt einen kleinen Schluck. Muss ich wohl auch, wenn ich mich nicht blamieren will, überlege ich kurz und nippe ebenfalls. Das Zeug brennt mir beinahe die Zunge weg. »Meine Zeit. Wie viel Prozent hat denn der Rum?«
»Dat is een echten, der hat achtzig Umdrehungen. Bannig gut, nich?«
Ich nicke vorsichtshalber. Mit dem Zeug kann man bestimmt Auto fahren.
»Nu noch ein Hamburger Butterbrot dazu, und die Welt ist parat.«
»Hamburger Butterbrot?«, fragt Carola. »Was ist das?«
»Kennst du nich? Na, da musst du ‘ne Scheibe Schwarzbrot dick buttern und ein halbes Runds-tück darauf.«
Carolas Miene drückt Unverständnis aus.
»Er meent ne halbe Schrippe«, bemüht sich ein Berliner zu erklären.
»Ach eine Fettbemme«, meint Carola. »Ja, das wäre jetzt was.«
»Ham wa nich, Furage jibt et erst in Dresden, hat der Spieß jesacht. Aber een Schokakola könnt ihr kriejen.«
Mit einem Mal sind wir anscheinend keine großen Tiere mehr, sondern eher so etwas wie zivile Kameraden. Ein anderer Soldat dreht eine Zigarette, zündet sie an und hält sie Carola hin.
»Möchten Sie einen Zug?«
»Man sollte alles im Leben einmal probieren«, antwortet sie und pafft ein paar Wölkchen. Dann wandert die Zigarette im Kreis, selbstverständlich gefolgt vom nachgefüllten Rumtopf.
»Wo sind Sie stationiert?«, frage ich.
»Stationiert? Na, Sie machen mir Spaß. Vor zwei Wochen standen die Russen an der östlichen Seite der Oder. Glauben Sie, wir wollten warten, bis die herüberkommen? Da ist nichts mehr zu retten. Jeder will jetzt nur nach Hause. Unser Zugführer ist ein feiner Kerl. Er war schon auf der Krim. Er hatte dort immer gesagt: ›Die Führung hat uns nach Russland geschickt, als wäre es eine Ferienreise, und ich sehe nun zu, dass ich uns bis nach Hause bringe!‹ Nun verteidigen wir das großdeutsche Reich eben auf Reichsgebiet. Bis hierher hat es geklappt. Auch die Reichsheinis können kaum noch jemanden mehr beeindrucken. Die Befehlsstrukturen sind längst am Ende. Und wenn sich mal ein Wichtigtuer aufspielen will, hat er schnell eine Kugel im Kopf, wir halten unsere Köpfe nicht mehr hin.«
Der Zug ruckt plötzlich und bleibt dann stehen. Eine Zeit lang geschieht nichts. Dann wird die Tür des Waggons geöffnet. Der Feldwebel steht draußen. Beim Sprechen wird der Atem sichtbar. »Der Logführer sacht, dass mer bei Coswig über de Elbe gönn. Nu fährt der Melder hin und guckt ob mer da durch gönn.« Er schaut in die Runde und blickt uns dann an. »Nu, benähm die sich?«
»Wir können uns nicht beschweren, hoffentlich Ihre Leute auch nicht.«
Im Waggon wird dies in mehreren Dialekten bestätigt. Die Tür wird wieder geschlossen.
»Weswegen will denn der Mann unbedingt nach Dresden? Die Stadt liegt in Schutt und Asche«, sagt Carola.
»Wir können nicht einfach so durch die Gegend fahren«, antwortet eine Stimme. »Das wäre Fahnenflucht. Wir müssen uns an dem einen oder anderen Sammelpunkt einfinden und dann weitersehen. Das bedeutet in diesem Fall nun mal Dresden. Ist ein Sammelpunkt für die halbe Ostfront. Dresden ist uns wurscht. Aber nur von dort aus können wir uns einen Marschbefehl an die Westfront organisieren. Und dann über die Elbe, so schnell wie möglich. Wenn die Russen hinterherkommen, über die Weser. Und wenn die Alliierten dann immer noch nicht da sind, meinetwegen über den Rhein. Bloß nicht in russische Gefangenschaft. Wen die in die Finger kriegen, der hat nichts mehr zu lachen. Für die Russen sind wir allesamt nur die Nazischweinehunde. Ich war nie in der HJ, nie in der Partei, mich haben die Kerle direkt vom Abitur in den Reichsarbeitsdienst gesteckt, mit der Schippe auf der Schulter Rollbahnen bauen. Im Sommer 1939 musste ich die Schippe mit der Knarre tauschen, haben mir die Sauhunde Griffekloppen beigebracht. Und seit fast genau fünfeinhalb Jahren muss ich fremde Leute totschießen und aufpassen, dass die mir nicht zuvorkommen. Wer mir ans Fell will, stirbt auf der Stelle. Sie werden mich nicht verstehen können, aber mein Standpunkt ist unverrückbar: Mich können alle mal!«
Wir schweigen und die Soldaten beobachten uns sehr genau. Sind wir nun Bonzen oder keine?, steht in den Gesichtern geschrieben. Carola bemüht sich zu lächeln. Es misslingt völlig. Tränen schießen in ihre Augen.
»Ich kann Sie sehr gut verstehen. Es bleibt wohl wirklich nichts, als die eigene Haut zu retten. Selbst wenn es schade um die Städte ist. Meine Heimatstadt Dresden ist restlos kaputt. Und es war bis gestern eine wunderschöne Stadt. Trotz Nazis und Krieg. Wenn ich es genau bedenke, müssten wir den Fliegern sogar dankbar sein, dass sie unser Land zerstören. Auch wenn es uns noch so wehtut. Nur die armen Schweine, die diesen ganzen Schlamassel ausbaden müssen, die tun mir leid.« Sie verschränkt die Arme über den Knien, stützt den Kopf darauf und weint, wie schon vor Stunden am Albertplatz.
Der Zug ruckt an. Unsere Reise nach München geht anscheinend weiter. Obwohl wir vorher erneut in Dresden Station machen müssen. Unsere Stadt lässt uns nicht los.

8.

Eine Stimme weckt mich. »Wir sind in Dresden.«
Die Waggontür steht offen und ich erkenne haufenweise Soldaten draußen. »Carola, wach auf. Wir sind wieder zu Hause.«
Unser Zug steht im Hauptbahnhof. Gleis 14. Der Feldwebel hat seine Männer auf dem Perron um sich geschart. »Nu müssen Sie selbst sehn, wie Sie weitergomm. In der Nacht fährd geen Zug mehr weiter. Ist zu gefährlich.«
Mit steifen Gliedern klettern wir aus dem Waggon. Die Gelenke schmerzen heftig. Ich nehme den Koffer und wir bedanken uns bei dem Feldwebel und unseren Reisegefährten. »Wir wünschen Ihnen allen sehr viel Glück, meine Herren.« Wir schütteln sogar einige Hände. Der Bahnhof wimmelt von Soldaten. Sehr viele Verwundete sitzen auf den Bahnsteigen. Befehle gellen durch die Halle. Ärzte und Sanitäter haben alle Hände voll zu tun. Wir schieben uns langsam dem Ausgang entgegen. Das Gewimmel gleicht dem auf dem Neustädter Bahnhof, aber von Panik ist nichts zu spüren.
An jeder Ausgangstür stehen je zwei Feldjäger und kontrollieren jeden, der den Hauptbahnhof verlassen will. Ganz besonders akribisch werden Soldaten kontrolliert. Wir stehen in einer der Schlangen an der Tür ganz rechts.
»Papiere!«, bellt ein Feldjäger mit Blechschild vorm Hals, als wir an der Reihe sind. Ich reiche ihm unseren Pass. Er sieht uns äußerst genau an, vergleicht gründlich die Ähnlichkeit mit den Fotos. Blättert im Pass und schaut dann immer wieder prüfend. »Sagen Sie mal«, herrscht er mich an und senkt die Augenbrauen, »wieso haben Sie Ihr Auge mit solch fettigem Zeug eingeschmiert? Das entzündet sich womöglich noch.«
»Ich habe gestern während des Angriffs eine Tür vors Gesicht geschlagen bekommen. Die Salbe soll den Schmerz lindern.«
»So, so, gestern waren Sie also in Dresden während der Angriffe. Und heute Nacht kommen Sie mit dem Zug hier am Bahnhof an. Das stinkt doch.«
Carola versucht mit Charme zu bestechen. »Nein, Herr Offizier. Wir sind gestern nach dem zweiten Angriff - unsere Wohnung in der Prager Straße ist durch Bomben völlig zerstört - auf die andere Seite der Elbe gegangen. Wir hatten gehofft, dort ein neues Quartier zu bekommen. Aber unsere Suche blieb erfolglos. Dann sind wir drüben vom dritten Angriff überrascht worden. Danach hatten wir vor, vom Neustädter Bahnhof aus einen Zug in Richtung München zu bekommen, weil wir dort Verwandte haben. Im Bahnhof drüben brach Panik aus und wir sind dann gelaufen, bis wir endlich auf einen Zug trafen, der leider nur nach Dresden zurückfuhr.«
»Sie haben Verwandte in München?«
Jetzt übernehme ich die Antwort. Frechheit steh mir bei.
»Ja. Wir kommen ursprünglich aus München. Ich bin Schauspieler in Dresden am Staatstheater. Ich bin beruflich hier und ich habe in meinem Schminkkoffer (muss ich mir unbedingt zulegen, was mach ich, wenn der Kerl den sehen will? Chuzpe!), den ich für die Bühne brauche, auch Fett. Manchmal ist die Schminke nicht sauber - man muss ja beim Theater immer geschminkt sein - und um keinen Ausschlag zu kriegen, nehme ich halt Fett. So wie jetzt auf dem Auge. Sie haben mich doch bestimmt schon mal im Theater gesehen? Oder?«
»Verschonen Sie mich mit dem Quatsch. Ich habe Wichtigeres zu tun als Kasperkram!«
Ich stehe stramm und hebe zackig die rechte Hand. »Jawoll! Sieg Heil!« (Der Nonne hätte das sicherlich gut gefallen.) Die Feldjäger schauen sich an, ich erhalte den Pass zurück und wir dürfen passieren. Den ganzen Weg die Bismarckstraße entlang, bis zum dazugehörigen Platz sagen wir kein einziges Wort. Erst als wir am Lindenauplatz links in die Goethestraße einbiegen, redet Carola.
»Ich wäre beinahe vor Angst gestorben.«
»Ich ebenso, das kannst du mir glauben.«
»Den Hitlergruß hast du sehr gut im Repertoire, Herr Schauspieler am Staatstheater.«
»Nun, wir Künstler sind eigentlich sehr vielseitig. Wir müssen uns schließlich stets in die Mentalität der anderen hineinfühlen. Feldjäger gehen vermutlich nicht ins Theater, ich schätze, dass sie Hamlet für etwas Kurzgebratenes halten, die haben nur Prügeln im Hirn.«
Carola greift nach meiner Hand. Wir bleiben stehen. »Jakob?«
»Aua, was denn?«
»Ich glaube, ich liebe dich.«
»Das wäre möglicherweise von Vorteil. Gelegentlich werde ich darauf zurückkommen. Wo kommen bloß die vielen Gespanne her?«
Wir sind gerade unter der Brücke durchgegangen, über unseren Köpfen rumpelt ein Zug und nun stehen wir auf der Wiener Straße. Überall sind Fuhrwerke und Gespanne am Straßenrand abgestellt. Das müssen Fahrzeuge der unzähligen Flüchtlinge sein. Aber solch eine Menge habe ich zuvor noch nicht gesehen. Bei jedem Fahrzeug steht oder sitzt mindestens ein Mensch. Werden wahrscheinlich Wache halten, um nicht auch das Letzte zu verlieren. Armselige Gestalten bewachen armselige Habseligkeiten, so kommt es mir vor.
»Wo wollen wir hin?«, fragt Carola.
»In den Großen Garten. Dort könnte es vielleicht möglich sein, ein Plätzchen für die Nacht zu bekommen.«
»Das glaube ich nicht. Schau dir die vielen Leute an, die hier herumlaufen. Wie viele mögen es erst im Garten selbst sein?«
»Werden wir ja sehen.«
Wir betreten den Großen Garten an der Bürgerwiese und geraten sogleich wieder in eine unüberschaubare Menschenmenge, die langsam und ziellos die Wege entlangwandert, wie schon an den beiden Elbufern. Die Ilgenkampfbahn ist so restlos von Menschen belegt, dass man selbst aus dem Becken des Günzwiesenbads offenbar das Wasser abgelassen hat, damit Menschen im Becken Platz finden. Das Hygienemuseum am Lingnerplatz wirkt nicht annähernd mehr hygienisch. Die ganze Umgebung stinkt nach Urin und Exkrementen. Wir biegen in die Hauptallee ein. Das Gedränge nimmt ständig zu. Rund um das Palais liegen Menschen dicht an dicht gedrängt. Es gibt wirklich keinen Platz mehr für uns. Wir biegen in die Querallee ab und verlassen den Großen Garten an der Tiergartenstraße.
»Du hattest recht. Dort werden wir kein Plätzchen mehr finden.«
Ein Junge mit Pubertätspickeln im Gesicht, in zerschlissenen Hosen mit Seemannspullover, hat uns wohl beobachtet und tritt zielsicher zu uns.
»Suchen Sä een drocknen Platz?«
»Ja, das tun wir.«
»Do hab ich was, do gönn Sä pennen. Kost aber zwo Mark per Neese.«
»Ist in Ordnung.«
»Na denn gomm Sä mal mit.«
Wir folgen dem Jungen bis zum Bahnhof Strehlen. Vor dem Bahnhof liegen überall Menschen auf dem blanken Betonboden. In einer Ecke vor dem Durchgang zum Abort bleibt der Junge stehen. Vor uns liegen zwei weitere Jungen in viel zu großer derber Kleidung.
»De Plätze gönn Sä haben.«
Auf dem Boden vor einem Bahnhofsklo werden wir also übernachten. Für vier Mark.
»Hm, was meinst du, Carola?«
»Besser hier liegen und dösen, als weiterhin draußen herumlaufen. Greif zu, Jakob.«
Der Junge grinst, tritt den beiden am Boden Liegenden gegen die Füße.
»Na hopp!«
Die Jungen rappeln sich auf. Carola hockt sich sofort hin, zieht den Rucksack von den Schultern und massiert ihre Beine.
»Vier Mark.«
Ich ziehe einen Fünfer aus der Manteltasche und reiche dem Jungen den Schein. Er nimmt ihn, hält ihn ins Licht, als wenn er von mir mit Falschgeld hätte rechnen müssen. Unverschämter Lauser, denke ich, und halte die Hand hin, um das Wechselgeld zu bekommen. Stattdessen schubsen mich die beiden anderen Jungs, dass ich schmerzhaft auf dem Boden lande. Blitzschnell sind alle drei aus dem Bahnhof verschwunden. Hinterhältige Bande. So etwas hätten wir uns als Jugendliche nicht erlaubt. Na ja, sind eben Kinder dieser Zeit. Mann tut das weh, wenn man so spontan auf Steinboden hingesetzt wird. Ich habe das Gefühl, der Steiß ist im Gehirn angekommen.
»Lass sie laufen«, sagt Carola. Na danke schön, die hat gut reden, sie ist ja nicht auf dem ... gelandet. »Hauptsache, wir haben einen Platz, auf dem wir schlafen können.« Carola hat sich den Rucksack wie ein Kissen unter den Kopf gelegt.
»Wird nur besser sein«, schlage ich vor, »wenn wir abwechselnd schlafen. Einer sollte immer wach bleiben.«
»Wenn du meinst. Ich kann die Augen aber nicht mehr offen halten.«
»Schlaf du als Erste, Carola. Ich bin so aufgewühlt, ich werde sowieso nicht schlafen können. Höchstens ein wenig dösen.«
Das hört Carola offensichtlich schon nicht mehr, denn sie liegt ganz ruhig und atmet gleichmäßig. Schön, wenn man so einschlafen kann, beneide ich sie. Mir tut der Hintern weh. So eine Gemeinheit. Klaut der Bengel mir eine ganze Mark. Wenn ich mir nun vorstelle, ich hätte ihm einen Zehner oder sogar einen Zwanziger gegeben, nicht auszudenken. In dieser Art und Weise grübele ich verärgert. Denkbar unbequem das Ganze, muss ich feststellen, schiebe deshalb den Koffer bis ran an die Wand und setze mich darauf. Unbequemer Platz für fünf Mark, hadere ich mit dem Schicksal und lehne mich mit dem Rücken gegen das harte Mauerwerk. So ist es etwas besser.
»Magst du einen Schluck Tee?«
Ich schrecke hoch. Muss wohl eingeschlafen sein. Carola kniet neben mir, einen Blechbecher in den Händen, aus dem es dampft.
»Wo hast du den Becher denn her?«
»Die Partei schenkt Tee aus.«
»Aha.«
»Ist doch nett von Herrn Mutschmann.«
»Ist der nicht mehr Gauleiter?«
»Wieso?«, fragt Carola verständnislos.
»Weil du sagst Herr. Klingt wie eine Beförderung.«
»Jakob, halt den Mund. Nimm lieber einen Schluck Tee. Ich muss den Becher zurückgeben.«
Ich trinke einen Schluck. Farblos, geschmacklos mit einem Hauch Viehgeruch, als hätte man Stroh gekocht. Aber die Brühe ist zumindest heiß.
»Es scheint mehr als fraglich, ob heute noch Züge aus Dresden abfahren. Der Hauptbahnhof hat während des zweiten Angriffs viel mehr abbekommen, als wir gestern Abend bemerkt hatten. Anscheinend ist dort mittlerweile alles zusammengestürzt«, berichtet Carola. »Die Leute draußen reden von nichts anderem, weil alle so schnell wie möglich aus Dresden abreisen wollen. In den Großen Garten kommt man angeblich gar nicht mehr hinein, so viele Menschen haben sich rundherum eingefunden. Was sollen wir nur tun, Jakob?«
»Lass uns überlegen. Wie spät ist es?«
»Kurz nach neun. Weshalb?«
»Der Neustädter und der Hauptbahnhof sind zerstört. Das heißt doch nur, dass innerhalb Dresdens keine Züge fahren. Ich könnte mir gut vorstellen, dass zum Beispiel von diesem Bahnhof aus der Verkehr bald wieder anlaufen wird. Oder vom nächsten. Das wäre dann Niedersedlitz, glaube ich.«
»Ich verstehe. Du meinst, wenn wir wie gestern zu Fuß an der Bahn entlanggehen, werden wir vielleicht irgendwann auf einen Zug treffen.«
»Ja. Genau wie gestern Abend. Wir werden auf den Schienen laufen. Von mir aus auch bis Zwickau. Es kann ja nicht alles zerstört sein.«
»Was hältst du davon, ein Fuhrwerk zu suchen, das uns mitnimmt?«
»Eine schöne Vorstellung, aber wo willst du anfangen zu suchen?«
»Selbstverständlich rund um den Großen Garten. Dort wimmelt es nur so von Menschen und Fuhrwerken. Auf irgendeinem Wagen wird schon Platz sein. Also ehrlich, wenn ich mir vorstelle, die Schienen entlangzuhopsen. Nein, das passt mir absolut nicht. Komm, steh auf und lass es uns versuchen. Das kann nichts schaden. Vielleicht finden wir unterwegs sogar eine Kleinigkeit zu essen.«
Wo sie recht hat, hat sie recht. Komisch. Jahrelang hat man gehungert und sich an dieses Gefühl gewöhnt. Und kaum ist man aus der alltäglichen Lethargie gerissen, erscheint Hunger, Durst und Kälte wichtiger zu sein als Zerstörung und Tod. Wir Menschen sind doch sonderbare Tiere.
Das Aufstehen gestaltet sich bei mir unerwartet als recht schwierig. Den Gelenken hat die Nacht auf dem Steinfußboden nicht sonderlich gut getan. Die Vorstellung, in jenem schmerzenden Zustand auf den Schwellen der Gleise zu balancieren, gefällt mir nicht. Ich hebe den Koffer an. Der muss während der Nacht schwerer geworden sein.
Draußen hat das Gewimmel tatsächlich zugenommen. Es ist kaum möglich, durch die Menge der Leute rund um den Bahnhof voranzukommen.
Der in langsamster Bewegung strömende Menschenfluss, dieses ziellose Hin und Her die Straßen auf- und abwärts wirkt auf mich wie ein wabernder Ölfleck in einem Wassereimer. Früher, als wir noch an die Ostsee fahren durften, sind Carola und ich häufig die Strandpromenade entlangflaniert. Dort schlenderten ebenfalls die Menschenmassen. Hier hingegen wird nicht geschlendert, sondern die Massen schieben sich wie ein aufgewühlter Blumenkorso während der Auflösung. Und niemand findet den Ausgang.
Carola hat die Richtung zum Großen Garten hin eingeschlagen und ich folge ihr widerspruchslos, wie ein kleiner Junge an Mutters Hand. Jetzt sich nur nicht verlieren. Viel lieber möchte ich das Gedränge der Flüchtlinge verlassen und zum nächsten Bahnhof gehen. Auf den erstbesten Zug warten. Aber wenn der dann tatsächlich dastehen sollte, wird man auch erst mal zwei Plätze erkämpfen müssen.
Carola zieht mich unnachgiebig weiter und ulkigerweise habe ich das Gefühl, dass wir uns erneut der Altstadt nähern. Hoffentlich weiß Carola, was sie tut. Blauäugige Drängelei, es gibt nicht die Spur einer Chance, dem Großen Garten näher zu kommen. Ist schon schwierig, an den verstreuten Trümmern vorbeizuklettern. Überall Ruinen und dauernd die Gefahr, mit einem Fuß umzuknicken. Und dann? Beinahe jedes Haus präsentiert sich als eine vom Feuer zerfressene Ruine. Häufig sitzen Menschen davor, bewachen irgendwelchen geretteten Hausrat und betrachten verständnislos die Reste ihrer Existenz. Ständig flammen immer wieder Brände in den Ruinen auf.
Carola bleibt so unvermittelt stehen, dass ich ihr den Koffer in die Kniekehlen ramme. Sie zeigt auf einen qualmenden Trümmerhaufen. »Weißt du, was das ist?«
»Nein, keine Ahnung. Ich kenne mich in Dresden einfach nicht mehr aus.«
»Hier haben wir uns beim Tanzen kennengelernt.«
Dieser Trümmerhaufen ist unser Lokal? Du lieber Gott, wie lange war das her?! Wann waren wir zum letzten Mal ausgegangen? Uns Sternträgern ist das Betreten der meisten Lokale schon so lange verboten, dass ich mich gar nicht mehr an mein letztes frisch gezapftes Radeberger erinnern kann.
Nach einer Weile glaube ich den Ferdinandplatz wiederzuerkennen, und das da müsste eigentlich die Viktoriastraße sein. Na, sieht überhaupt nicht nach Sieg aus, von wegen Gloria, Viktoria. Ich tappe wie ein Fremder hinter Carola durch meine mir vollkommen fremd gewordene Heimatstadt. Das Erkennen einzelner Örtlichkeiten erleichtert die Orientierung ein ganz klein wenig. Die gestorbenen Gebäude gleichen einer längst nicht mehr benötigten Kulisse eines lausigen Films. Ausgerechnet ich muss vom Film reden. Überhaupt Kino, wann habe ich mit Carola zum letzten Mal ein Kino besuchen dürfen? Keine Ahnung, zu lange her. Ich folge ihr, und das Wandern ohne nachzudenken wirkt sonderbarerweise beruhigend. Wenn ich die ziellosen Wanderer um mich herum betrachte, kann ich mir vorstellen, dass es denen vermutlich ähnlich geht.
Gern würde ich mich auf unserem Friedhof von Mammele und den Großeltern verabschieden, aber die Gefahr erkannt zu werden, ist einfach zu groß. Ja, Abschied nehmen sollte ich wirklich, denke ich, und bleibe stehen. Carola ebenso. Wir betrachten das Gelände von der Straße aus schweigend.
Von dem Haus, in dem sowohl die Leichenhalle, als auch die kleine Wohnung des Aufsehers Grün lag, steht nur noch die Außenmauer vor einem tiefen Loch. Das Dach und sämtliche Zwischenwände sind zermalmt und liegen wahrscheinlich darin. Von der Leichenhalle ist kein Krümel mehr vorhanden. So sieht also der Begriff Ausmerzen in seiner tatsächlichen Bedeutung aus. Vorm Gärtnerschuppen liegen zwei Schubkarren. Dort habe ich mit den Friedhofsangestellten oft diskutiert. Hier auf unserem Friedhof hat sich in den zwölf Jahren Barbarei nicht ein einziges Braunhemd gezeigt, und nun sind die Grabsteine durch die Wucht der Detonationen leichthin weggeflogen. Grabsteinfragmente klemmen zwischen Ästen. Dieser Ort des ewigen Friedens wirkt wie ein Stück Hölle auf Erden. Einen Luftschutzkeller hat es auf dem Friedhof nicht gegeben. Was mag aus dem Gärtner und seiner Familie geworden sein? Bomben und Luftminen hatten vor den Toten nicht haltgemacht.
Carola zieht mich weiter. »Lass uns in die Hopfgartenstraße gehen. Ich habe mir vorhin überlegt, dass wir vor der Abreise dein Auge untersuchen lassen sollten. Wer weiß, ob wir späterhin Gelegenheit dazu haben werden. Und wenn sich die Wunde entzündet, könnte es sehr hinderlich sein.«
Das ist wahr. Die Frau denkt an alles. Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? In der nahe gelegenen Hopfgartenstraße liegt nämlich die Praxis von Herrn Doktor Faber.
Ich war Doktor Faber am 5. Juni letzten Jahres, einem wolkenverhangenen, trüben Montag, in der Pfotenhauergasse, Ecke Bönischplatz begegnet. Das heißt, ich hatte ihn angerempelt, weil ich einen Aushang lesen wollte und dazu einen Schritt zurücktrat. Es musste an der mangelhaften Ernährung liegen, dass meine Augen so nachließen. Entfernt liegende Dinge konnte ich bestens erkennen, aber das Lesen fiel mir in letzter Zeit schwerer. Aus dem Grund war ich einen Schritt zurückgetreten.
»Na, passen Sie doch auf!«, schimpfte der Passant ärgerlich.
»Entschuldigung, mein Herr«, bat ich. »Ich wollte den Aushang lesen.«
Der Mann schien nicht hungern zu müssen. Er wirkte gut genährt. Bei meinem Dauerhunger fiel mir so etwas sofort auf.
»Na, deswegen müssen Sie ja nicht zurückspringen wie ein Fohlen.« Er lachte und schob die Brille wieder auf der Nase hinauf. »Die Augen sind prima, nicht wahr? Bloß die Arme werden immer kürzer. Kenne ich. Weshalb benutzen Sie keine Lesebrille?«
Ich wandte mich gänzlich zu ihm und deutete eine Verneigung an. Er bemerkt den Stern. »Ach so.«
»Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung, Herr. Ich habe Sie nicht mit Absicht bedrängen wollen, Herr.«
»Faber. Mein Name ist Faber. Doktor Faber. Ich bin Augenarzt.«
»Sehr angenehm, Herr Doktor Faber. Mein Name ist Löwenthal. Do ... hm.«
»Do was?«
»Nun, schauen Sie. Ich bin Jurist. Nein, ich war Jurist.« Ich wies auf den Stern.
»Löwenthal, hm. Jurist Löwenthal, hm. Da war doch was?« Seine Miene wirkte nachdenklich, dann begann das Gesicht zu strahlen. »Kennen Sie zufälligerweise einen Mittenzwey? Johann Jakob Mittenzwey?«
»Ja, Herr Doktor Faber, an den erinnere ich mich sehr genau.«
»Dann müssen Sie Doktor Jakob Löwenthal sein, nicht wahr?«
»Ja, der bin ich.«
»Ich freue mich riesig, Sie kennenzulernen, Herr Doktor. Das war ja ein Ding!«
»Sie kennen den Fall?«
»Na, das kann man wohl sagen. Ein Schulfreund meines Jungen, Heinz Mittenzwey, hat uns damals von dem Verfahren gegen seinen Vater erzählt. Den hatte eine Wucht von Anwalt vor den Nazis rausgehauen, hat er begeistert erzählt. Sie erinnern sich? Die Sache mit dem Naziplakat im Januar 1933. Kompliment für den Anwalt, hatte ich damals gedacht, dem würde ich gern mal einen Gefallen tun dürfen. Auf solch einen Trick wären wir naive Gemütsmenschen niemals gekommen. Ich schon gar nicht. Ich muss zugeben, dass ich sogar«, er senkte die Stimme, »dass ich sogar zehn Jahre lang mit mir gerungen hatte, ob ich mir nicht auch den Existenzknopf anheften sollte. Habe eine Menge Ärger gekriegt, weil ich es einfach nicht über mich gebracht habe. Ende 1942 hatten die Kollegen der Ärztekammer mich dann so weit. Was hat meine Frau mit mir geschimpft, bloß die Pfoten davon zu lassen. Aber man hatte doch nie geglaubt, dass wir den Krieg ... ach, was rede ich hier dumm rum?« Sein Blick kehrte von weither zurück und landete auf meinem Stern. »Verzeihen Sie, Herr Doktor, was nützt es? Wissen Sie was, Sie kommen mit mir in meine Praxis, ist nur die Ecke herum und ich verpasse Ihnen eine Lesebrille. Kommen Sie!«
Er zog mich mit sich.
»Schauen Sie nicht so angewidert, ich habe mein Fett ja längst wegbekommen für die Gedanken von damals. Zu Weihnachten 1942 an Heiligabend, ein Donnerstag war’s. Weihnachten ist überhaupt eine feine Zeit für eine Tracht Prügel, hahaha. Die Aufforderung, in die Partei einzutreten, hatte ich am Vortag erhalten und legte sie während des Frühstücks auf den Küchentisch. Ich hatte laut darüber nachgedacht, der Aufforderung diesmal Folge zu leisten. Tja.«
Doktor Faber war völlig in Gedanken versunken, und ich wollte mir seine Lebensbeichte nicht länger anhören. Kriege ich nur wieder Ärger, überlegte ich, und wozu benötigte ich eine Lesebrille? Schließlich bin ich seit siebenunddreißig Jahren ohne eine solche ausgekommen. Ich verneigte mich, um mich zu verabschieden.
»Ja, ich weiß, Sie haben ja recht. Ich würde mir wahrscheinlich an Ihrer Stelle auch nicht zuhören wollen. Ich bitte Sie trotzdem, mir zuzuhören, Herr Doktor Löwenthal.«
Allein, dass er mich mit meinem Titel ansprach, ließ mich damals neben ihm hergehen. Er redete weiter: »Ich hatte während des Frühstücks meiner Frau und dem Jungen bekannt gegeben, dass ich nunmehr der Partei beitreten würde, weil dies opportun wäre, heute denke ich ganz anders. Auf jeden Fall, an jenem Morgen des Heiligen Abend hatte mein Junge den Entschluss begrüßt. Meine Frau hatte noch während des Frühstücks den Tisch verlassen. Ohne ein Wort zu mir zu sagen, ohne einen Anspruch zu erheben, stand sie plötzlich reisefertig im Flur. Ob sie ihren Koffer zuvor gepackt hatte, weiß ich nicht, ich vermute schon. Sie küsste den Jungen, verkündete, dass sie uns nun verlassen würde, da klopfte jemand an der Wohnungstür. Meine Frau öffnete einem Boten, der ein zu quittierendes Telegramm für meinen Jungen brachte. Der Bub unterschrieb, öffnete das Telegramm und begann jubelnd vorzulesen: ›Heimaturlaub sofort beenden und zurück zur Truppe! Gezeichnet 4. Panzerarmee, Armeegruppe Hoth.‹ Mein Junge strahlte vor Glück. ›Endlich! Jetzt hauen wir Paulus und die ganze 6. Armee aus dem Kessel von Stalingrad raus‹, triumphierte er und küsste seine Mutter. Die schüttelte den Kopf, verließ die Wohnung und zog die Tür geräuschlos hinter sich ins Schloss. Der Junge hielt sein Gepäck stets zur Abreise bereit, offenbar hatte er auf dieses Telegramm gewartet. Innerhalb von weniger als zehn Minuten saß ich allein in der Wohnung.«
Doktor Faber schwieg eine Zeit lang und sah mich an. Eigentlich tat er mir ein wenig leid. Aber weshalb erzählte der mir das alles? Zwanghafter Mitteilungsdrang, oder was?
»Nun schauen Sie nicht so mitleidig, Herr Doktor. Ich bin froh, dass ich mal mit einem vernünftigen Menschen darüber reden kann. Ist sonst ja viel zu gefährlich.«
»Ist Ihr Sohn ...«
»Gefallen, meinen Sie? Kein Gedanke, der ist ein wahrer Glückspilz. Er hat ein paar Feldpostkarten geschrieben, wenn der Rückzug mal eine Pause machte. Grandiose Frontverkürzungen schrieb er: aus Charkow, aus Kursk, sogar von der Krim. Heute Morgen habe ich zum ersten Mal wieder seine Stimme gehört. Er hat mich angerufen, er liegt momentan irgendwo in Frankreich. Wie heißt das Nest doch gleich? Zu dumm, ich hasse diese ›Tütüsprache‹. Richtig, in St. Mère Église tut er Dienst und St. Lò, hat er gesagt, heißt der Ort wo er wohnt. Irgendwo am Atlantik, was weiß ich. Bei einer wichtigen Eisenbahnlinie, die nach Paris führt. Die Jungs müssen dort wohl andauernd Wache schieben, wegen irgendeiner Invasion. Völliger Blödsinn, wenn Sie mich fragen, na ja. Und mit seinen Leuten ist mein Bub für die Strecke verantwortlich. Muss er wenigstens nicht schießen. Und er wäre an seinen freien Tagen in ein paar Stunden in Paris. Was habe ich mich gefreut. Besser ein französischer Tripper als eine russische Kugel, habe ich ihm geantwortet. Wir sind da.«
Er öffnete die Haustür und trat ins Haus. Ich blieb davor stehen. »Ich halte es wirklich nicht für klug, Ihnen ins Haus zu folgen.«
»Ach so, Sie meinen wegen ... Bitte, wenn Sie meinen. Einen Moment, ich komme gleich zurück.«
Umgehend erschien Doktor Faber wieder im Garten. Er hielt ein Blatt Papier in der einen Hand und drei kleine graue Behältnisse in der anderen. Er reichte mir das Blatt Papier. »Können Sie davon ablesen?«
Ich hielt das Blatt mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand so weit von mir, wie der Arm lang war. »Hm«, brummte ich.
Auf dem obersten Behältnis stand ›Maskenbrille‹. Doktor Faber klappte das Deckelchen auf, entnahm eine alte Gasmaskenbrille mit Bändern statt Bügeln an den Seiten und reichte sie mir.
»Halten Sie die mal vor Ihre Augen. Geht’s nun etwas besser?«
»Ja, damit kann ich alles etwas besser erkennen.«
Von einem Zettel, der in dem Behältnis lag, las er ab. »Plus zwo null, rechts und links.« Er entnahm eine weitere Gasmaskenbrille aus dem zweiten Behältnis. »Mal sehen, zwo fünf minus. Nein, das ist verkehrt. Was hat die dritte? Drei null plus, das könnte klappen. Versuchen Sie die mal.«
Er reichte mir diese Brille.
»Jetzt sehe ich fabelhaft, sogar die klein gedruckten Worte in der Fußnote.« Die Bänder der Metallfassung zog ich über die Ohren und las nun mühelos.
»Na also«, strahlte Doktor Faber. »Wenn Sie nun etwas lesen wollen, müssen Sie sich nur die Brille aufsetzen und brauchen nicht mehr durch die Gegend zu springen, Herr Doktor.«
»Darf ich solch ein Gerät überhaupt benutzen?«
»Na klar, wieso nicht?«
»Militärische Ausrüstung in der Hand eines Juden? Könnte das nicht als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden?«
»Unsinn, die Brille stammt aus dem Krieg ... also dem letzten. Kann doch einem Verwandten von Ihnen gehört haben, der damals mitgemacht hat. Ihrem Vater vielleicht?«
»Der ist, soweit man weiß, am 29. Oktober 1914 vor Ypern gefallen. Man hat von ihm nur den Brotbeutel und ein Teil des Koppels gefunden, hat mir meine Mutter erzählt.«
»Na sehen Sie, und in dem Brotbeutel war eben seine Maskenbrille. Und die ist nun mal ein unverzichtbares Andenken für Sie, und ein nützliches obendrein. Was steht auf dem Maßzettel? Zeigen Sie mal. Völlig verschmierte Tinte. Bloß drei null plus ist leserlich. Kann Ihnen kein Aas an den Karren fahren.«
»Hm. Was bin ich Ihnen dafür schuldig?«
»Nichts, ich bitte Sie, Herr Doktor.«
»Es tut sehr gut, nach so langer Zeit mit dem Titel angesprochen zu werden, Herr Doktor Faber.«
»Es dauert nicht mehr lang, Herr Doktor. Wenn wir ein bisschen Glück haben, dauert es nicht mehr lang. Noch in diesem Sommer ... ach, leben Sie wohl.« Er hatte genickt, als würde er sich selbst Beistand gewähren und mich dann aus dem Garten geschoben.
Ich hatte mich über diese Äußerung sehr gewundert. Erst nachdem sich die wahren Geschehnisse des 20. Juli hinter vorgehaltener Hand verbreiteten, hatte ich das unbestimmte Gefühl zu begreifen, was Doktor Faber mit noch in diesem Sommer gemeint haben könnte.


9.

In der Hopfgartenstraße liegt genauso wie überall in den Straßen Schutt und rauchiger Staub und einzelne Häuser brennen. Das Haus Nummer 47, in dem Doktor Fabers Praxis lag und in dessen Garten er mir die ›Brille verpasst hatte‹, ist wohl gerade erst in sich zusammengestürzt. Steine und Zementbrocken liegen herum. Dichter Staub wabert um die Ruine. Von Doktor Faber ist nichts zu sehen. Hoffentlich hatte er sich irgendwo anders in Sicherheit bringen können. Sonst hätte er zuletzt auch kein Glück gehabt.
»Das war nichts. Was machen wir nun, Carola?«
»Entweder hinunter zur Elbe oder zurück zur Bahnlinie. Was wäre dir lieber?«
»Lass uns zum Hindenburgufer hinuntergehen. Ich mag nicht wieder durch die Trümmer der Stadt klettern.«
Langsam und bedrückt schleichen wir die Gneisenaustraße zur Elbe hinunter. Wir machen viele Pausen, eigentlich mehr aus Enttäuschung als vor Erschöpfung.
Wir erreichen das Elbufer. Nach wie vor gehen unzählige Menschen unentwegt und absolut ziellos hin und her.
»Weißt du, was ich gerne machen würde?« Carola wirkt seltsam deprimiert.
»Sich irgendwo verkriechen und die Augen schließen, nehme ich an.«
»Nein, Jakob, in mir brennt der unbändige Wunsch, jemanden zu finden, dem wir mitteilen könnten, wohin unser Weg uns nun führt. Ich fürchte mich vor dem Gedanken, spurlos zu verschwinden. Nichts mehr zu haben, was uns mit unserer Vergangenheit verbindet. Ich würde so gerne wenigstens heimlich Kontakt zu irgendjemand von früher haben, bis alles vorüber ist, wenigstens einen Einzigen treffen, den wir kennen. Ist denn wirklich alles zerstört? Existiert denn gar nichts mehr aus unserem Leben?«
»Schwer zu sagen, aber ich fürchte, dass es sich so verhält. Drei Angriffe innerhalb weniger Stunden haben alles umgepflügt. Mehrmals sogar. Das ist eine gründliche Arbeit gewesen, da bleibt nicht mehr viel. Mag ja sein, dass einige Arierkeller gehalten haben, wer weiß das schon? Die meisten Menschen, die jetzt noch leben, sind vermutlich Flüchtlinge, die erst nach und nach Dresden erreichen. Du hast es ja selbst gesehen, in der Altstadt existiert kaum ein Haus. Höchstens Fragmente zwischen Schuttbergen. Jedes Haus, jede Straße ein einziger Geröllhaufen. Von all den anderen Geröllhaufen nur schwer zu unterscheiden. Ich selbst kenne mich in meiner Stadt nicht mehr aus. Ich kann die Einzelheiten nicht mehr unterscheiden. Mir war vorhin ein Steinpfeiler über einem Mauerfragment aufgefallen, der wie ein Galgen aussah. Verblüffend. Aber wenn ich nun sagen sollte, wo ich ihn gesehen habe, müsste ich passen. Dresden bedeutet für mich im Augenblick nichts weiter als ein Bild absoluter Zerstörung und an das Dresden, wie wir es gekannt haben, kann ich mich höchstens schemenhaft erinnern. Vielleicht bauen wir es später wieder auf. Schau dir nur die vielen umherirrenden Leute an. Das hat doch mit Lebendigkeit kaum etwas zu tun. Weg, Carola. Weg, bloß weg!«
Am Feldherrenplatz hält ein Sanitätsautomobil direkt vor uns. Wie auf Kommando bevölkern zahllose Menschen den Platz und umlagern das Fahrzeug. Sogar auf improvisierten Bahren werden Verwundete herangeschleppt und liegen nun in der Nähe des Sanitätsfahrzeugs auf dem blanken Boden. Auf einer halbwegs stabilen Holzbank neben der Luke des Sani-Autos verabreicht ein Sanitäter Augentropfen gegen Hitze und Säure. Carola drängt mich in die Reihe der Wartenden. Die Behandlungen der vor mir Stehenden gehen rasch vonstatten. Dann bin ich an der Reihe.
»Moin, Gevatter. Nun ham Se man keine Angst nich, ich tu Se schon nich weh!«, beruhigt mich der Sanitäter. Mit der Ecke eines abgerissenen Stückchens Papier holt er vorsichtig, beinahe zärtlich, etwas Schmutz aus dem verletzten Auge und tröpfelt dann etwas Borwasser in beide Augen. Es riecht säuerlich und kühlt sehr angenehm.
»Dem Auge ist nix passiert, das heilt bes-timmt prima. Gehn Se aber besser zu ein Augenarzt.«
»Wissen Sie einen?«
»In Rostock bes-timmt, hier nich.«
»Tja, nur wie komme ich nach Rostock?«
»Entweder Sie s-pringen in die Elbe und schwimmen dorthin, oder Sie fahren mit dem Zug.«
Sofort bin ich hellwach. »Fahren denn Züge?«
»Ja.« Er schaut auf seine Armbanduhr. »Es ist nun Viertel vor zwölf. Unser Zugführer hat gesagt, dass ab dreizehn Uhr mehrere Züge vom Hauptbahnhof nach Westen s-tarten. Wir sollen mit, wenn wir hier fertich sind.«
»Der Bahnhof soll doch eingestürzt sein.«
»Weiß nich. Ist ja egal, nich. Hauptsache wech, nur nich auf die Russkies warten. So fertig, Gevatter. Der Nächste.«
Ich stelle mich ein wenig erleichtert zu Carola. »Der junge Mann sagt, dass Züge fahren werden. In gut einer Stunde und sogar vom Hauptbahnhof aus. Was meinst du? Wenn wir uns beeilen, müssten wir das schaffen können. Gib mir den Rucksack, Carola, dann kannst du schneller laufen und vielleicht zwei Plätze ergattern und einen für mich freihalten. Einverstanden?«
Carola schlüpft aus den Rucksackriemen und hilft mir, ihn anzulegen. Dann eilen wir, wenn man es eilen nennen will, auf dem Uferweg los. Wir wollen gerade in den Sachsenplatz einbiegen, da glaube ich, mich trifft der Schlag. Das bösartig stärker werdende Brummen eines rasch näher kommenden Flugzeugs rumort über uns. Scheiße, aber da vorne, nur wenige Schritte vor uns liegen einige Bretter gestapelt. Wir stolpern rasch auf diesen geringen Schutz zu. Auch andere Leute haben sich da in vermeintliche Sicherheit gebracht. Es liegen inzwischen mehr Menschen dort, als die paar armseligen Bretter schützen können. Ich zwinge Carola vor mich auf den Boden, lege mich mit meinen zweiundsechzig Kilogramm über sie und stütze mich mit Armen und Beinen so gut wie möglich ab. Nicht dass ich sie zerdrücke. Aber mein Körper bietet ihr wenigstens ein wenig Schutz, hoffe ich. Den Koffer halte ich als möglichen zusätzlichen Schutz neben unsere Köpfe.
Die Motoren des Jägers heulen ganz dicht über uns und ich höre ein Maschinengewehr rattern. Pfeifendes, berstendes Krachen ringsum, Steinstaub rieselt auf uns herab. Es dauert nur wenige Sekunden, die mir aber wie eine Ewigkeit vorkommen.
»Nur jetzt nicht noch krepieren!«, stöhnt eine Stimme.
Irgendjemand schlägt auf den Rucksack, den ich am Rücken trage. Was will der Idiot? Sollte sich besser in Deckung legen. Ich riskiere einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wer das sein kann, es ist niemand da. Komischer Kauz, denke ich und sehe, dass die Maschine über uns hinweggerast ist. Der Motorenlärm zieht weiter und die Schüsse klingen gleich weit weniger gefährlich. Der Luftzug hinter der Maschine zischt. Habe ich auch nicht gewusst. Dann wird es wenige Sekunden lang still. Totenstill.
Ich hebe den Kopf. Das eine Flugzeug ist weg, dafür entdecke ich am Horizont einen ganzen Schwarm Maschinen, die in sehr geringer Höhe fliegen. Aus den Mündungen der Maschinengewehre spuckt Feuer und Rauch. Das sind also Tiefflieger, denke ich und kann meinen Blick einfach nicht abwenden. Unentwegt spucken sie die tödlichen Geschosse auf die Masse der Menschen. Wer nicht zufälligerweise unter einem Stein oder hinter einer Mauer Zuflucht gefunden hat, wird unbarmherzig beschossen. Nun begreife ich den Sinn der Angriffsserie. Bisher wurden konsequent die Gebäude zerstört, sodass jetzt kaum jemand Schutz finden kann. Und nun werden ganz gezielt Menschenleben ausgelöscht. Ich muss automatisch an unseren verkrüppelten Kaiser Wilhelm II. denken. Im Burenkrieg hatte er arrogant angekündigt: Pardon wird nich jejeben! Die da über uns machen das jetzt nach. Ich glaube mittlerweile, es gibt überhaupt nichts Menschenverachtendes, was nicht in Deutschland seinen Ursprung hat. Die Menschen schreien in panischer Angst, wollen wegrennen, können aber wegen der großen Masse nicht fort. Manche werfen sich zu Boden und rollen sich möglichst klein zusammen. Andere fallen von Geschossen getroffen über die am Boden Liegenden und bieten den Glücklichen nun sterbend einen gewissen Schutz. Um einzelne Leute kümmern sich die Flieger nicht. Aus der Masse heraus können sie wesentlich leichter und schneller sehr viel mehr Menschen ermorden. Die da oben sind nicht eine Spur besser als Hitlers Mörder in Uniform.
Die Flugzeuge haben anscheinend gedreht und ziehen erneut über uns hinweg. Wieder das Heulen der Motoren und das Geknatter der Maschinengewehre. Ich habe bisher noch niemals eine Waffe in der Hand gehalten, Schusswaffen lehne ich ab. Doch ich bin so wütend und wünsche mir nichts sehnlicher, als mit einem schweren Maschinengewehr auf die Flieger zu schießen. Und wenn es das Letzte wäre, was ich in meinem Leben tun würde.
Mein Blickfeld ist äußerst eingeschränkt, denn ich traue mich einfach nicht, den Kopf richtig zu heben. Zum zweiten Mal schlägt mir irgendjemand kräftig auf den Rücken, diesmal kümmere ich mich nicht darum. Ich will nur um jeden Preis Carola schützen, aber was ich aus den Augenwinkeln beobachte, werde ich niemals im Leben vergessen können.
Die brummenden Ungeheuer jagen die schreienden Menschen. Von Maschinengewehrgarben getroffene Köpfe platzen wie Seifenblasen. Gehirne und Unmengen Blut verlaufen im Regenmatsch. Phosphorkanister entzünden Menschentrauben aus zusammengedrängten Körpern. Brennende Körper suchen im Wasser Rettung und versinken in der Elbe - das Wasser löscht sie nicht.
Den Tieffliegern folgen Bomberverbände. Bombenteppiche zerreißen die schutzlos umherirrenden Opfer. Kommt mir so vor, als würden sie diesmal die Ufer der Elbe besonders sorgfältig angreifen. Kriegswichtige Ziele gibt es in Dresden nicht mehr, also werden offensichtlich nur schnell noch so viele Zivilisten wie möglich umgebracht. Die Masse der Maschinen fliegt davon. Vielleicht sind sie erst einmal satt. Ich setze mich auf.
Einzelne Leichen sind schon entsetzlich genug anzusehen. Eine Vielzahl von ihnen erscheint schier unglaublich. Um uns herum liegen massenweise Tote. Kein Stückchen Erde scheint ohne ermordete Menschen im hellen Tageslicht zu liegen. Der Gestank nach verbrannter Haut, Kleidung, Fleisch und Haaren liegt wie eine Decke über dem Boden. Ich schaue zum Elbufer hinunter und beobachte, dass diejenigen, die weiterhin umherirren, jetzt gezielt von einzelnen Tieffliegern aufs Korn genommen werden.
»Bist du in Ordnung?«, flüstere ich zu Carola, als könne lautes Reden die Flieger auf uns aufmerksam machen.
»Ja. Und du?«
»Ich habe nichts abbekommen, Schwein gehabt. Bleib liegen, wir wollen abwarten, ob nicht eine weitere Welle kommt.«
Ich kann zum Glück keine Motorengeräusche mehr ausmachen. »Ich glaube, es ist vorbei. Bist du wirklich in Ordnung, Carola?«
Sie klopft mit der rechten Hand an meine Hüfte. Ich fühle mich um Jahre gealtert. In diesem Teppich getöteter Menschenkörper regt sich sicher noch der eine oder andere, denke ich, aber wie soll man die finden? Wie helfen?
Ein alter Mann sitzt vor dem Bretterstapel, der ein paar von uns geschützt hat und scheint unverletzt zu sein. Er hält eine Aktentasche mit beiden Händen vor die Brust geklammert. Die Augen sind weit geöffnet, die Zungenspitze ragt sichtbar zwischen den oberen Vorderzähnen und der Unterlippe hervor, das Kinn zuckt.
»Sind Sie in Ordnung?«, frage ich ihn.
Statt zu antworten beginnt der Mann sich zu schütteln. Zunächst den Kopf und die Arme, dann zappelt er krampfartig am ganzen Körper. Die Aktentasche fällt ihm aus den Händen, der Jackenstoff über der Brust glänzt. Der Kopf schlägt gegen den Bretterstapel und aus dem verzerrten Mund tritt rötlicher Schaum. Der Mann gurgelt unverständliche Laute, sinkt zu Boden, streckt sich kurz, der Kopf neigt sich zur Seite und Blutschaum läuft aus dem Mund.
Mir hebt sich der Magen. Ich beuge mich neben den Stapel und kotze bitteren Schleim.
Carola betrachtet die Leiche. »Mein Gott, der arme Teufel hat den Tod regelrecht auf sich zufliegen sehen. Ich will mal sehen, ob man nicht vielleicht den andern helfen kann.«
Ich wische mir mit dem Ärmel des Mantels den Mund ab. »Aber wie? Wem zuerst?«, frage ich.
»Zunächst mal in der näheren Umgebung. Fangen wir bei den Leuten an, die mit uns hier gelegen haben.«
Es mögen zehn oder vielleicht sogar zwölf Leute mit uns beim Stapel gelegen haben. Die meisten sind tot. Ich höre einen Mann, der beruhigend auf jemanden einredet. Er hält den Kopf einer liegenden Frau in seinem Schoß und streichelte ihre Stirn.
»Kann ich helfen?«, frage ich ihn.
Er scheint mich nicht gehört zu haben, streichelt nur immer weiter und redet leise. Der Frau fehlt die rechte Halsseite und wenig Blut rinnt über die Brust, sie ist längst tot. Wer bin ich, dass ich ihm dies nun erkläre? Begreifen wird er es früh genug.
Eine andere Frau blutet am Arm. Sie versucht sich selbst zu verbinden. Ihr kann ich wenigstens helfen. Nutzlos komme ich mir irgendwie trotzdem vor.
»Danke schön.« Sie legt den Zeigefinger des gesunden Arms an die Lippen im schwarzverkrusteten Gesicht. »Hören Sie das auch?«, fragt sie mich.
Ich horche und höre tatsächlich ein leises Wimmern. Ich gehe dem Geräusch nach. Direkt am Bretterstapel liegt eine junge Frau wie ein Säugling eingerollt. Aus ihrer Richtung scheint das Wimmern zu kommen. Halb auf dieser Frau liegen zwei Körper, deren Arme und Beine unnatürlich ineinander verwunden sind. Diese beiden Leichen sind kaum zu bewegen. Ich rufe Carola und gemeinsam zerren wir die Toten von der jungen Frau ein wenig weg. Das Wimmern wird lauter.
»Kann ich Ihnen helfen?«, frage ich. Keine Antwort. Sie wird nie mehr antworten können, sehe ich, denn der Rücken ist übersät mit Einschüssen. Ich drücke mit der Hand gegen ihre Schulter und die Frau sackt geräuschlos auf den zerschossenen Rücken. In den verschränkten Armen hält sie ein Baby unter dem Mantel. Mit ihrem Körper hatte sie dieses Baby geschützt und es scheint unverletzt zu sein. Hat der Wurm nun Glück, noch zu leben, frage ich mich? Oder vielmehr Pech? Carola löst den Säugling vorsichtig aus den Armen der toten Mutter und wiegt es in den Armen. »Was nun?«
»Wir müssen es irgendwo in Obhut geben.«
»Aber wo?«, fragt Carola.
»Entschuldigen Sie bitte.« Die Frau mit dem verbundenen Arm steht neben uns. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ich glaube, wir kennen uns. Gehört Ihnen nicht das Mäxchen? Der Kater?« Die weißen Zähne im schwarzen Gesicht lächeln unwirklich.
»Woher wissen Sie von unserem Kater?«
»Ja, jetzt erkenne ich Sie wieder. Erkennen Sie mich nicht mehr?«
»Nein, Sie sind sehr, sehr schmutzig im Gesicht, Frau ...«
»Schmutzig? Wieso ist mein Gesicht schmutzig?«
»Ihr Gesicht ist vollkommen schwarz, Frau ...«
»Schwarz? Ach, sicherlich durch die Brände. Gersmann.«
»Was Gersmann?«
Carola wiegt immer noch das Baby. »Frau Gersmann? Sind Sie es tatsächlich?«
»Ja, Frau Löwenthal.«
Die beiden Frauen liegen sich plötzlich schluchzend in den Armen, das Baby zwischen sich. Was ist jetzt los?
»Jakob, das ist Frau Gersmann. Sie hat doch unser Mäxchen!«
Ich fasse mir an die Stirn. Natürlich. Es ist wirklich alles ein wenig zu viel.
»Tut mir leid, im Augenblick bin ich nicht so recht bei mir. Verzeihen Sie bitte, Frau Gersmann. Ich habe Sie überhaupt nicht erkannt. Wir haben uns ja seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie geht es unserem Mäxchen?«
»Dem geht es wunderbar, bei uns draußen in Laubegast gibt es reichlich Mäuse. Der wird an manchen Tagen eher satt als wir. Sie sind aber mutig, Herr Doktor«, sagt sie mit einem kurzen Blick auf den fehlenden Stern. »Wenn das nur gut geht.«
»Wir sind gerade auf dem Weg aus Dresden hinaus, damit es gut gehen könnte. Übrigens heißen wir Anders.«
»Anders? Wie denn?«
Dieser Schmonzes verfolgt mich bis ins Grab, denke ich und antworte trotzdem ruhig. »Eben Anders. Darf ich vorstellen, meine Frau Ermine Anders und ich bin Kurt Anders.«
»Ach so. Ich glaube ich verstehe, Herr Anders. Da wird ein Baby recht hinderlich sein, könnte ich mir vorstellen.«
»Sie sagen es. Ich dachte gerade daran, das Kind vielleicht in einem Säuglingsheim abzugeben.«
»Um Gottes willen, nur das nicht. Das Würmchen muss ja nicht wissen, dass es alleine auf der Welt ist. Es gibt inzwischen genügend Waisen in Deutschland und es werden gewiss etliche mehr werden, bis der Krieg vorbei ist.«
»Hm, tja. Das steht zu befürchten. Nur wohin mit dem Kind? Mitnehmen können wir es nicht, da weigere ich mich. Unsere Reise wird ohnehin schwierig genug werden.«
Frau Gersmann betrachtet das Baby in Carolas Armen. Dann strahlen ihre weißen Zähne im schwarzen Gesicht. »Ich würde in dieser Zerstörung ringsherum gerne mal wieder etwas wachsen sehen, Herr ... Herr Anders. Wie ich das meinem Mann beibringen soll, weiß ich zwar nicht, doch wenn es Ihnen recht ist, nehme ich das Kind zu mir. Wie Sie wissen, haben wir selbst keine Kinder. Bloß Ihren Kater. Ja, das wäre eine Möglichkeit. Mein Mann liebt Ihren Kater, Frau Anders, allein schon, weil es Ihrer ist. Unter uns gesagt, mein Mann war bereits in Sie verliebt, seit Sie gemeinsam in die Tanzstunde gingen. Er hat oft von der Zeit geschwärmt und natürlich glaubt er, ich hätte keinen blassen Schimmer, aber das schadet nichts. Er überträgt seine Verliebtheit nun auf Ihren Kater. Wenn er zum Beispiel in unserem Fischteich einen Weißfisch fängt, den er als Köderfisch benützen könnte, um einen Hecht zu fangen, verfüttert er ihn lieber an Ihren Kater. Ich sage ja, der wird satter als wir. Na ja, meinem Mann macht es Spaß und das ist die Hauptsache. Ich könnte mir gut vorstellen, wenn ich nun dieses Baby mit nach Hause bringe und ihm erzähle, es wäre Ihres, Frau Löwenthal, ähm, Entschuldigung.«
»Ist schon in Ordnung. Hier wird wohl kaum jemand von uns Notiz nehmen, Frau Gersmann. Was wird Ihr Mann dann sagen?«
»Ich bin mir sicher, dass er es wie sein eigenes lieben würde. Nicht sofort, aber wenn ich ihm ein paarmal erzähle, dass ich Sie getroffen habe und Sie gezwungen sind, schnell zu fliehen, und das Leben des Kindes nicht in Gefahr bringen wollen, wird er weich werden. Besonders, wenn ich ihm bestätige, dass dieses Kind Ihre Augen und Ihren Mund hat, Frau Anders, dann wird er es bald in sein Herz schließen.«
»Meinen Sie wirklich, es sieht mir ähnlich?«
»Das ist doch egal. Wie sollte er es überprüfen? Und nach einer Weile wird es ihm egal sein.«
»Sie sind sehr großzügig, Frau Gersmann. Sie bringen ein großes Opfer für dieses fremde Kind.«
»Ach was. Bei uns hat es einfach nicht klappen wollen. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue. Wenn es ein Mädchen ist, werde ich es Carola nennen und wenn es ein Junge ist, Carolus. Falls die Behörden sich für den Wurm interessieren sollten, habe ich das Kind eben zu Hause ganz allein mit der Hilfe meines Mannes zur Welt gebracht. Wir hatten nun mal keine Zeit, es anzumelden. Wie alt mag das Kleine sein? Wird sich noch herausstellen. Wir leben in Laubegast recht abgelegen, da wird niemand widersprechen. Und selbst wenn, wäre es mir gleichgültig. Viel wichtiger ist jetzt, dass ich etwas brauche, um mein Kind warm zu halten auf dem Weg nach Hause. Wo ist denn nur meine Tasche? Ach dort.«
Sie zeigt mit dem Kinn zu dem Plätzchen, auf dem sie während des Angriffs gelegen hat. Ich hole die Tasche. Nun hält Frau Gersmann das Baby in den Armen.
»Da drin ist eine Strickjacke, die ich für einen Kunden in Dresden angefertigt habe. Den gibt es auch nicht mehr, das Haus ist weg. Ich wollte an der Elbe entlang nach Hause gehen, weil die ganze Stadt kaputt ist. Da kommt kein Mensch mehr durch. Ja, geben Sie mir bitte die Jacke. Ich werde mein Kind darin einwickeln und dann langsam nach Hause gehen.«
Das Kind schläft tief und fest.
»Womit wollen Sie das Kind ernähren?«, will ich wissen. Jahrelanges Hungern hat meinen Charakter nun mal wesentlich beeinflusst.
»Mit Milch natürlich.«
»Wo wollen Sie denn heutzutage Milch herkriegen? Es gibt nirgendwo mehr etwas. Ist alles im Dutt.«
»Nun, wir leben wirklich etwas abseits. Bei uns ist noch nicht viel passiert. Der Fischteich liegt auf unserem Grundstück; darauf hat mein Mann damals unser Haus gebaut und den Schuppen. Darin halten wir Hühner, ein paar Gänse und zwei Ziegen. Wir versorgen uns selbst. Mein Mann sagt immer, dass er dem Staat nicht traut, obwohl wir uns mit den zugeteilten Rationen eindecken. Aber darauf verlassen möchten wir uns nicht. Mein Kind wird nicht hungern müssen.«
Es kommt mir ganz sonderbar vor, wie schnell sich eine kinderlose Frau zu einer sorgenden Mutter verwandelt, lediglich weil sie urplötzlich die unerwartete Chance dazu bekommt. Umso besser!
»Ich bin fest überzeugt, dass das Kind bei Ihnen sehr gut aufgehoben sein wird. Sollen wir Sie ein Stück begleiten?«
»Nicht nötig, ich habe Begleitung genug und kann mir auf dem Weg nach Hause jede Kleinigkeit sehr gut überlegen und mich auf alle Fragen einstellen. Wenn Sie mir bitte die Tasche über die Schulter hängen würden. Danke schön. Werden Sie zurückkehren, wenn dies alles vorüber sein wird?«
»Wenn Gott uns überleben lässt, gewiss!« Komisch, wenn man Hoffnung hat, fängt man auch wieder an zu glauben. Carola drückt meinen Arm. Die weißen Zähne in Frau Gersmanns schwarzem Gesicht lächeln uns an.
»Dann auf Wiedersehen. Ich werde für Sie beten. Alle Gute und leben Sie wohl.«
Carola streichelt Frau Gersmanns Hände, die das Baby umschlungen halten.
»Sie ebenfalls, und geben Sie Acht auf Ihr Kind.«


10.

Unsere Wanderung vom Elbufer durch die Trümmer der Stadt zum Hauptbahnhof kommt mir schon ewig vor. Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, wie spät es sein mag, aber ich bin überzeugt, dass dreizehn Uhr längst vorüber ist. Carola hat nicht schneller gehen wollen als ich. Wer weiß, meint sie, wie viele Angriffe noch stattfänden. Uns jetzt zu verlieren, wäre mehr als pure Ungeschicklichkeit. Rund um den Großen Garten sind die Straßen und Gehwege ebenfalls mit zum Teil verstümmelten Toten übersät. Hier müssen die Tiefflieger ungeheuer viele Menschen erwischt haben. Der Ekel schnürt mir geradezu den Atem ab und ich gehe ein wenig rascher. Carola kann sich von dem Anblick wohl nicht lösen und kommt erst, als ich sie rufe. Plötzlich schreit sie hinter mir laut auf.
»Was ist denn los?«, frage ich rückwärts, obwohl ich den Grund ihres Schreckens gar nicht wirklich wissen möchte. Mein Maß an schrecklichen Eindrücken ist für alle Zeit bereits weit mehr als gefüllt. Trotzdem schaue ich mich nach Carola um.
Sie zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, was man als gebildeter Mensch nicht tun soll. Dazu stammelt sie: »Du hast ... du bist ... Ogottogottogott.«
»Carola, man hat dich auf die besten Schulen geschickt, damit du dich flüssig unterhalten lernst. Könntest du vielleicht in ganzen Sätzen sprechen?«
»Du hast ein Loch im Rücken, nein, zwei Löcher!«
»Was ist das für ein Unsinn? Wenn ich ein Loch im Rücken hätte, würde ich nicht rumlaufen! Wie kommst du auf solch einen Blödsinn?«
»Da sind zwei Löcher im Rucksack.«
»Ach so.« Es dauert einen Moment. »Wieso?« Ich stelle den Koffer ab und ziehe den Rucksack von den Schultern. »Tatsächlich, da sind zwei Löcher drin. Komisch. Das muss damit zusammenhängen, dass ich vorhin geglaubt habe, mir hätte zweimal jemand auf den Rücken geschlagen.«
»Wann vorhin?«
»Während des Angriffs, als ich auf dir lag. Ist ja sonderbar.«
Ich öffne die Schnalle des Rucksacks und schaue ins Innere. In Carolas Schmuckbuch entdecke ich zwei Löcher und in dem Etui der Maskenbrille ebenfalls. Sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Ich nehme das Buch und das Etui heraus. Das Schmuckbuch klappe ich auf.
»Schau mal, in der Brosche steckt eine Kugel.« Ich reiche sie Carola. »Die zweite Kugel hat’s bis in das Metalletui der Brille geschafft. Wenn mir der Faber nicht diese Brille verpasst hätte, wäre ich jetzt vermutlich im Eimer.«
»Jakob, ich hasse es, wenn du so redest.«
Ich höre gar nicht zu, sondern schaue nach oben zum Himmel. »Egal, wo Sie sind, Doktor Faber, ich hoffe, dass es Ihnen dort sehr gut gehen möge. Masseltov!«
»Wieso bist du eigentlich seit Neuestem solch ein Glückspilz?«, will Carola unbedingt wissen.
Keine Ahnung, denke ich und küsse sie. »Massel muss der Mensch haben und ich bin, so scheint es, ein Masselmolch!«
Carola blickt mich entgeistert an. Bevor ich sie ein zweites Mal hätte küssen können, kehren die Flugzeuge zurück. Das gibt es nicht! Das kann nicht wahr sein! Habt ihr Hurensöhne denn immer noch nicht genug? Ich schubse Carola unter eine, von irgendwoher hierhin gefallene engelsgleiche überlebensgroße Steinputte, die wie eine Brücke über einem Krater liegt. Da steht zwar Wasser drin, doch das ist mir einerlei. Carola stolpert und liegt bäuchlings im Wasser. Tut mir leid, denke ich und springe neben sie. Der Koffer liegt draußen, verdammt. Ich versuche ihn mit einer Hand zu erreichen, es fehlen leider ein paar Zentimeter. Zu dem Rucksack ebenfalls. Alles gleichgültig, Hauptsache, der bescheuerte Engel beschützt uns.
Die Männer in den Flugzeugen schießen wieder ganz gezielt auf alles, was sich auch nur ansatzweise bewegt. Luftminen und Sprengbomben zwingen menschliche Kellerasseln aus den Kellern und Splittergräben. Wer sich jetzt in Furcht und Panik von seinem Platz rührt, wird nun systematisch und ganz persönlich von den Männern aus den Tieffliegern erschossen. Wenn mir dies jemand erzählen würde, könnte ich es nicht glauben, aber es ist die reine Wahrheit! Den tödlichen Hornissen aus Metall folgen Maschinen, die großflächig Phosphor über uns abladen. Der besorgt dann gründlich den Rest.
Der Engel über uns hält tatsächlich sämtliche tödlichen Gaben von uns ab und ich finde ihn eigentlich gar nicht mehr bescheuert. Entschuldige bitte, denke ich. Die Flugzeuge drehen ab und die Maschinengeräusche entfernen sich.
Wir krabbeln klatschnass, dafür unverletzt ins Freie.
»Mörder!«, ruft Carola. »Dies hier ist ein reines Verbrechen! Das hat nichts mehr mit Menschlichkeit zu tun! Das sind Massenmörder!«
»Stimmt«, bestätige ich. »Genauso wie unsere Heldensoldaten. Soldaten sind nun mal nichts weiter als sanktionierte Mörder in Uniform. Da gibt es auf der ganzen Welt nicht den geringsten Unterschied!«
Hass, grenzenloser Hass steht in Carolas Augen. »Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde?«
»Nein.«
»Ich würde am liebsten ein paar von den Kerlen«, sie zeigt mit dem Daumen in die Richtung, in der die Flugzeuge weggeflogen sind, »am liebsten möchte ich ein paar von den Kerlen in die Finger kriegen, und zwar so, dass sie sich nicht wehren können. Und dann möchte ich denen die Haut schön langsam vom Fleisch schälen und sie in kaltes Wasser stecken.«
»Wozu?«
»Um sie dann ganz langsam zu kochen! Aber wirklich langsam, weißt du. So, dass sie stundenlang schreien!« Tränen steigen in Carolas Augen. Sie beginnt zu weinen. »Ich hab’s nicht so gemeint, Jakob, glaub mir. Wir sind doch alle verrückt geworden. Was hat diese Zeit nur aus uns gemacht?«
»Die Zeit hat nichts damit zu tun. Wir haben damit zu tun. Wir sind die Zeit. Wir alle sind die Schuldigen, die wir zugesehen und geschwiegen haben, nicht irgendwelche ... Nazis. Das ist nur wieder eine Verharmlosung, eine Schuldzuweisung an anonyme Begriffe. Menschen haben Schuld, Deutsche ebenso wie Amerikaner, Engländer und alle anderen. Wir Menschen haben selbst Schuld. Die anderen haben nur nicht zuallererst ›Heil!‹ geschrien und ›Ja!‹ - das haben Deutsche getan. Dass die anderen uns nun unsere Verbrechen in blutiger Weise zurückzahlen, kann ich, bei allem Ekel, irgendwie sogar verstehen!«
»Du und ich haben keine blutigen Verbrechen begangen! Und die meisten der Leute, die in Dresden verrecken, wahrscheinlich ebenso wenig!«
»Darauf kommt es nicht an. Wir sind trotzdem mitschuldig, schon allein dadurch, dass wir geschwiegen und gekuscht haben. Auch wir beide, die wir unter dem Terror gelitten haben - wir sind mitschuldig, genauso, wie die anderen. Die einen haben diesem Nationalschwachsinn zugejubelt - ich habe den Stern getragen! Wir alle haben gehorcht. Wir hätten besser nachdenken sollen! Quatsch, das reicht ja gar nicht - vordenken muss man! Hätten wir gemusst.«
Carola schaut eine ganze Weile schweigend zu Boden. »Das kann ich so nicht finden, Jakob. Man kann nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Das ist grausam!«
»Das muss die Zukunft zeigen, Carola. Wir Juden haben ja schließlich die andere Wange immer hingehalten und sind totgeschlagen worden. Nein, wehren muss man sich!«
»Mein mutiges Jüdlein«, sagt Carola zärtlich. »Du bist aber kein Kämpfer.«
»Tja, wie viele andere auch. Großes Maul und nichts dahinter. Ein ganzes Volk davon.«
»Du maßt dir an, über ein ganzes Volk zu urteilen? Einfach so, alle über einen Kamm? So viele haben sich gewehrt und sind dafür in den Tod gegangen, findest du, dass die feige waren?«
Stimmt ja, stimmt ja, doch ich möchte im Augenblick nicht rational darüber nachdenken. »Nein, die waren nicht feige. Wir anderen, die wir uns nicht gewehrt haben, wir sind Feiglinge, weil wir vor Uniform und Obrigkeit kuschen - ich ganz besonders, Carola. Das ärgert mich am allermeisten!«
»In den letzten beiden Tagen hast du dich beständig gewehrt.«
»Ja, jetzt, wo die Gegner schon fast am Boden liegen. Ja, jetzt! Und was heißt wehren? Ich versuche lediglich, meinen erbärmlichen kleinen Hintern in Sicherheit zu bringen. Entschuldige, unsere selbstverständlich.«
»Ach, du findest meinen Popo erbärmlich? Danke schön. Gut zu wissen, was du von mir als Frau hältst.«
»Unfug, so meine ich das nicht. Aber wir denken doch auch bloß an uns selbst, das ist kein wehren. Das ist natürlich.«
Carola schaut mich lange Zeit schweigend an. »Ich möchte zu gern wissen, ob es in diesem Volk irgendeinen Menschen gibt, den du bewunderst?«
»Bewundern? Nein! Wen denn?«
»Das möchte ich ja von dir wissen, Jakob. Keinen Juristen? Keinen Arzt? Keinen Künstler?«
»Juristen? Na du machst mir Spaß. Wer hat denn die KZ und die Gaskammern gefüllt? Das haben ausschließlich Staatsanwälte und Richter getan! Ärzte? Wer hat denn unmenschliche Experimente mit den KZ-Insassen angestellt? Ärzte, ausschließlich Ärzte! Künstler? Hm. Nun gut, Heinz Rühmann vielleicht.«
»Der Winzling? Das hätte ich nicht gerade erwartet.«
»Mir ist der Mann egal, als Schauspieler finde ich ihn nicht schlecht.«
»Ich meinte eher, ob dir irgendjemand als Mensch gefällt?«
»Als Mensch?! Wir hocken im brennenden Dresden, die Amis und Tommys heizen uns kräftig ein und du fragst mich allen Ernstes, ob mir irgendein Mensch gefällt? Du hast vielleicht Nerven. Also gut. Ja, mir gefallen sogar zwei Menschen. Der eine steht gerade neben mir und stellt sonderbare Fragen. Der andere ist Dresdner wie wir, wohnte als Bub in der Königsbrücker Straße, hat wundervolle Geschichten aufgeschrieben und ist trotz Nazis und Schreibverbot in Deutschland geblieben, obwohl diese Bestien seine Bücher verbrannt haben.«
»Unser Erich?«
»Erich Kästner, genau. Der ist nicht, was einfacher gewesen wäre, ins Ausland gegangen, sondern stattdessen sogar nach Berlin, geradewegs in die Höhle des Löwen, das finde ich bewundernswert. Was will ich jetzt damit sagen? Ach ja, wir sollten besser endlich von hier verschwinden. Ich befürchte nämlich, dass wir nicht bei jedem Angriff so viel Massel haben werden wie bisher. Ich möchte so schnell wie nur irgend möglich diese Stadt verlassen. Wir haben mit unglaublichem Glück unser Leben retten können. Und das würde ich sehr gerne weiterhin tun. Und meinen Auftrag möchte ich erledigen. Und sonderbarerweise wächst in mir das unerklärliche Gefühl, dass die Alliierten mit Dresden längst nicht fertig sind. Komm, lass uns verschwinden.«
Ein heftiger Knall unterbricht meine Gedanken und eine Druckwelle wirft mich um. Ich kann kein Flugzeug entdecken, also muss es sich offenbar um eine verspätet zündende Bombe gehandelt haben. Der Engel, der uns vorhin geschützt hatte, ist verschwunden. Ich suche Carola. Die ist gleichfalls wie vom Erdboden verschluckt. Einfach verschwunden, wie der Engel. Aber ich habe sie doch eben noch gesehen.
Ich liege hilflos auf dem Rücken und sehe Flugzeuge über mich hinwegrasen. Wieder wird aus Bordkanonen und Maschinengewehren geschossen. Die Flugzeuge fliegen hin und her und die Schützen brauchen lediglich draufzuhalten. Zahllose Treffer sind ihnen gewiss.
Wo ist denn bloß Carola? Wenige Schritte von mir entfernt liegt ein Pferd am Boden. Das dazugehörige Fuhrwerk liegt rücklings auf dem Kadaver. Ich will dort hinkriechen und halte den Koffer und den Rucksack wie verrückt fest. Angst und Schrecken lassen keinerlei Platz mehr im Gehirn für rationales Denken. Ich zwänge mich unter das Fuhrwerk neben den Pferdekadaver und fühle mich hier sicher.
Staub und Dreck spritzen auf, wenn eine Garbe aus den Gewehren Steine und Wege trifft. Menschen sterben, wo sie gehen, stehen oder liegen. Wann trifft es mich? Wann muss ich sterben wie viele andere? Überall Blut. Dicht neben meinem Gesicht trifft eine Kugel das Fuhrwerk und splittert etwas davon ab. Heiße Brösel treffen mich und beweisen eindrucksvoll die Größe der Gefahr. Vermutlich stehen meine Chancen, erneut davonzukommen, unter dem Wagen wesentlich besser als bei den Leuten um mich herum. Ich drücke mich fester an die Erde. Nein, halt. Das ist nicht gut. Ich will sehen, was geschieht. Über dem Pferdekopf habe ich leider nur ein begrenztes Blickfeld. Eine Frau läuft mit wehenden Haaren hinter einem Busch hervor. Sie stemmt ein kleines Mädchen in die Hüfte und hält es mit den Armen. Sie scheint nach wenigen Schritten im vollen Lauf gegen eine Wand zu stoßen, während zahllose Kugeleinschläge blutig ihre Brust markierten. Die Frau fällt vornüber und das offensichtlich bereits tote Kind rollt in eine Regenpfütze. Ein alter Mann, vermutlich vom Volkssturm, hält eine Pistole in beiden Händen, zielt genau und ruhig auf die Pilotenkanzel einer auf ihn zurasenden Maschine. Er schießt das ganze Magazin leer. Hoffentlich hat er getroffen, denke ich, aber noch während er den letzten Schuss abgibt, sinkt der Mann lautlos in sich zusammen.
Auch diese Welle dreht endlich wieder ab, obwohl viele Menschen weiterhin prächtige Ziele bieten. Die kommen garantiert zurück, denke ich. Viel Zeit zum Überlegen bleibt nicht. Das Brummen schwillt erneut an. Vor meinem Pferdekadaver rollt eine offenbar schwer verletzte Frau in den Straßendreck. Ich muss unwillkürlich an Carola denken und schiebe mich so weit es geht an dem Pferdekopf vorbei, um zu versuchen, die Frau zu mir in Deckung zu zerren. Die Hand der Frau ist warm, ich ziehe sie näher und spüre eine Reihe Einschläge den Körper der Frau durchsieben. Blut spritzt auf mein Gesicht und meinen Hals. Gleichgültig, alles ist gleichgültig. Ich kann die Bäuche der Flugzeuge genau sehen, die keine zwanzig Meter über uns dahinjagen. Ob dieses Kriegsverbrechen bejubelt werden wird in Washington und London? Die Maschinen drehen ab. Ein paar Minuten durchatmen vor dem nächsten Mordanfall.
»Jakob?«, glaube ich Carolas Stimme zu hören, oder ist das schon Delirium? »Jakob, bist du da?«
»Ja, ich liege unter dem Fuhrwerk, neben dem Pferd. Wo bist du?«
»Irgendetwas hat mich vorhin eine Kellertreppe hinuntergeschoben. Ich bin gerade erst wieder bei Bewusstsein. Ich komme nicht hoch. Ein Mann liegt auf mir und geht nicht runter. Hilf mir, Jakob.«
Ich krabble unter dem Fuhrwerk hervor, nehme automatisch den Koffer und den Rucksack und rufe nach Carola. »Ruf weiter, damit ich hören kann, wo du bist.«
»Hier, Jakob. Hier, hier!«
Die Stimme kommt genau von vorn. Also los. Dabei muss ich an dem toten Volkssturmmann vorbei. Ich betrachte ihn gedankenverloren. Die kleine Pistole, mit der er vorhin auf das Flugzeug geschossen hat, hebe ich mechanisch auf und schiebe sie in meine Manteltasche. In der leicht geöffneten Hand des Mannes entdecke ich ein paar unbenutzte Patronen. Die stecke ich ebenfalls mechanisch ein. Warum, kann ich nicht sagen, es geschieht sozusagen von selbst. Ob ich überhaupt irgendetwas denke, merke ich nicht. Ich gehe weiter in die eingeschlagene Richtung und wache unvermittelt wieder auf.
»Carola? Ruf noch mal.«
»Hier bin ich«, höre ich ihre Stimme jetzt aus der Nähe. Komisch, außer einem Krater ist doch hier nichts. Darin schwimmen einige Balken und Bretter im Wasser. Plötzlich erkenne ich zwei Schritte neben mir eine Kellertreppe direkt am Kraterrand. Am Fuß der Treppe liegt ein bulliger Männerkörper, an dessen Schulter vorbei ein Arm hervorschaut, dessen Hand winkt. »Hier bin ich.«
»Alles klar, ich habe dich gesehen, Carola. Ich komme runter.«
Der Mann ist tot. Mausetot und elefantenschwer. Ich zerre an seinem Mantelkragen, aber die Leiche lässt sich kaum bewegen.
»Du musst schieben helfen, Carola. Und jedes Mal, wenn ich an dem Kerl ziehe, musst du versuchen, dich unter ihm ein wenig wegzubewegen. Auf drei.«
Ich zähle: »Eins, zwei, und drei«, zerre am Kragen und spüre, dass der leblose Körper sich bei jedem Versuch etwas mehr bewegt als vorher. Bald liegen Carolas Kopf und die Arme frei.
»Wenn ich mich mit den Händen an der Tür abstütze und mit den Beinen schiebe, geht es vielleicht besser, Jakob.«
»Lass es uns versuchen.«
Ich zähle erneut bis drei und spüre, dass ich den schweren Mann jetzt mit einem kräftigen Ruck zu mir ziehen kann. Carola schreit auf, die Tür zum ehemaligen Keller des Hauses, der nun nur noch ein tiefer Krater ist, springt auf und eine hohe Wasserwelle schießt daraus in den Treppenabgang. Carola ist sofort vom Wasser überspült. Sie kann wohl immer noch nicht unter dem Mann weg. Nur die Hände ragen aus dem Wasser. Der Wasserspiegel steigt verfluchterweise unglaublich schnell. Schon stehe ich bis zum Bauch in stinkendem, faulem Wasser. Die Leiche wiegt nun etwas weniger, wahrscheinlich wegen des Wasserdrucks. In meiner Angst entwickle ich ungeahnte Kräfte und zerre den Toten zur Treppe hin. Im selben Augenblick erscheint Carolas Kopf über der Wasseroberfläche. Sie hustet und spuckt eine Menge Brackwasser aus. Ich ergreife sie unter den Achseln und schleppe sie die Treppenstufen hinauf. Hinter uns schwappt das brackige, ölige Wasser. Carola hustet und spuckt weiter. Na, ich hätte unter Wasser eingeklemmt wahrscheinlich auch in Todesangst geschrien.


11.

Wir stapfen durchnässt und in feuchten Schuhen, zittern mit allem, womit wir nur zittern können, denn es ist saukalt in den nassen Klamotten. Die Zähne klappern, dass es wehtut und weit und breit gibt es trotz der vielen Brände keine Gelegenheit, uns aufzuwärmen oder gar zu trocknen.
In der Lindengasse betrachtet uns eine ältere Frau staunend, weil wir eine Spur Wassertropfen hinter uns zurücklassen. Sie folgt uns ein paar Schritte und spricht uns dann an. »Verzeihen Sie, wie sind Sie denn nur so nass geworden? Es gibt weit und breit keine Löscharbeiten.«
»Wir sind gerade beschossen worden und ich habe in einem Kellerabgang Schutz gesucht der unter Wasser stand«, antwortet Carola. Sie schlottert vor Kälte und hat ganz blaue Lippen.
»Aber Sie können so nicht weiter in der Kälte. Sie holen sich ja den Tod.«
»Na, ist doch ganz passend in dem Chaos hier um uns herum«, sage ich und vollführe eine kreisrunde Bewegung mit der Hand über meinem Kopf.
»Das kann ich gar nicht mit ansehen. Es sterben bereits genug Leute im Feuer, da müssen Sie ja nicht unbedingt erfrieren, oder?«
»Nein, nicht unbedingt. Was sollen wir denn machen? Unsere Wohnung gibt es nicht mehr und die Wärmebuden haben sicherlich nicht geöffnet bei dem ganzen Drumherum.« Mich schüttelt es genauso wie Carola.
»Das ist wahr«, stimmt die Frau zu. Sie winkt. »Reden wir nicht lang, kommen Sie mit. Der Bollerofen in unserem Keller hat gewiss noch etwas Glut. Dort können Sie sich trocknen und aufwärmen. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber Ihren Zustand werden Sie nicht mehr lange aushalten.«
»Das ist mehr als freundlich von Ihnen«, sagt Carola und folgt der Frau geschwind. Ob ich mit dem schweren Koffer nachkommen kann, interessiert die zwei Frauen anscheinend weniger. Unerhört, denke ich und schleppe mich hinter den beiden her, dass mir sogar warm wird.
Im Ofen glimmt tatsächlich ein wenig Glut. Die Frau legt einige Holzscheite nach und verlässt dann den Kellerraum, um vor der Tür aufzupassen, denn wir entkleiden uns bis auf die Haut und trocknen die Sachen an dem Ofen. Wie Adam und Eva im Paradies, stehen wir nahe dem Ofen in dem fremden Keller und wenn ich Carola im Evakostüm so betrachte, spüre ich Lust ...

Trocken und wohlig warm erreichen wir die Wiener Straße gegenüber der ehemaligen Englischen Kirche. Den Hauptbahnhof kann ich schon erkennen. Unvermittelt stehen wir unserem ehemaligen Hausarzt und Freund Horst Lutter gegenüber. Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Horst freut sich, uns lebend anzutreffen. Weil er die Handhabung der Medizin nach NS-Grundsätzen von Beginn an weit von sich wies, darf er seit 1934 nicht mehr praktizieren. Lediglich Lutters internationaler Ruf hat ihn bis jetzt vor dem KZ bewahrt. Er grinst über meinen fehlenden Stern auf der Brust.
»Das ist wunderbar, Jakob. Wenigstens ein vernünftiger Mensch aus der Herde braver Schafe. Ihr dürft aber nicht in Dresden bleiben. Mein Freund, du bist einfach zu bekannt. Ach so, ihr habt ja einen Koffer gepackt. Sehr vernünftig. Wo soll’s hingehen?«
»Wir haben gehört, dass Züge in den Westen fahren.«
»Nun ja, Züge ist wohl ein wenig übertrieben, nur hier und da fährt tatsächlich mal ein Zug ab. Und das mit dem Westen ist auch so eine Sache. Oder habt ihr eine sichere Verbindung?« Sein Gesichtsausdruck wirkt überaus erstaunt.
»Nein, wir werden sehen.«
Horst lacht sein sympathisches Lachen. »Hätte mich in der Tat gewundert. Passt auf, wenn einer eine Gelegenheit findet, dann Hardenberg.«
Vor Aufregung kriege ich fast den Schluckauf und gleichzeitig rinnt mir der Angstschweiß den Rücken hinunter. »Hardenberg? Doch nicht etwa der Hardenberg?« Aus, denke ich, wir kommen hier nie mehr raus.
»Aber natürlich der Hardenberg. Das ist ein prima Mann, glaub mir. Es gibt in Dresden kaum etwas, was der nicht weiß. Und es gibt beinahe nichts, was der nicht hinkriegt. Wartet mal, ich hole ihn.«
»Genau davor fürchte ich mich. Der kennt mich und bringt mich sofort aufs Schafott«, stottere ich entsetzt. »Der hat dich damals observiert und dafür gesorgt, dass du nicht mehr arbeiten darfst! An den willst du uns verschachern? Da kann ich mich besser gleich erschießen.«
»Na, na, na. Gerade Hardenberg kann ich absolut vertrauen, und zwar, weil er mich damals observiert hat, das war ja schließlich sein Auftrag. Wenn er mich nicht ständig über den Stand der Ermittlungen gegen mich informiert, und nicht einiges, was er herausfand, unterschlagen hätte ... mein Leben wäre schon vor zehn Jahren keinen Pfennig mehr wert gewesen. Der war überhaupt der Einzige, der mich hatte beschützen können und das bis heute tut. Gut, von mir aus, wenn ihr euch nicht von Hardenberg helfen lassen möchtet, geht zum Bahnhof und versucht ruhig selbst euer Glück. Macht aber um Himmels willen keine Dummheiten! Wenn sie dich ohne Stern erwischen, habt ihr es beide hinter euch. Na, ihr kennt selber die Gesetze. Sobald ich Hardenberg gefunden habe, kommen wir zum Bahnhof und regeln die Sache.«
Der Hauptbahnhof ist tatsächlich in sich zusammengestürzt, die Ruine wirkt beängstigend. Die Gleise auf der Ostseite des Bahnhofs sind menschenleer, auf der Westseite stehen auf den Gleisen außerhalb des Bahnhofs wirklich mehrere Güterzüge mit Lokomotiven davor in Richtung Westen. Die Waggons quellen über vor Menschen. Neben den Schienen türmen sich Habseligkeiten. Unwillkürlich muss ich an den Brief vom SS-Mann an der Rampe denken. So wird es dort auch ausgesehen haben. Mit dem Unterschied, dass hier die Leute aus dem Tod kommen. Jeder will bloß weg und verzichtet anscheinend gern auf Hab und Gut, nur um einen Platz in einem der Waggons zu ergattern. Dabei handelt es sich nicht einmal um Sitzplätze, denn weil möglichst viele Menschen mitsollen, stehen sie dicht gedrängt in den Güterwaggons. Und wir schieben von draußen nach. Das heißt, wir drängen gar nicht selbst, sondern werden von hinten weitergedrückt. Ich komme mir vor, als würde ich in der Menge ertrinken, zudem regnet es wieder. Na egal, dann sind wir eben bald erneut klatschnass bis auf die Haut. Hoffentlich holt man sich nicht eine Lungenentzündung. Die Leute zerren am Koffer, am Mantel, den Ellbogen kann ich kaum ausweichen, so eng ist es. Scheißdreck, denke ich, das wird doch nichts. Keine Chance auf Mitgefühl. So, ich habe die Schnauze voll, nicht nur von fremden Händen und Ellbogen. Jetzt wehre ich mich und schlage wütend um mich. Zunächst treffe ich zwar nur das eine oder andere Gesicht, ob Mann oder Frau ist mir wurscht, ich will hier raus! Die Leute um mich herum machen in ihrer Furcht ein wenig Platz. Prima, endlich kann ich eine kleine Bresche für mich in die Menge prügeln. Da ich ja nicht nach vorne zum Waggon will, sondern zurück, geben die Menschen nun den Weg für mich frei. Ich höre Carolas Stimme hinter mir und spüre, dass sich jemand an meinen Hüften festhält. Na, hoffentlich ist sie das. Ich sehe den Gesichtern an, dass die Leute mich für blöd halten, nein, vielmehr für wahnsinnig, haben wohl deswegen Angst und weichen etwas vor mir zurück. So, draußen bin ich und kann endlich frei atmen, so ein Wahnwitz! Carola steht neben mir. »Du meine Zeit, ich dachte, die trampeln mich tot, wenn ich stolpere.«
»Würden sie wahrscheinlich sogar tun. Schau dir das an, vor jedem Waggon das gleiche Bild.«
Die Masse drückt und Uniformierte drängen zurück. Eine Waggontür nach der anderen wird zugeschoben, die davorstehenden Männer mit Stahlhelmen zielen auf die Menge mit den Waffen im Anschlag. Nächster Wagen. Und der nächste. Und so weiter. Nachdem die letzte Tür geschlossen ist, rufen die Bewaffneten das Ende der Beladung von Waggon zu Waggon nach vorne durch.
Die Lokomotive pfeift, ich rieche schwefeligen Wasserdampf, der Zug ruckt, die großen Räder der Lokomotive drehten eine viertel oder halbe Umdrehung durch, finden Halt und der Zug setzt sich langsam und quietschend in Bewegung. Einige Wagemutige halten sich an Vorsprüngen und Haken der Waggons fest, werden ein Stück mitgezerrt und fallen dann zu Boden. Manche von ihnen rutschen unter die Räder des Zuges. Wie es da aussieht, will ich gar nicht wissen.
Glücklich, wer mitfahren darf. An den anderen Gleisen spielen sich nahezu dieselben Szenen ab. Aber niemand verlässt den Platz, an dem er steht. Nach einer Weile fährt ein weiterer Zug ab, dann noch einer. Wenig später treffen andere Güterzüge rückwärts fahrend auf den von Menschen umringten Gleisen ein. Der Kampf um eine Fahrgelegenheit beginnt erneut.
Ich sehe eine junge Frau, der sehr schnell geholfen wird, in einen Waggon zu klettern. Sie winkt und ruft irgendwem irgendetwas Unverständliches zu. Ein junger Mann zwängt sich kraftvoll vor, kann den Rahmen der Waggontür ergreifen und ist gerade im Begriff sich hinaufzuziehen, da zerrt ihn jemand von hinten ebenso kraftvoll zurück. Der junge Mann fällt zu Boden und die anderen Menschen drängen voran, ohne sich um ihn zu kümmern. Er kommt wieder auf die Beine, doch der Waggon quillt bereits über von Leuten. Er hat nicht die Spur einer Chance mehr, merkt das wohl selbst und ruft etwas. Eine vor Angst schrille Frauenstimme ist zu hören. Zwei Uniformierte schieben, wie vorhin bei uns, zurück, einer der beiden steht im Begriff, die Waggontür zu schließen. Dann ist das Paar getrennt, überlege ich, welch ein Ärger. Aus dem Inneren des Waggons fällt ein Körper hinaus, dem drängenden Bewaffneten in den Rücken. Der Mann muss sich sehr erschreckt haben, denn er schießt jetzt blindlings in die Menge. Ein Mann sinkt mit einem Seufzer in sich zusammen. Dem Schützen steht das blanke Entsetzen im Gesicht. Über seine Schulter hinweg erkenne ich die junge Frau in der Öffnung des Waggons, sie rupft einem neben ihr im Waggon stehenden Mann ein ganzes Büschel Haare aus, drängt ihn beiseite und springt dann aus dem Waggon hinaus. Sie rudert wild mit den Armen und schwimmt beinahe auf der Menge. Der entsetzt wirkende Uniformierte bekommt ihren rechten Arm genau auf die Nase und blutet sofort. Der zweite Uniformierte schießt über unsere Köpfe hinweg das ganze Magazin seiner Maschinenpistole leer. Augenblicklich setzt lähmende Stille ein, kein Laut ist mehr zu hören. Bloß die junge Frau rudert weiter, findet ihren Partner und fällt ihm um den Hals. In ihrer Hand hält sie immer noch das große Bündel dunkler Haare, an dem ein Stückchen Kopfhaut klebt.
»Das ist zwecklos, Carola. Lass uns zurück.«
»Hm, meinst du zu Horst?«
»Tja, vielleicht, lass uns von hier verschwinden.«
An der Kirche, Ecke Wiener Straße, treffen wir Lutter und Hardenberg, bei dessen Anblick mir richtig übel wird. Der Nazispitzel wirkt hingegen völlig ungerührt. Er grüßt und versucht Carola nonchalant die Hand zu küssen. Sie zieht die Hand weg. Was für ein Mistkerl! Schleimer! Denunziant! Mir fallen gar nicht schnell genug passende Bezeichnungen für Hardenberg ein. Ich weiß genau, dass der niemals eine Hand für uns rühren wird. Wir plaudern trotzdem eine Weile so unbeschwert, wie im Moment nur möglich. Wir berichten von der Aussichtslosigkeit, eine Fahrgelegenheit zu erkämpfen.
»Das ist der reinste Bürgerkrieg. Und die Kerle schießen obendrein auf die Menschen. Unfassbar ist das! Da finden wir lieber einen anderen Weg. Notfalls gehen wir zu Fuß.« Mir wird sogar richtig warm, trotz des kühlen Regens.
»Nun, dass Sie nicht die Einzigen sind, die wegwollen, hätte Ihnen ja klar sein müssen. Ich wüsste allerdings eine Alternative.«
»Danke schön, Herr Hardenberg. Aber auf Ihre Hilfe können wir liebend gern verzichten!« Carola schnauft und lässt giftige Blicke auf ihn ab. Ich kann zu dem Mistkerl aber selbst einfach nicht freundlich sein.
»Weshalb sind Sie so unfreundlich zu mir?«, fragt er.
»Das ist ja wohl das Allerletzte. Wie viele Menschen haben Sie auf dem Gewissen? Wie erbärmlich muss man sein, um als Nazispitzel zu arbeiten?«, frage ich ihn.
Hardenberg tritt zu mir und packt mich am Mantelkragen. »Halten Sie Ihr dämliches Maul! Ich habe niemanden auf dem Gewissen, wie Sie es ausdrücken. Die Leute, um die ich mich gekümmert habe, leben alle und sie leben nur deswegen, weil ich mich gekümmert habe und sie so aus der Schusslinie gezogen habe, ganz im Gegensatz zu Ihrer Rassegenossin Stella Goldschlag. Nie von der Dame gehört, was? Wäre ja unangenehm, wenn man nicht mehr nur auf den anderen herumhacken kann, wenn unter den eigenen Leuten die gleichen Scheißtypen sind wie bei uns, was? Ja, da steht die Schlabberschnauze still! Eine wahre Vorzeigejüdin, diese Frau Goldschlag. Blond, blauäugig und so was von arischem Aussehen, dass sie niemals einen Ausweis zeigen muss. Wozu auch? Immerhin hat sie bisher in Berlin schon ein paar Tausend untergetauchte Juden an die Gestapo verraten. Aber das ist ja was anderes, nicht wahr? Das ist ja eine von euch, die edle Dame.«
Er hebt die Hände ein wenig und winkt dann angeekelt ab.
»Ich glaube Ihnen kein Wort. Gib mir den Rucksack, Jakob, wir wollen gehen.«
Carola nimmt ihn mir von der Schulter und wendet sich ab.
»Stimmt das?«, möchte ich von Hardenberg wissen.
»Gehen Sie selbst nach Berlin und fragen nach Stella Goldschlag. Am besten gleich in der Prinz-Albrecht-Straße 8. Fragen Sie nach dieser aufrichtigen Helferin wie aus dem Bilderbuch; und zwei Minuten später sitzen Sie unten im Folterkeller. Dann gibt es Säure über die Füße, die Haut reißt man Ihnen vom Leib und nach zehn Minuten möchten Sie nur noch sterben. Man lässt Sie nicht, weil man dort erst herausprügeln will, von wem Sie das wissen. Und dann werden Sie reden. Was glauben Sie, bei wie vielen Glaubensgenossen die Goldschlag das genossen hat, zuzusehen?! Ich habe keinen Einzigen in die Folterkeller geschickt. Ach, lassen wir das. Eine andere Sache, das Ding in Ihrer Manteltasche sollten Sie nicht so freimütig mit sich herumtragen. Auch in Dresden nicht, Herr Doktor Löwenthal. Lose Patronen klappern wirklich allzu verräterisch. Wenn Sie wenigstens laden würden, dann bliebe es stiller.«
Er lächelt überlegen. Plötzlich scheint er zu stutzen. »Sie haben nicht den kleinsten Schimmer, wie Sie das Ding laden sollen, was? Aber damit herumlaufen. Sie haben vielleicht Nerven.« Hardenberg betrachtet mich wie ein geduldiger Lehrer, der einen begriffsstutzigen Schüler müde und mitleidvoll betrachtet.
Ich bin schockiert. Meine Stimme versagt, mein Hals kratzt trocken.
»Ich weiß alles, mein Lieber. Nur deswegen lebe ich noch. Geben Sie her das Ding, ich zeige Ihnen, wie es funktioniert.«
Ich gehorche ohne zu denken.
»So entriegeln Sie das Magazin.« Er steckt die Pistole unter seine linke Achselhöhle. »Geben Sie mir die Patronen. Gut. So laden Sie. Und so schieben Sie das Magazin hinein. Nun spannen.« Er zieht den Schlitten zurück und hörbar schnappt ein Mechanismus ein. »Wenn Sie unbedingt schießen müssen, dann brauchen Sie nur das Hebelchen hier mit dem Daumen nach unten zu drücken und können sofort losballern. Ich wünsche Ihnen, dass Sie niemals in die Verlegenheit kommen werden, die Waffe zu benutzen. Wenn Sie aus Dresden heraus sind, werfen Sie die Knarre besser weg. Sollten Sie jedoch schießen müssen, dann zielen Sie nicht auf den Kopf des Gegners, den treffen Sie nie. Zielen Sie auf den Bauch, manche haben ja Anfängerglück. Und jetzt fuchteln Sie mit dem Scheißding nicht so rum, Mensch. Stecken Sie es wieder ein!«
Ich schiebe die Waffe in meine Manteltasche und schaue Hardenberg an. »Welchen Gegner meinen Sie?«
Er lacht erneut. »Sie sind ein Kindskopf. Ob nun SA oder der USA, da gibt es nur wenig Unterschied; abgeknallt werden Sie von beiden, wenn man Sie mit einer Waffe aufgreift. Dann hilft nur noch beten und an ein besseres Jenseits glauben. Apropos glauben. Glauben Sie bloß nicht, dass Sie einen Waggonplatz erkämpfen könnten. Dazu müssten Sie sich den Weg schon freischießen, und davon rate ich, wie gesagt, ab. Ihre Frau hat recht, zu Fuß ist es einfacher, aus Dresden zu verschwinden, alles Weitere wird man dann sehen. Deswegen gehen Sie mal kurz in den Schuppen neben der Kirche. Da finden Sie ein Hilfsmittel, das Sie sicherlich ausgezeichnet gebrauchen können. Guten Tag.«
Abrupt wendet Hardenberg sich zu Lutter. »Viel Glück«, wünscht der, und beide gehen in entgegengesetzter Richtung fort.
»Kommst du, Jakob?«, fordert Carola, die bereits ein paar Schritte entfernt ist. Ich hole rasch auf. Carola blickt mich fragend an. Im Augenblick steht mir der Sinn nicht nach Erklärungen. Dieser Hardenberg wird mir immer unheimlicher. Ob das mit dieser Frau in Berlin wohl stimmt? Zuzutrauen ist uns Menschen einfach alles!
»Was ist denn nun? Vorhin wolltest du unbedingt weg und jetzt halten wir eine Sprechstunde ab«, klagt Carola.
»Bleib bitte mal stehen. Hardenberg riet, wir sollten zur Kirche gehen. Wir würden dort Hilfe finden. Was meinst du, sollen wir ihm glauben?«
»Hilfe? Welche Hilfe?«
»Ich habe nicht die Spur einer Ahnung. Wenn er uns hätte denunzieren wollen, hätte er dies längst tun können. Was meinst du?«
Carola blickt an mir vorbei. »Wo sind die denn hin?«
Lutter und Hardenberg sind wie vom Erdboden verschwunden.
»Weißt du was, ich gehe allein«, schlage ich vor. »Und du wartest hier. Wenn die Luft rein ist, rufe ich dich.«
»Sei bloß wachsam, Jakob.«
»Klar«, verspreche ich, stelle den Koffer neben Carola ab und gehe vorsichtig zurück, durch das Türchen vor der Kirche und erreiche den Schuppen. Die Tür ist nicht geschlossen. Na, riskieren wir einen Schritt. »Hallo! Hallo, ist da jemand?«
Decken verhüllen mehrere Haufen. Ich hebe eine Decke an. Gerümpel. Was sollen wir damit? Gerümpel und Schutt liegen in Dresden tonnenweise herum, da kann ich genauso gut wieder gehen. Neben der Tür lehnt ein Herrenfahrrad an der Wand. Ob das Fahrrad das Hilfsmittel ist, von dem Hardenberg geredet hat? Gut und schön, trotz allem kann ich nicht einfach ein Fahrrad stehlen. Das könnte man mir als Plündern auslegen. Und darauf steht Hängen. Nein danke. Am Sattel des Fahrrads ist ein Zettel angeheftet. ›Lieber Doktor, liebe gnädige Frau. Vielleicht hilft Ihnen dieses Fahrrad, Ihr Ziel etwas bequemer zu erreichen. Liebe Grüße, H.‹
Ich schiebe das Rad über den Kirchhof zu Carola. Als ich ihr den Zettel zeige, ist sie ebenso irritiert wie ich. »Wer ist H.? Etwa ...«
»Hardenberg, ja. Gehe ich mal von aus. Wer sollte sonst davon wissen? Ich weiß es aber nicht, Carola. Andererseits könnte ich mir denken, dass Hardenberg eventuell irgendetwas mit dem Widerstand zu tun haben könnte. Lass uns zunächst von hier verschwinden. Alles Weitere sehen wir später. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass wir doch noch weg können.«
»Ich auch nicht, Jakob.«
Ich klemme den Koffer auf den Gepäckträger, hänge mir den Rucksack um, setze mich auf den Sattel und Carola klettert vor mir auf die Stange. Mehr wackelig als sicher strampele ich los. Angesichts der Trümmerberge und zahllosen Toten ist es ein hoffnungsloses Unterfangen, fahren zu wollen. Also steigen wir wieder ab und gehen zu Fuß an zerstörten Fahrzeugen und unzähligen Gruppen und Grüppchen mutlos auf wenigen Sachen hockenden, mehr tot als lebendig wirkenden Menschen vorbei. Das Fahrrad ist dennoch insoweit eine wesentliche Erleichterung, da wir unser Gepäck nicht tragen müssen. Immerhin etwas.
Unser Weg führt uns ein letztes Mal am Großen Garten vorbei. Der Verwesungsgestank hängt wie eine dicke Decke in der Luft. Der Ekel erdrückt jegliches Hungergefühl. Einige wenige Fahrzeuge sind halbwegs fahrbereit und schließen sich den Kolonnen der Fußgänger an. Am Basteiplatz schwenkt die Mehrzahl der Menschen in Richtung Elbe. Bloß raus aus dieser Masse, denke ich, wir sollten uns lieber elbaufwärts in Richtung Prohlis halten. Wir beraten kurz und entschließen uns dann auch dazu.
Auf der Pirnaer Landstraße können wir sogar auf dem Fahrrad fahren. Es beginnt bereits zu dämmern, als wir uns Laubegast nähern. Dresden liegt schon längst hinter uns, aber wir haben uns beide den ganzen bisherigen Weg nicht umgedreht. Aus Aberglauben. Die Schäden in diesem Vorort Dresdens halten sich in Grenzen, angesichts der Trümmerwüste, aus der wir kommen. Ich habe einen Mordshunger und einen tierischen Durst. Ich glaube, ich werde mal anhalten.
Carola klettert von der Stange. Sie reibt sich den Po. »Das ist eine unangenehme Sitzhaltung, Jakob. Ich würde gerne mal eine Pause einlegen. Unter Umständen finden wir ein Quartier für die Nacht. Was meinst du, ob wir Gersmanns aufsuchen sollen?«
»Du meinst Mäxchen besuchen? Das halte ich nicht für gut«, sage ich. »Dann tut der Abschied doppelt weh. Außerdem, denk an das Kind. Wie sieht denn das aus, Frau Gersmann kommt angeblich mit deinem Kind nach Hause und wenig später stehen wir selbst vor der Tür. Das wäre reichlich sonderbar, nicht wahr?«
»Du hast ja recht, Jakob. Lass uns lieber bis Leuben weiterfahren. Vielleicht steht der Feenpalast noch. Im Gasthof bekommen wir zumindest etwas zu essen und zu trinken. Ich habe einen Mordsdurst.«
»Ich auch. Die Nonne hatte wahrlich recht, uns mit Reisemarken und ein wenig Geld zu versorgen. Wie hättest du es jetzt lieber? Fahren oder laufen? Dein Podex darf entscheiden.«
»Ach, lass uns fahren. Müde bin ich nämlich außerdem.«
Leuben scheint bis auf ganz wenige Schäden von den Auswirkungen der Angriffe verschont geblieben zu sein. Der Feenpalast steht noch. Wir stellen das Fahrrad vor der Tür ab, Carola trägt den Rucksack und ich den Koffer. So betreten wir den Gasthof, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Es ist angenehm warm im Schankraum und wir sind die einzigen Gäste an diesem frühen Abend. Wir setzen uns an den zweiten Tisch. Den ersten, auf dem der Wimpel des Stammtisches prangt, meiden wir; diese Art der Geselligkeit widert mich von jeher an.
Eine schlanke Frau mit dunkelbraunem mittellangem Haar erscheint hinter der Theke.
»Guten Tag, die Herrschaften.«
»Guten Tag. Können wir bei Ihnen etwas zu essen bekommen? Wir sind auf der Durchreise. Wir haben Reisemarken.«
»Brauchen Sie nicht, bei uns gibt es nur Eintopf, der ist frei.«
»Wunderbar, zwei Portionen und zwei Tassen Tee bitte.«
»Pfefferminze, Hagebutte oder Kamille?«
Drei Sorten zur Auswahl, unfasslich. Carola schmunzelt. »Pfefferminze, wir haben seit Ewigkeiten keinen Pfefferminztee mehr bekommen.«
»Sie sehen ein wenig müde aus. Möchten Sie sich etwas frisch machen?«
»Liebend gerne. Entschuldigen Sie noch eine Frage. Eine Übernachtungsmöglichkeit haben Sie zufällig nicht mehr frei? Für eine Nacht?«
»Wir haben nur freie Zimmer, seitdem die Front immer näher rückt. Die hohen Herren haben sich anscheinend bereits nach Westen abgesetzt. Die Flüchtlinge aus dem Osten fahren meist nur vorbei. Selten genug traut sich mal einer herein und fragt nach etwas zu essen. Deswegen haben wir nur Eintopf. Der Teller für zwei Groschen, mehr können sich die meisten doch gar nicht mehr leisten. Eine Karaffe Leitungswasser gebe ich gratis dazu. Arme Schweine. Verzeihen Sie, Sie meine ich natürlich nicht. Wo sind Sie her?«
»Mitten aus Dresden.«
»Aus Dresden? Entschuldigung, aber so sehen Sie wirklich aus. Man hat das Feuer bis hierhin am Himmel gesehen. Man traut sich gar nicht nachzufragen. Den Donner haben wir gehört. Das muss heftig gewesen sein.«
»Das war es. Von Dresden ist nicht mehr viel übrig. Nur Trümmer und Tote.«
Zwei Männer betreten den Gastraum, sind vermutlich Arbeiter in der Landwirtschaft. Sie bestellen Bier. Hätte ich eigentlich auch drauf kommen können. Die Wirtin wendet sich den beiden zu.
»Nehmt euch die Flaschen selbst, ich zeige den Herrschaften kurz das Zimmer. Sie kommen aus Dresden und möchten übernachten. Sie sagen, alles sei kaputt in der Stadt.«
»Will’s wohl glauben«, meint der größere. »Waren ja Flugzeuge genug. Hier wird es ruhig bleiben, die Amis haben mit uns nichts vor. Wir sind zu weit draußen. Nimm dich in Acht vor Erwin!«
Die Wirtin nickt. »Tja, ein Problem haben wir noch. Ich muss das Gästebuch jede Woche vorlegen. Sie haben sicherlich Ihre Reisegenehmigungen dabei?«
»Einen Reisepass, ja.«
»Könnte ich ihn bitte sehen? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber wenn ich Sie aufnehme und fülle nicht sofort die Anmeldung aus, bekomme ich Schwierigkeiten.«
Ich reiche ihn der Frau.
Sie füllt die Anmeldung sorgfältig aus und gibt ihn mir dann zurück. »Im vergangenen August hatte ich mal Ärger wegen einer fehlenden Anmeldung. Das möchte ich nicht erneut mitmachen. Entschuldigen Sie.«
Wir sollen ihr folgen und steigen in die obere Etage. Sie öffnet die Tür rechts von der Treppe. Wir betreten ein sauberes Zimmer mit zwei Betten, rot-weiß karierte Bezüge darauf. In der Ecke beim Fenster steht ein Waschtisch mit Steingutkaraffe und Waschschüssel. In den Fensterrahmen glänzen unbeschädigte Glasscheiben. Das Ganze wirkt so unglaublich, dass ich mich gar nicht richtig hinzusehen traue.
»Das Zimmer kostet fünf Mark pro Nacht. Die Toilette ist hinten am Ende des Flures. Dort steht auch die Wanne. Wenn Sie möchten, heize ich den Boiler ein. Das kostet allerdings extra. Brennstoff ist bei uns hier draußen knapp. Warten Sie, ich hole Wasser, damit Sie sich zunächst einmal etwas frisch machen können. Dann essen Sie und in der Zwischenzeit ist das Badewasser warm.«
»Ich glaube, ich bin im Märchen«, staunt Carola, als die Wirtin mit der Karaffe das Zimmer verlassen hat. Sie streicht vorsichtig über das Bettzeug, vergewissert sich mehrmals, dass es wirklich dort liegt. Es kommt mir ebenfalls so vor, dass wir schon Ewigkeiten nicht mehr in einem Bett gelegen haben. Wenn ich bedenke, dass ich gestern für den Platz auf dem Steinboden vorm Abort im Bahnhof ebenso viel bezahlt habe.
Im Schankraum haben sich mittlerweile vier weitere Männer an der Theke eingefunden. Sie trinken Schwarzbier. Wann habe ich eigentlich das letzte Schwarzbier getrunken? Bis vor ein paar Tagen hatte es mir genügt, jeden einzelnen Tag zu überleben und den hinter mir liegenden schnellstens zu vergessen. Seit Neuestem denke ich wieder an gestern, vorgestern und morgen. Und probeweise an übermorgen, bildlich gesprochen. Ein sehr angenehmes Gefühl.
Wir setzen uns an den Tisch und die Wirtin bringt eine Schüssel mit Erbsensuppe, zwei Teller, zwei Löffel und ein paar Scheiben Graubrot. Wie die Wölfe fallen wir über die Suppe her. Die anderen Gäste belächeln unsere Gier. Ruck, zuck haben wir die Schüssel leer gelöffelt und lehnen uns satt und zufrieden zurück. Gleich fallen mir die Augen zu.
Ein sehr beleibter älterer Mann im Arbeitsanzug tritt zu uns. Er tippt an den Schirm der Mütze. »Darf ich mich zu Ihnen setzen? Danke. Sie kommen aus Dresden? Richtig Dresden?«
»Ja. Wir wohnten in der ...«, Vorsicht, sage ich mir. Nicht gleich zu vertrauensselig sein, »... Prager Straße, die gibt es nicht mehr. Überhaupt in ganz Dresden gibt es nicht mehr sehr viel. Nur Trümmer und Tote.«
Der einzige der Männer, der mit einem Straßenanzug bekleidet ist, setzt sein Bierglas hörbar auf die Theke. Derjenige, der bei uns am Tisch sitzt, schließt die Augen und legt seine Hand mit dem Daumen an den Kragen des Arbeitsanzuges und tippt mit dem Zeigefinger gegen das Revers. Was immer das bedeuten mag. Er fragt, wie es denn in den vergangenen Nächten in Dresden gewesen sei.
»Schrecklich«, sage ich. »Einfach grausam. Die haben Dresden um- und umgepflügt. Da steht nichts mehr.«
»Und die Flak?«
»Vergessen Sie Flak, ich habe höchstens fünf Lichtfinger am Himmel gesehen. Ist nichts mehr da. Wird alles für Berlin gebraucht.« Ich rege mich auf und will gerade richtig loslegen, aber der Mensch an unserem Tisch kneift die Lippen fest zusammen, zwinkert ständig und formt mit den Lippen das Wort ›Spitzel‹.
Ach so, endlich kapiere ich. Der im Anzug ist von den anderen. Schnauze halten, Jakob! Außerdem bin ich hundemüde und will in das schöne Bett da oben. Und Arme und Beine tun weh vom ungewohnten Radsport.
»Nanu, keine Schauergeschichten mehr?«, fragt der mit dem Straßenanzug. »Wo wollen Sie denn hin, wenn Sie doch aus Dresden kommen?«
»Zurück nach Hause.«
»Ach. Zurück nach Dresden? Sieh mal einer an.«
»Nein, in Dresden war ich nur beruflich engagiert. Unser Zuhause ist in München.« Chuzpe, Jakob!
»Aha, in München. Seltsam, ich meine, ich hätte Ihr Gesicht schon mal irgendwo gesehen.«
»Das ist sehr gut möglich; ich bin Schauspieler am Staatstheater. Das heißt, das war ich. Das Gebäude gibt es inzwischen nicht mehr. Vielleicht haben Sie mich mal auf der Bühne gesehen?«
Der Mann an unserem Tisch lacht prustend los. »Der Erwin? Der kennt nur Heldentheater.«
Die anderen Männer lachen ebenfalls. Nur der Spitzel nicht. Der stellt das Bierglas nochmals gut hörbar auf die Theke. »Ich vertrete in Leuben das Volk und die Partei.« Er lüpft das Revers des Anzuges und zeigt den verdeckt getragenen Existenzknopf. Jetzt kapiere ich die Handbewegung von gerade.
Die Wirtin fällt ihm ins Wort. »Da ist die Anmeldung. Den Reisepass wird dir der Herr Anders sicher gerne zeigen.«
Ohne die Miene zu verziehen, blickt der Spitzel auf die Anmeldung und verlässt den Gastraum. Der Dicke am Tisch reibt seine Nase. »Sind Ihre Papiere in Ordnung? Könnte durchaus sein, dass der wiederkommt.«
»Wollen Sie etwa auch unseren Reisepass sehen?«
»Nein, nur dem Erwin traut hier niemand über den Weg. Aber wenn Sie Papiere haben, dann passiert wohl nichts.«
Na hoffentlich. Ich möchte nur noch baden und dann ins Bett. Sterben steht vorerst nicht mehr auf meinem Programm, ganz im Gegenteil.
Das warme Badewasser entspannt die Gelenke, das gewaschene Haar klebt nicht mehr, nur der Brand- und Leichengeruch ist ums Verrecken nicht abzuwaschen. Ich habe auch nach dem Baden den Eindruck, dass meine Haut danach riecht, ewig danach riechen wird. Das Kopfkissen ist weich, die Zudecke warm.
Und kaum liege ich im Bett, bin ich eingeschlafen. Ich träume. Heute träume ich gar keinen Angst- und Fluchttraum wie sonst immer. Manchmal wache ich schreiend und schweißgebadet auf. Heute träume ich von Hardenberg, der in martialischer SS-Uniform samt der ekelhaften Totenkopfmütze dem wild schreienden Roland Freisler, dem Vorsitzenden des Volksgerichtshofes, einen Strick um dessen Schildkrötenhals legt und ihn zappelnd am Strick baumeln lässt. Es ist ein schöner Traum, schön und schauerlich zugleich.
Zum Frühstück gibt es richtige Fettbemmen und Malzkaffee, der Himmel auf Erden. Wir kaufen der Wirtin ein paar Scheiben Brot und ein kleines Stück Speck ab, dann machen wir uns auf den Weg.
Ausgeruht und zufrieden beladen wir den Drahtesel. Die Regenwolken haben sich verzogen und durch die erholsame Pause fällt mir das Trampeln etwas leichter. Mit den Ellenbogen streife ich ständig Carolas Hüften, die vor mir auf der Stange sitzt. Kommt mir vor wie früher. Mein lieber Mann, was haben wir seinerzeit für ausgiebige Radtouren in die Dresdner Heide gemacht. Muss doch gleich mal wieder ein bisschen mit Carola schäkern. Wieso wehrt die sich denn? Hat sie damals nie getan. Na warte, beim nächsten Mal, wenn du dich wehrst, tu ich einfach mal so, als würde ich das Gleichgewicht verlieren. Na also, hehehe, nun hält sie still. Brav. Fängt sogar an mich zu reizen, scheint ihr wohl zu gefallen, das Geschäker. Na, gestern Abend wäre ich dazu nicht mehr in der Lage gewesen. Halt! Da nicht! »Carola, nimm die Hand da weg, sonst schubse ich dich von der Stange.«
»Ach nö, bitte nicht.«
Das Leben ist ein Irrenhaus, überlege ich. Gestern in höchster Lebensgefahr, aus der puren Hölle gekommen, radeln wir durch ein zwar immer noch mörderisches Land und verspüren Frühlingsgefühle dabei. Gefühle, die mein sensibelstes Körperteil anregen - meinen Bauchnabel. »Du sollst die Hand da wegnehmen!« Ein blechernes Knattern lenkt mich ab.
Ein klappriger alter Hanomag zuckelt erst hinter uns her, dann gemächlich an uns vorbei. Der Fahrer lacht uns durch das Seitenfenster zu und winkt, anzuhalten. Er schiebt die Scheibe hinunter.
»Ist das nich bissken unbequem für die Dame?«, fragt der Fahrer. »Auf so ‘ner kleenen Stange zu hocken, wie een Piepmatz? Wo soll es denn hingehen mit den schweren Koffer da hinten drauf und den Wanderaffe auf dem Rücken?«
»Nach München.«
»Mit das olle Fahrrad? Alle Achtung. Nach München fahr ich nich, nur bis Chemnitz. Wenn Se Lust ham, nehm ich Se een Stück mit. Der Drahtesel kann hinten druff zwischen die Bierfässer.«
Heute muss unser Glückstag sein, juchhe! Das Angebot lassen wir uns nicht zweimal machen. Das Rad kommt unter die Plane des Lasters und wir hocken uns neben den Fahrer. Der redet wie ein Wasserfall. Die meiste Zeit über Leute, die er manchmal unterwegs aufgabelt, um sie mitzunehmen. Das ist anscheinend die einzige Abwechslung in seinem Fahrerleben. Der Mensch hat endlos Gesprächsstoff. Wir sind schon fast in der Nähe von Freiberg, wie er ankündigt.
»Man is ja froh, wenn man ab und zu mal Jesellschaft hat, nich? Ich komm gerade aus Radeberg. Keine Möglichkeit durch Dresden zu fahren. Is alles kaputt.«
Wenn der Mensch nun noch ausgiebig erzählen will, wie schrecklich es dort aussieht, platze ich, aber darüber redet er nicht. Gott sei Dank.
»Ein guter Wagen ist das, muss ich sagen«, lässt Carola verlauten. Das Thema Dresden möchte sie wohl auch nicht anschneiden. Sofort ergreift den Fahrer wieder Mitteilungsdrang. Er strahlt Carola an.
»Mein Dampfer ist der beste, wo gibt.«
»Den«, korrigiere ich. Kann’s einfach nicht lassen.
»Na klar, den hier. Dreißig Gäule unter der Haube. Nich totzukriegen. Hätte ich beinahe der Armee abgeben müssen. Aber dann war er denen doch zu alt. Gottlob.«
»Alt ist die Kiste weiß Gott. Was für ein olles Vehikel. Ist ja schon eine richtige Antiquität.«
Der Fahrer strahlt. »Baujahr 1907.«
Carola lacht prustend los.
»Was gibt es denn da zu lachen?«
»Na, dann ist das olle Vehikel genauso alt wie du, mein Lieber. Das muss ich mir merken.«
Der Fahrer lacht. Schön, wenn man sich so freuen kann.
»Wieso sagen Sie Dampfer zu dem Wagen?«
»Na, weil die Wagen eben so heißen. Hanomag Dampfer!«
Ich lese auf einem Ortsschild den Namen einer Ortschaft, darunter steht ›Mercedes-Benz‹ und unter diesem Markennamen steht, in großen gotischen Buchstaben deutlich lesbar Juden sind hier unerwünscht! Na, Mahlzeit! Was ist? Der Fahrer hat irgendwas gesagt. »Wie bitte?«
»Wenn wir hier durch sind, will ich nu mal een Päuschen machen. In Chemnitz komm ich nich mehr dazu. Denn muss ich gleich abladen. Wollen Se auch eene Tasse Tee?«
»Nein, wir wollen Sie nicht länger belästigen, vielen Dank, Meister. Wir werden ein Stückchen mit dem Rad fahren. Nach Chemnitz rein möchten wir nicht so gerne. Großstädte sind uns im Augenblick zu gefährlich. Von Luftangriffen haben wir erst mal die Nase voll. Herzlichen Dank fürs Mitnehmen.«
»Keene Ursache!«
Kurzes Händeschütteln, dann sind wir wieder unterwegs und ich strampele los. Was habe ich mir für Sorgen gemacht, wie es wohl sein würde, aus Dresden zu verschwinden und nun fühlt sich die Sache an wie eine gemütliche Ferienreise. Carola rutscht dauernd auf der Stange hin und her. Klar, wir fahren ja auch schon ein paar Stündchen, müssen dringend eine Pause machen. Carola schaut mich über die Schulter hinweg an und weist mit der Hand auf eine Hinweistafel, die an einem mächtigen alten Baum befestigt ist. Darauf steht in einladenden Buchstaben geschrieben: ›Wanderweg zum Schloss Augustusburg 12 Kilometer‹. Warum eigentlich nicht? Kann sich Carolas Popo wenigstens etwas ausruhen.
»Hast du Lust, ein wenig spazieren zu gehen?«, frage ich und halte an. Wir steigen rechts und links vom Rad. Carola massiert sich den Po. »Ich kann mir denken, dass dir Laufen jetzt recht wäre, Carola. Für zwölf Kilometer brauchen wir etwa drei bis vier Stunden, dann wird es sowieso allmählich dunkel werden. Und wo ein Schloss ist, ist stets ein Gasthof. Ein weiches Bett käme mir gerade recht. Vielleicht machen wir sogar einen Tag Pause. Na?«
»Ich hatte gedacht, wir wären auf der Flucht. Zumindest hattest du das so spannend gemacht. Ich frage ja nur, damit ich Bescheid weiß. Oder sind wir in Ferien und machen eine Reise durch Deutschland?«
»Du wirst lachen, das habe ich mir gerade auch überlegt. Aber mal im Ernst, was soll schon geschehen? Unsere Papiere sind in Ordnung, unsere Geschichte ebenfalls. Und die Gegend hier ist so wundervoll friedlich, dass man es kaum glauben mag. Wenn ich ein Taschenmesser hätte, würde ich nun ein Herz mit unseren Initialen in die Baumrinde ritzen.«
»Nun wird er romantisch. Wie hast du dich verändert? Beeindruckend. Lass uns wirklich ein wenig gehen, die Stange tut auf die Dauer recht weh.«
Ich will Carola gerade über das Fahrrad hinweg einen Kuss geben, als irgendetwas in der Nähe explodiert. Der Motor eines Fliegers zerschneidet die Idylle. Von einer zur anderen Sekunde ist sämtlicher Frieden ausgelöscht. Wir springen hinter einen dicken Baumstamm. Wieder kracht es, diesmal direkt vor unserer Deckung, Äste regnen auf uns herab und die Maschine saust über uns hinweg.
»Hoffentlich ist der alleine! Lass uns ein paar Meter weiter in den Wald hinein von der Straße verschwinden. Wenn der uns nicht mehr sehen kann, haut der ab.«
Wir springen wie die Rehe den Wanderweg hinein. Das Flugzeug ist nicht mehr zu hören. Außerdem stehen die Bäume so dicht, dass die ausladenden Wipfel genügend Deckung bieten.
»Lass uns eine Weile abwarten. Ich traue denen nicht«, sagt Carola.
»Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht«, muss ich zugeben. »Nun ist die schöne Ferienstimmung im Eimer. Ob die auch schießen würden, wenn die wüssten, dass ich Jude bin?«
»Bestimmt. Ich fürchte, dass es für die so eine Art Fuchsjagd ist. Vielleicht sogar so etwas wie Sport. Ich weiß nicht, was der Einzelne von denen erlebt hat, mir graut jedenfalls vor ihnen.«
Es bleibt ruhig und wir fühlen uns nicht mehr gefährdet. Den gleichen Weg, den wir in den Wald hineingesprungen waren, gehen wir nun vorsichtig zurück. Nichts passiert, aber wir sind äußerst aufmerksam. Ohne einen einzigen Meter zu genießen, schreiten wir diese absolut ruhigen, bezaubernd schönen und idyllischen Kilometer Natur zu Fuß weiter. Der Krieg und seine Schrecken liegen zwar irgendwie in weiter Ferne und lauern dennoch gleichzeitig auf Schritt und Tritt. Der Weg führt zu einer Holzbrücke, die über einen Fluss gebaut ist. Eine andere Möglichkeit weiterzukommen, gibt es nicht.
»Da müssen wir rüber und es gibt weit und breit keine Deckung. Nur wann? Nicht dass uns da vorne plötzlich wieder ein Flieger aufs Korn nimmt.« Ich schaue in den leicht bewölkten Himmel.
»Und wie lange willst du denn in die Luft starren? Das nützt rein gar nichts. So ein Brummer kommt blitzschnell aus dem Nichts. Das haben wir doch vorhin auch nicht mitbekommen.«
Am anderen Ufer sind abgeholzte Baumstämme sauber gestapelt. »Bis zu dem Stapel sind es vielleicht zwanzig Meter. Wir sollten einzeln loslaufen, so schnell es geht über die Brücke und falls dann ein Motor zu hören ist, sofort hinter den Stapel springen. Was hältst du davon?«
Statt mir zu antworten, springt Carola bereits über die Brücke und verschwindet hinter dem Holzstoß. Nun muss ich. Theoretisch ist das leichter gedacht, als getan. Mist, ich traue mich nicht vorwärts, besonders wegen des Rades.
»Wird das heute noch was?«, höre ich Carola rufen. Kein Flieger ist auszumachen. Ich beobachte die Gegend. Malerische friedliche Stille um uns herum. In der Nähe schimpft eine Amsel. Gar nicht so einfach, mit einem Fahrrad über eine schmale Brücke zu rennen. Da, jetzt wäre ich fast in den Bach gefallen!
Der Weg führt nun durch dichten Wald und fällt dabei sachte ab. »Sollen wir nicht hinunterrollen? Was sagt dein Podex?«
»Der sagt, dass ich ein eigenes Rad haben möchte.« Carola setzt sich wieder auf die Stange und wir lassen uns mühelos rollen.
Es beginnt bereits zu dämmern und wir haben das Schloss längst nicht erreicht. Wenn das so weitergeht, müssen wir heute im Freien übernachten.
Vor uns taucht eine kleine Bahnstation auf. Eine Lokomotive steht neben einem sehr großen Wassertank, der auf ein Gerüst gebaut ist. Ein gebogenes Rohr führt vom Tank über den Kessel der Lok und wird gerade hochgezogen. An die Lok sind einige Waggons angehängt. Die Luke des letzten Waggons steht offen. Wir schauen uns an.
»Wenn wir in einen der Waggons klettern, würden wir viel leichter und schneller vorankommen«, sage ich. »Bis das Frischwasser heiß genug ist, dauert es bestimmt ein wenig.«
Ich trete so schnell ich kann in die Pedale und sehe mit Entsetzen, dass die Lok Dampf ablässt und der Zug sich laut pfeifend in Bewegung setzt. Pech gehabt, denke ich und höre auf zu trampeln. Sinnlos. Der fährt zwar nur im Schritttempo, aber selbst bei dieser Geschwindigkeit werden wir kaum aufspringen können. Schon gar nicht mit dem Rad und dem Gepäck.
Nach ein paar Hundert Metern hält der Zug einsam vor einem roten Signal und steht unmittelbar neben dem Weg, den wir befahren. Jetzt vielleicht doch. Wie lange wird der wohl halten? Ich trampele wie um mein Leben. Carola kann sich nur mit Mühe festhalten. Gleich haben wir den Zug erreicht. Die Dämmerung kommt eigentlich ganz gelegen, werden sicherlich kaum Tiefflieger unterwegs sein. Die Lokomotive spuckt pfeifend Dampfwolken aus. Das Signal bleibt auf Rot. »Sollen wir den Lokführer fragen, ob wir mitfahren dürfen?«, fragt Carola.
»Drauf gepfiffen«, keuche ich und halte neben der offenen Luke des letzten Waggons. »Los runter mit dir und rein da in den Wagen!«
In der Luke erscheint ein auf den ersten Blick sympathisch wirkender Männerkopf mit schwarzen Locken. Dunkle Augen sehen uns an, schätzen uns ab.
»Guten Tag. Würden Sie uns bitte helfen, mein Herr? Wir würden gerne mitfahren, wenn Sie erlauben.«
Der Mann von höchstens dreißig Jahren lehnt sich aus dem Waggon, greift nach Carolas Handgelenk und zieht sie ohne Schwierigkeiten in den Waggon. Der Rucksack auf ihrem Rücken schaukelt. Derweil murkse ich mir einen ab, das Rad in den Waggon zu schieben. Scheißkoffer. Und ausgerechnet in diesem Moment setzt sich der Zug träge in Bewegung. Mist verfluchter! Das Fahrrad mit dem schweren Koffer beginnt zu rutschen. Eine behaarte Hand greift nach dem Fahrradlenker und zerrt den Drahtesel samt Koffer in den dunklen Waggon. Jetzt muss ich laufen, um nicht zurückzubleiben. Meine Güte, wo kommt denn plötzlich die schmale Brücke da vorne her? War die gerade schon da? Und ganz schön tief geht es da runter, sehe ich von hier aus. Ein einzelner Schienenstrang führt über die Brücke, die immer näher kommt, beziehungsweise andersherum, weil ich ja renne. Deshalb wahrscheinlich das Signal. Nicht weil ich renne, sondern wegen der einzelnen ... nicht denken, Jakob! Halt dich fest an der Waggonluke. Neben der Schiene ist kein Platz mehr für einen Fußgänger. Ich habe allenfalls zwanzig Schritt und in der Beziehung bin ich ein hervorragender Schätzer. Sonst hätte ich ja meine Wetten mit dem Schicksal nicht stets gewonnen! Vor Wut werden meine Schritte langsamer! Ich fall bereits etwas zurück. Scheiße, denke ich, da packt mich eine Hand am Mantelkragen und ich sause davon! Mit der Stirn schlage ich hart auf den Holzboden auf.

12.

Mein Schädel brummt, als würden Bienen und Hornissen drin herumfliegen. Was muss der Kerl auch so kräftig an mir zerren? Irgendetwas kollert an meine Wange. Kartoffeln. Wieso Kartoffeln? Ich setze mich erst mal. Wo ist überhaupt Carola? Ah da, neben den beiden ... wo kommen denn all die Leute her? Sechs Mann befinden sich mit Carola und mir im Waggon. Und ganze Berge Kartoffeln rechts und links neben der offenen Luke. Kartoffeln kullern nach draußen. Oben auf dem linken Kartoffelberg liegt unser Fahrrad.
»Guten Tag, alle miteinander.« Niemand erwidert meinen Gruß. Na, dann eben nicht. »Vielen Dank für die Hilfe, aber ganz so heftig hätten Sie nicht an mir zerren müssen. Jetzt brummt mir der Schädel.«
»Deutsch?«, fragt der Kraftmensch und steht breitbeinig vor der offenen Luke.
»Na klar, was sonst?«, gebe ich zurück und massiere mir weiterhin den Kopf.
»Jakob, ich glaube, das sind Flüchtlinge, nicht wahr?«, fragt Carola den Mann an der Luke. »Seien Sie beruhigt, wir gehören nicht zu denen!« Carola deutet den deutschen Gruß an und macht mit der halb erhobenen rechten Hand eine abwehrende Bewegung. »Nein!«
Der Mann an der Luke betrachtet uns weiterhin sehr aufmerksam und verzieht keine Miene. Nerven hat der Kerl, wird wohl der Anführer der Gruppe sein. Na, nun mach schon, Junge. Sehen wir vielleicht wie Nazis aus? Er nickt (na also), zieht die Tür vor die Luke und schließt den Riegel mittels eines Drahtes. Stockfinster ist es und ich kann nichts mehr sehen, bis sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben.
Wir drei stehen und die anderen hocken im Waggon zwischen den Kartoffelbergen. Der rechts von der Tür reicht fast bis zur Waggondecke. Nur am Einstieg und in der Mitte bleibt ein wenig Platz. Der Anführer der Gruppe bedeutet uns mit einer Handbewegung neben den anderen Platz zu nehmen. Dann spricht er zu uns: »Monsieur, Sie mussen tun mehr entraîner des sports.«
Ich spreche zwar kein Französisch, aber der da hat einen grauenvollen Akzent, muss ein Franzose sein.
»Leibesübung, sagt man hier«, übersetzt Carola.
»D’accord.« Der Franzose nickt. »Sie sein Deutsch?«
»Malheureusement oui, Monsieur«, bedauert Carola. »Leider Gottes, ja.«
Na, überlege ich, wenn das jetzt ein Spitzel hört, ist der Ofen aus. Sind aber offenbar alles anständige Leute, denn der Anführer weist auf die Gruppe.
»Polonais. Tschèques.« Er legt eine Hand an den Solarplexus und deutet eine Verneigung an. »Français. Vous êtes Chez-soi?«
»Zu Hause, wo ist man schon zu Hause? Zu Hause ist man dort, wo man leben darf«, entgegnet Carola.
Die anderen Männer nicken stumm. Also Polen und Tschechen. Mein tschechischer Glücksbringer ist leider nicht in dieser Gruppe. Schade, wir hätten uns sicherlich viel zu erzählen gehabt. Einer der Männer wirkt wesentlich jünger als die anderen, genau genommen wie ein viel zu hübscher Junge mit kurz geschnittenen blonden Haaren um den wohlgeformten Schädel und dunklen Augen. Er bewacht eine Feuerstelle. Das Feuer beleuchtet den Raum schwach. Über dem Feuer steht ein Kessel. Riecht nach Kartoffelsuppe. Mann, habe ich einen Hunger. Ob die uns was abgeben? Weshalb sollten sie eigentlich? Schade, mir läuft nämlich das Wasser im Mund zusammen. Ach was, ich kann ja zumindest um eine kleine Portion Suppe bitten, das kostet nichts. Als ob die Männer meine Gedanken erraten hätten, reicht uns einer von ihnen einen zerbeulten Blechnapf sowie einen Holzlöffel. Ein ganz sonderbares Gefühl. Wenn Bäckermeister Ehrhardt recht gehabt hätte und die Angriffe nicht dazwischengekommen wären, würde ich ab morgen ausschließlich aus solchem Blechnapf mit einem Holzlöffel essen, wenn überhaupt. Ich glaube nicht, dass es vorm Vergasen noch was zu futtern gibt.
»In zehn Minuten ist färrtig«, verkündet der Polenjunge und hat dabei eine Stimme wie ein Mädchen.
Jetzt nur nicht sentimental werden, denke ich mir und werfe einen Blick in den Kessel. Tatsächlich Kartoffelsuppe. Aber nur aus Kartoffeln und Wasser.
»Legen wir doch ein Stück Speck in die Suppe, dann wird es doppelt so gut schmecken. Dauert nur eine Kleinigkeit länger«, sage ich zu dem jungen Koch und nehme eine Scheibe von den in Wachspapier gewickelten Speckscheiben aus dem Rucksack. Ab in den Topf damit.
Der Junge scheint belustigt zu sein. Beneidenswert, diese Unbekümmertheit. Und ich selbst jammere wegen jeder Kleinigkeit, hadere immer sofort mit dem Schicksal. Ich möchte mir gar nicht mal vorstellen, was diese Menschen hier vielleicht schon alles durchgemacht haben. Durch das bisschen Speck duftet es nun würzig. Wir schweigen in Erwartung der Mahlzeit.
Während der Wartezeit beginnt der Junge, sich um meine neue Wunde an der Stirn zu kümmern. Mit schlanken, vorsichtigen Fingern löst er einige Holzsplitter des Waggonbodens von der verletzten Stirnhaut. Das zwickt höllisch. Ich konzentriere mich auf das Gesicht des Jungen, um mich abzulenken. Volle, ungewöhnlich geschwungene, spröde Lippen. Tief dunkelgrüne, große Augen beherrschen das zarte Gesicht, die Miene verrät vollste Konzentration auf die Sanitätsarbeit. Sonderbares Kerlchen, denke ich. Der Junge betrachtet zufrieden sein Werk, reicht mir einen Blechnapf und fordert mich pantomimisch auf, hineinzupinkeln. Was soll denn der Quatsch? Die Männer lachen über mein Unverständnis.
»Weil im Urin körpereigene Abwehrstoffe enthalten sind«, erklärt Carola, »die gegen Wundinfektionen geradezu unschlagbar sind. Nun stell dich nicht so an, niemand wird dir was weggucken.«
Plötzlich bin ich Mittelpunkt des allgemeinen Interesses und fühle mich äußerst unbehaglich, denn nicht nur die Männer sondern auch der Junge sehen mir interessiert zu, wie ich den Becher fülle. Unerhört, denke ich, trägt der Bengel etwa solche Veranlagungen in sich? Ich stelle den warmen Becher ab, um mein kostbarstes Gut einzupacken, da greift der Rotzlöffel nach dem Napf und schüttet mir den ganzen warmen Segen ins Gesicht. Also das ist doch eine Unver ... Mein Gesicht brennt. Und dem Lümmel hab ich ausgerechnet meinen guten Speck gegeben. Na warte, Freundchen, jetzt kannst du was erleben! Ich will mir gerade den unverfrorenen Bengel greifen, da stellt sich der Franzose schützend vor den Jungen. Die anderen Männer lachen. Zu meiner tiefen Entrüstung lacht sogar Carola.
Der Bengel hat derweil mit frischem Wasser aus einem Eimer den Napf gespült und mit weiterem Wasser wieder gefüllt.
»Leg den Kopf zurück, dann spüle ich dein Gesicht«, fordert mich Carola auf. Wenigstens schüttet sie mir das Wasser nicht so herzlos einfach ins Gesicht.
Der Junge kostet mehrmals vom Kesselinhalt und verteilt dann die Suppe in die Blechnäpfe. Der Franzose und der Junge beten sogar, bevor sie zu essen beginnen. Mein letztes Abendgebet habe ich am Faschingsdienstag geleistet und weiß nicht so recht, ob ich nun wegen der Gebete hier bin oder nicht. Seitdem habe ich einfach keine Zeit mehr zum Beten gehabt.
»Bon appetit, Messieurs, Madame.«
Nach der Mahlzeit diskutieren die Männer nachdrücklich. Die beiden Tschechen wollen verständlicherweise auf direktem Wege zurück in ihr Land. Man müsse nur bis nach Prag kommen, dann könne man die Ankunft der Roten Armee lebend feiern. Die beiden Polen sind sich dagegen über den Weg in die Heimat noch nicht klar. Der Franzose schweigt ebenso wie der Junge.
Mich würde ja brennend interessieren, was die Männer in der Zeit ihrer Gefangenschaft erlebt haben mögen. Natürlich haben wir hinter vorgehaltener Hand ab und zu mal von manch unglaublichen Lebensumständen in Lagern gehört. Na, lieber nicht in den Wunden rühren. Ich glaube, ich schlafe mal ein wenig.
Ein heftiger Ruck weckt mich und zunächst finde ich mich nicht zurecht, weil es so dunkel ist. Irgendetwas kollert mir gegen die Schultern, ach so, die Kartoffeln. Ich schüttele mich und öffne mehrfach die Augen, um wach zu werden. Eine Hand legt sich auf meinen Arm.
Carola flüstert: »Sei jetzt um Himmels willen still, Jakob. Der Zug hat gehalten, könnte sein, dass wir in eine Kontrolle geraten sind. Die beiden Polen haben sich schon unter die Kartoffeln gewühlt. Die andern sind dort oben.«
Unsere Reisegefährten haben sich so gut es geht von der Waggontür ins Dunkel verdrückt. Ich versuche durch einen Schlitz in der Holzwand zu erkennen, was sich draußen abspielt, aber der Spalt erweist sich als viel zu klein. An den Waggons vor uns wird gerüttelt, vermutlich an den Schlössern der Türen.
Eine helle Männerstimme nähert sich. »Nu lass uns wieder gehn, Roland, die Türen sind alle in Ordnung.«
Tiefster Bass antwortet. »Das glaube ich nicht. Wieso ist gemeldet worden, dass eine Menge Kartoffeln neben den Schienen der Strecke gefunden worden sind? Die sind garantiert nicht vom Himmel gefallen. Wir haben den Auftrag, alle Züge zu kontrollieren, und genau das werden wir tun. Ist jedenfalls besser als dämlich herumzusitzen und möglicherweise den Zug zu verpassen. Die Ladung wird in Nürnberg sehnsüchtig erwartet. Sonderration für die Führung und das heißt garantiert nicht nur Kartoffeln. Nee, nee, Heinrich, hier ist was faul, das rieche ich.«
Heinrich quengelt. »Ich habe nur ein paar olle Scheiben Graubrot dabei und bei Maria gibt es gleich frisches Brot. Gerhard hat gestern früh geschlachtet. Da gibt’s frische Wurst. Ich habe nur olle Blutwurst und Sülze im Brotbeutel.«
»Sülze zum Frühstück? Was für eine Sauerei, pfui Galle. Na, du bist ja eh entartet.«
»Von wegen Frühstück, es ist gleich halber elfe. Wir sind seit sechse im Dienst. Gib Gummi, Roland, ich hab Hunger. Was gehn uns die blöden Kartoffeln für Nürnberg an. Von mir aus sollen die da krepieren, der ganze Mist ist sowieso bald vorbei.«
Halb elf, denke ich. Danke für den Hinweis, Heinrich. Ich habe geschlafen wie ein Stein und so fühle ich mich.
»Noch so ein Wort«, brüllt der Bass - er steht offenbar direkt neben unserem Waggon, »und ich erschieße dich wegen Hochverrat. Sag bloß, du glaubst dem Führer nicht den sicheren Endsieg?«
»Du kannst mir mal«, quiekt Heinrich und ist mir sofort sympathisch. »Ich habe hier das Kommando. Und wenn ich dir sage, es ist alles in Butter, dann kannst du mir das glauben. Willst du bis in alle Ewigkeit den Helden spielen? Die Türen sind alle verschlossen, was soll der Blödsinn?«
»Lass mich diese noch kontrollieren.«
»Schnauze! Abfahrt!«
Der Zug ruckt an und jemand rüttelt an unserer Waggontür. Sie ist ja nicht richtig verschlossen und geht auf. Helles Tageslicht blendet. Ein kräftig wirkender Mann mit schwarzer Mütze auf einer Glatze glotzt erstaunt in den Waggon. Mit einem Satz springt er auf den ganz langsam anrollenden Zug, steht breitbeinig in langem schwarzem Ledermantel zwischen den Kartoffeln in unserem Waggon und richtet einen Karabiner auf Carola und mich. Ohne uns aus den Augen zu lassen, brüllt er rücklings hinaus.
»Na also! Komm her, Heinrich, ich hab es doch gewusst. Da drin sind die Schweine. Der beschissene Lokführer soll anhalten.«
Von draußen erklingt ein lauter Doppelpfiff. Der Zug ruckt erneut und bleibt stehen.
Mit dem Stiefel schiebt der Mann den Esbitkocher und einige Kartoffeln aus dem Waggon. Sekunden später klettert ein rundlicher blonder Mann mühsam in den Waggon, indem er sich zunächst langsam und bäuchlings vorwärts hangelt und mit den kurzen Beinen außerhalb des Waggons in der Luft strampelt. Schließlich stützt er sich auf eine Maschinenpistole, steht aufrecht und stiert uns an.
»Ach du grüne Neune.« Der Blonde ist sichtlich erschrocken und weiß gar nicht, auf wen von uns er zuerst mit der Waffe zielen soll.
»Guten Tag, die Herren.« Manchmal hilft ja Freundlichkeit, denke ich mir. Jetzt erst erkenne ich den Totenkopf vorne an den Mützen.
»Schnauze!« Der Karabiner unterstreicht die Forderung.
Ich spüre, wie Carola sich an mich drückt.
»Wo willst du hin mit deiner Hafennutte?«, schnauzt der Glatzkopf, seinen gerade geäußerten Befehl selbst widerrufend. »Steckt hier noch mehr Rattenpack?«
Statt eine Antwort abzuwarten, entsichert er die Waffe und jagt eine Kugel in die linke hintere Ecke in den Kartoffelberg. Der Blonde zuckt mit der MP und wirkt sehr verunsichert.
»Aufhören, Roland! Das ist doch Unsinn! Wenn du unbedingt herumknallen willst, dann melde dich an die Ostfront. Ich dulde es nicht, dass du auf Zivilisten schießt!«
Dieser Befehl kommt leider zu spät. Einer der Polen kriecht aus den Kartoffeln heraus und zieht den Landsmann, der stark aus einer Halswunde blutet, von ein paar Kilo Kartoffeln begleitet in den Lichtschein der offenen Waggontür, wo der Verletzte stumm liegen bleibt. Mittlerweile haben sich die Augen an das Tageslicht gewöhnt und man kann das Innere des Waggons gut erkennen. »Da sind ja wirklich noch mehr. Rauskommen, oder wir schießen!«
Der Glatzkopf hat inzwischen den Karabiner entspannt, eine neue Patrone eingelegt und wieder gespannt. Das Schnappen des Schlosses durchschneidet die Stille. Die anderen Männer und der Junge kriechen mit erhobenen Händen und gesenkten Köpfen aus den Kartoffeln hervor. Die Augen unter den Totenkopfmützen wandern von einem zum anderen unserer Reisegesellschaft. Die beiden Männer wirken beinahe ein wenig ratlos. Genauso wie wir. Wenn wir die beiden Eindringlinge gemeinsam angegriffen hätten, hätten wir sie überwältigen können. Wenn man allerdings in die Mündungen von zwei Waffen schaut, ist es mit dem Mut nicht mehr weit her. Dem Blonden scheinen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen, denn er tritt zur Türöffnung zurück.
»Erst einmal alle raus.« Er klettert hinaus, der zweite Mann folgt ihm, ohne uns aus den Augen zu lassen. »Und jetzt ihr, aber schön langsam. Die Hände hinter den Kopf und raus. Eine falsche Bewegung und das war’s. Kapiert?«
Einer nach dem anderen springen wir hinaus. Nur nicht stolpern, denke ich. Wir stellen uns vor dem Waggon in einer Reihe auf. Der leblose Pole liegt noch im Waggon vor der Luke.
»Seid ihr Deutsche?« Der Blonde zeigt eine betretene Miene. Carola und ich nicken, die anderen nicht. Die halten nach wie vor die Köpfe gesenkt. Sie haben erzählt, dass es in den Lagern strengstens verboten sei, die Peiniger anzusehen. Die Strafen wären hart.
Der Blonde tritt, die Waffe im Anschlag, zu Carola und mir. Wir halten die Köpfe nicht gesenkt. Er sieht uns lange in die Augen. Dann nickt er nachdenklich und reibt mit der freien Hand sein Kinn. Vielleicht denkt der ja darüber nach, ob dies nicht eine Gelegenheit wäre, ausnahmsweise mal eine gute Tat zu vollbringen. Er geht zum nächsten Mann, hebt mit der Spitze der Waffe dessen Kinn, bis das Gesicht ihn ansieht. Das macht er bei allen so. Ohne ein Wort zu reden schaut er sich die Männer einzeln und genau an. Was mag bloß in ihm vorgehen?
Der Glatzkopf zielt mit der Mündung seiner Waffe ständig von einem unserer Bäuche zum nächsten. Wann zieht der den Abzug durch? Man kann in seiner Miene zweifelsfrei den Genuss erkennen, den ihm seine Macht über uns bereitet. Das Vergnügen, über unser Leben mit einem Zucken des Fingers endgültig zu entscheiden.
Ich wage es nicht, einen Seitenblick zu Carola zu riskieren. Bis hierhin haben wir es geschafft, zwar haben wir Papiere, aber allein schon mit den Fremdarbeitern in einem Waggon zu sitzen, wird man uns wohl hart ankreiden. Es wird ja mittlerweile selbst als Hochverrat ausgelegt, wenn man irgendetwas für nicht meldenswert erachtet. Und ob der Pass einer richtigen Überprüfung standhält, glaube ich kaum. Ich bin mehr als enttäuscht und ratlos.
»Was machen wir mit denen? Umlegen?« Der Karabiner zuckt in den Händen des kahl rasierten Hohlkopfes. Die Vorlieben des Totenkopfmannes sind eindeutig.
»Nein. Der eine Tote ist bereits genug«, widerspricht der Blonde.
»Verdammt, Heinrich, es ist schließlich Krieg und solche Gestalten gehören ins Massengrab!« Ständig sucht der Blick des Kahlkopfes den Jungen, der für uns gekocht hat.
»Nein! Die Leute haben sich ergeben, wir führen sie zur Wache. Ich rufe in Chemnitz an, damit sie von den Kollegen dort zum Verhör abgeholt werden. Ich mache mir an Zivilisten nicht die Hände schmutzig.«
»Und mit Leuten wie dir müssen wir den Endsieg schaffen.«
Der Blonde verzieht nur den Mund.
»Was mit den Leuten los ist, werden die Kollegen schon herausfinden. Nun los, die Herrschaften, in einer Reihe ohne Tritt marsch. Die Hände schön hinterm Kopf halten und keine Mätzchen. Beim geringsten Fluchtversuch wird geschossen, und nicht in die Luft.«
»Wollen wir die Kerle nicht erst nach Waffen absuchen?« Wieder schaut der Glatzkopf zu dem Jungen.
»Gute Idee, hätte ich beinahe vergessen. Mach du das, Roland. Ich halte die Leute in Schach.«
»Wieso ich?«
»Na, weil du von uns beiden der größere Held bist und ich dir zutraue, einfach loszuballern, ob ich da nun stehe oder nicht.«
»Tja, dann wollen wir euch mal filzen.« Roland leckt die Lippen und schaut uns nacheinander an. Den Jungen ungewöhnlich lange.
Der Koffer verloren, der Rucksack verloren. Mist. Gottverfluchter Höllenmist!
Die Glatze schnalzt mit der Zunge. »Macht euch keine falschen Hoffnungen. Die Jungs werden euch den Arsch aufreißen!« Diese Vorstellung scheint ihm zu gefallen. Er lacht. »Hua, hua, hua!«
Wir lachen nicht, denn er tritt ganz nahe zu uns und ich rieche Schlachthof, Blut und Tod. Der Mann ist ein Schlächter, dem Töten besonderen Spaß macht. »Na los!«, kommandiert er. »Zeigt mir eure Arschgesichter!« Er unterstreicht seinen Befehl erneut mit dem Karabiner. Er schießt über unsere Köpfe hinweg eine Kugel in die Holzwand des Waggons. Ich spüre ein winziges Prickeln im Gesicht und schmecke Schwefel. Der Schlächter lädt nach. Wir blicken ihn alle erschrocken an. Ich bemerke, wie in dem Bullengesicht eine Sonne aufzugehen scheint. Der Blonde hat sich wohl ebenfalls erschrocken und verzieht gequält den Mund. Er neigt die Mündung der Waffe leicht zu Boden.
Der Glatzkopf betrachtet mich, Carola, einen nach dem anderen, aber er tastet uns nicht nach Waffen ab, Gott sei Dank. Vielleicht kann ich die Sch...pistole irgendwie unbemerkt loswerden? Die Glatze steht schließlich vor dem Polenjungen. Aus den Augenwinkeln kann ich die Szene beobachten. Der Schlächter schmatzt. »Was haben wir denn hier?«
Er greift mit der geäderten, stark behaarten linken Hand zum Kinn des Jungen. Der Franzose neben dem Jungen will anscheinend etwas sagen und der Pole daneben greift an den Ärmel des Ledermantels der Glatze. Der schwingt seinen kräftigen Körper blitzschnell um die eigene Achse und stößt dem Polen den Kolben des Karabiners mit voller Wucht ins Gesicht. Knochen knirschen, Blut spritzt, der Mann fällt augenblicklich zu Boden und liegt in einer schnell zunehmenden Blutlache. Der Blonde hat sich ebenfalls erschrocken und hebt die Waffe.
Ohne sich um den am Boden Liegenden zu kümmern, hält der Glatzkopf nun das zerbrechliche Gesicht des Jungen mit einer Hand wie ein Schraubstock umschlossen und zerrt den Burschen ein paar Schritte von uns anderen weg.
»Schön hinknien, mein Kleiner«, befiehlt er und drückt dem Jungen die Mündung des Karabiners auf den Halsansatz über der Schulter. Was soll denn das jetzt werden?
»So ein hübsches Bürschchen ist mir ja schon lange nicht mehr untergekommen«, gibt der schwitzende Kahlkopf grunzend von sich. »Wollen doch mal sehen, ob du weißt, was man damit tun kann, mein Süßer.« Er schiebt sich den Mantel von den Schultern.
»Roland, lass den Unfug!«
»Halt deine Fresse, der Kleine gehört mir! Falls einer von euch näher kommt, knall ich ihn ab!« Um dies zu unterstreichen drückt er dem Jungen mit einer Hand den Karabiner mehrmals gegen den Halsansatz und löst mit der anderen Hand das Koppel seiner ausladend gebeutelten Reiterhose. Die rutscht zu Boden. Die grüne lange Unterhose wirkt fleckig und abstoßend. Mittlerweile schauen wir alle fassungslos hin.
Die Glatze in schmuddeliger Unterhose wirkt unerhört grotesk. Aber wir wagen keinen Mucks. Der ist bereit, sofort zu schießen. Er schiebt seine schmierige Baumwollunterhose von den kräftigen Hüften. Sein Genital tropft - wie eine Nase bei Schnupfen tropft. Muss man nicht Mediziner sein, schüttele ich mich, um ganz zweifelsfrei eine fortgeschrittene Geschlechtskrankheit zu diagnostizieren - sogar auf Distanz. Der Schweinehund greift dem Jungen in den Nacken. Ich höre Carola vor Ekel würgen. Der blonde SS-Mann sucht nach einem geeigneten Befehlston.
»Roland, hör auf mit der Schweinerei! Lass den Bengel in Frieden!«
»Halt deine Schnauze! Du hast dein Fressen, ich meinen Kolben. So, mein Süßer, jetzt lutschen ... ja, so ist gut. So ist es sehr gut. Das machst du sicher nicht zum ersten Mal, was?«
Carola hat sich abgewandt, die Männer blicken zu Boden, nur der Franzose scheint vor Wut zu platzen. Der blonde Heinrich hält die MP am hängenden Arm und wirkt angewidert und fassungslos. Ich spüre in mir überhaupt nichts mehr, der Ekel vor dieser furchterregenden Uniform überlagert alles.
»Sehr gut, mein Junge, nun andersherum«, fordert die Uniform. »Wollen wir doch mal sehen, ob du noch jungfräulich bist.« Er greift dem Polenjungen ans Bund der Arbeitshose und reißt sie ihm mit einem Ruck vom Leib. Bleischweres Erstaunen lähmt das Entsetzen - das ist ja gar kein Junge! Das fehlende Attribut sticht ins Auge. Die spärlichen Schamhaare gehören eindeutig zu einer jungen Frau.
Selbst die Glatze scheint über alle Maße entsetzt zu sein und reißt dem Polenjungen, nein ... dem Polenmädchen wütend das Hemd vom Leib. Es handelt sich ganz ohne Zweifel um ein Mädchen. Schlank und knabenhaft gebaut zwar, aber ohne jeden Zweifel eine Frau.
Der Unterkiefer der Glatze fällt herab, Speichel fließt. Der vor Wut und Enttäuschung bebende Mann hebt die Waffe und legt sie dem Mädchen an die Stirn. Das Mädchen zittert und versucht, die Blöße mit den Armen zu verdecken.
»Lass die Knarre fallen, oder ich puste dir dein Spatzenhirn vom Hals!«, schreit jemand mit kippender Stimme. Acht Augenpaare schauen mich fassungslos an, denn ich habe offensichtlich gebrüllt. Die Pistole des Volkssturmopas aus Dresden, mit der dieser gegen die Flieger zu kämpfen versucht hatte, liegt schwer in meiner ausgestreckten Hand. Ich ziele auf das Trippergesicht und krümme den Zeigefinger. Irgendetwas hakt. Ach so, ja klar, ich muss ja den Sicherungshebel hinunterdrücken, hat mir doch Hardenberg erklärt.
»Nicht schießen - bitte nicht schießen!«, jammert der schwule Herrenmensch von Himmlers Gnaden um sein erbärmliches Leben. Der Karabiner scheppert zu Boden. Die Glatze steht mit erhobenen Händen und tropfendem, schlaffem Glied und heult. »Ich wollte nur ... ich habe nur ... meine Pflicht getan!« Der zweite SS-Mann macht keinerlei Anstalten, gegen mich einzugreifen.
»Könnte mir sehr gut vorstellen«, sagt Carola laut, »dass diesen Satz demnächst alle diejenigen stammeln werden, die massig Dreck am Stecken haben. Pflicht. Gehorsam. Disziplin! Das sind wahrlich die Tugenden unseres erhabenen Landes; auch wenn die Übersetzung Mord, Folter, Vergewaltigung heißt - Hauptsache ›Deutschland, Deutschland über alles‹! Schuld sind ja sowieso stets die anderen!«
Der blonde SS-Mann schaut betreten zu Boden und runzelt die Stirn. Er greift immer noch nicht ein.
»Ausziehen!«, befehle ich dem Glatzkopf, obwohl dessen Hosen bereits zu den Fußknöcheln niedergerutscht sind und der Mantel am Boden liegt. Aber er trägt ja noch Rock und Hemd. Obgleich ich nicht gelernt habe, zu kommandieren, gehorcht er und entblättert sich endgültig, dauernd ›Pflicht‹ und ›Gehorsam‹ und ›Treue‹ stammelnd. Der ganze Körper ist mit einem dichten, dunklen Pelz behaart - wohl als Ausgleich zur Glatze. Nackt steht er vor uns und ich kann gar nicht mehr begreifen, dass man vor diesem Jammerlappen nur die Spur von Angst haben konnte. Es ist tatsächlich nur die Uniform, die vermeintliches Format verleiht. Ich stelle mir Hitler und Konsorten in Unterhosen vor - und muss unweigerlich lachen. Außer mir lacht niemand. Auch gut, denke ich.
»Verpiss dich, du Granate!«, höre ich eine Order, das war ich diesmal nicht. Wer hat denn das gerufen?
»Was?«, rätselt der Nackte.
»Mach, dass du hier wegkommst, sonst vergesse ich mich!« Heinrich, der blonde SS-Mann zielt mit der MP auf den Nackten. Obwohl er eigentlich auf mich zielen müsste. Sonderbar. Der Glatzkopf, Herrenmensch, SS-Mann, heldenhaft und treu, steht im Adamskostüm vor uns Untermenschen und getraut sich nicht, in dieser Kostümierung zu verschwinden.
Ich senke den Blick. Meine eigene Heldenphase ist zu Ende, das Gehirn hat sich zurückgemeldet. Blödsinnigerweise stecke ich die Waffe wieder in die Manteltasche.
Schüsse hämmern durch die Stille, unterstrichen vom lauten Pfiff der Lokomotive. Offenbar will der Lokomotivführer weiterfahren. Ich sehe den nackten Glatzkopf aus mehreren Wunden blutend zu Boden stürzen. Was ist denn jetzt passiert? Ich habe die Pistole doch in die Manteltasche gesteckt.
Der rundliche blonde SS-Mann lässt seine Maschinenpistole sinken. »Ein Schwein«, entschuldigt er sich wohl bei sich selbst. »Ein Schweineschwein.«
Die Zugpfeife schrillt erneut und weckt uns aus der Lethargie des Grauens. Ein weiterer Feuerstoß trifft den am Boden liegenden, offenbar tödlich getroffenen Körper.
»Seht zu, dass ihr in den Waggon kommt«, sagt der Blonde. »Das hier erledige ich allein. Und schmeißt den Toten raus. Na los! Der Piefke vorne wird schon ganz unruhig.« Mit der Fußspitze bewegt er den Glatzkopf. »Gut, der ist alle.« Er tritt zu dem Polen mit dem zerschlagenen Gesicht. »Auch vorbei, na, vielleicht besser für ihn. Wer weiß, was euch noch passiert. Nun haut bloß ab, ihr Armleuchter. Mit mir ist es ebenfalls aus.« Er geht in Richtung Lokomotive, kehrt kurz darauf um. Er nimmt seinen Brotbeutel von der Schulter und reicht ihn dem Mädchen. »Ihr könnt das besser gebrauchen. Nun verzieht euch in den Wagen, haut endlich ab!«
Das Mädchen streift die Arbeitshose über die Hüfte und greift nach dem zerrissenen Hemd. Hemd und Brotbeutel hält sie krampfhaft vor die Brust. Der Franzose legt ihr die Hand auf den Arm, hebt die Jacke und den Mantel der Glatze vom Boden auf und hält ihr die Kleidungsstücke hin. Er schaut sie fragend an. Sie nickt zustimmend und er legt die Sachen in den Waggon. Ich persönlich würde ja nicht so gerne in einem SS-Mantel durch die Gegend reisen, überlege ich, aber ein nacktes Mädchen denkt da sicherlich anders. Der Franzose nimmt den Karabiner auf und legt ihn in den Waggon. Der Blonde rührt sich nicht. Die Hose der Glatze, an dessen Gürtel die Patronentasche hängt, hebt der Franzose ebenfalls auf, zieht die Tasche vom Gürtel und verstaut sie beim Karabiner. Die Hose landet im Dreck.
»Allez!«, sagt er. Zunächst steigt Carola in den Waggon, dann das Mädchen. Wir Männer bilden den Schluss. Der Franzose ergreift von draußen die Füße des toten Polen und zerrt die Leiche aus dem Waggon. Dann klettert er zu uns. Man hört zwei helle Doppelpfiffe. »Na los!«, ruft der Blonde nach vorne. »Na los, Abfahrt! Hier gibt es nüscht mehr zu sehen, fahr doch los, du Affe!«
Der Zug ruckt, fährt an. Wir passieren den blonden Mann mit der Totenkopfmütze, der irgendwie abwesend zu sein scheint. Der Franzose salutiert militärisch, die Hand an die Stirn gelegt mit der Handfläche voraus, aus der Waggontür.
»Warum Sie ‘elfen uns?«, fragt er nach draußen.
»Weil ich nicht anders kann. Der Kerl ist ein Schwein und war ein Schwein, seit ich ihn kenne. Ich mag nicht mehr. Ich mag diese Schweine nicht mehr länger decken! Ich bin selbst schuld, die Nummer kann ich mir auch nicht mehr aus der Haut schneiden. Ist sinnlos. Alles ist sinnlos. Wenn ich das Schwein nicht erschossen hätte, würde er die Kameraden sofort alarmiert haben. Das ist nicht lustig! Wahrscheinlich hätte er erst mich und dann euch erschossen. Bei solchen Schweinereien kennen die Kameraden mittlerweile nicht mehr ganz so viel Pardon. Seit einem halben Jahr unterstehen wir der SS. Ich habe mich nicht darum beworben, glauben Sie mir. Aber ich wollte nicht mehr an die Ostfront. Im letzten Moment draufzugehen wäre doch zu blöde, oder? Na, nu geht eh kein Weg mehr dran vorbei!«
Er bleibt langsam zurück. Ein einsamer Mensch in unmenschlicher Zeit.
Die Waggontür bleibt offen, denn wir möchten nicht ein zweites Mal tatenlos hinter einer verschlossenen Waggontür in eine weitere Kontrolle geraten. Dann schon lieber rechtzeitig raus, schießen so lang es geht, wenn es sein muss und dann möglichst weg.
»Und was nun?«, fragt Carola. »Wir hätten die Leichen verstecken sollen. Die werden sonst ganz schnell entdeckt. Dann muss man bloß eins und eins zusammenzählen und kommt auf diesen Zug. Der Lokführer wird auch nicht schweigen. Wundert mich sowieso, dass der tatsächlich weiterfährt.«
Als wäre dies das Stichwort, bremst der Zug, fährt langsamer und steht dann still. Ich greife nach dem Koffer, Carola legt den Rucksack an und wir sind bereit, aus dem Zug zu springen, aufs Fahrrad geschissen. Die Pistole habe ich in der Manteltasche entsichert.
»Nicht schießen, ich bin unbewaffnet!«, hören wir eine Männerstimme von draußen rufen. Ich ziehe trotzdem die Pistole aus dem Mantel. Nicht vertrauen und nicht glauben, um nicht getötet zu werden. Und wenn es schiefgeht, überlege ich, werde ich erst Carola erschießen, dann mich. Foltern lass ich uns nicht!
Ein Mann mit verrußtem Gesicht und kalter Tabakpfeife zwischen schmalen Lippen erscheint vor dem Waggon. Die Hände hält er über den Kopf.
»Ist rot da vorne. Die Strecke ist von hier bis Eger ab und zu nur eingleisig. Dies ist eine der wenigen Strecken, die noch nicht völlig zerstört ist. Nur muss andauernd ein Zug auf den anderen warten, das dauert seine Weile. So wie wir jetzt auf den Gegenzug warten müssen. Bei Zwotental müssen wir vermutlich das nächste Mal halten. Das ist jeden Tag so. Wo wollt ihr denn überhaupt hin?«
Er fragt anscheinend so ganz nebenbei, trotzdem schrillen Alarmglocken in meinem Kopf. »Wir wollen nach Frankfurt«, sage ich und werde erstaunt von den anderen angesehen. Der Lokführer schaut mich sogar beinahe entgeistert an.
»Seid ihr bescheuert oder was? Frankfurt? Tief im Osten? Die Oder liegt weit nördlich von hier. Frankfurt an der Oder, das ist ja beinahe Berlin. Totale Idiotie. Könnte sogar sein, dass die Russen schon da sind. Außerdem solltet ihr euch nicht an den Grenzen blicken lassen, die sind dicht. Ohne Beziehungen kommt man nicht mal mehr nach Österreich. Deutschland ist wie ein Kochkessel. Eine Chance gibt es allerdings. Ist eigentlich ein Witz.«
Etwas pfeift, der Mann verstummt und hebt den Kopf.
»Ich höre den Gegenzug. Lasst mich rein, sieht recht sonderbar aus, wenn ich draußen herumstehe.« Er schwingt sich zu uns hinauf und zieht die Tür fast ganz zu. Sehr vorsichtig schaut er durch den Spalt. Der Gegenzug rumpelt an uns vorüber.
»Gut, sehr gut. Die kümmern sich nicht um uns. Kann einer von euch Lok fahren?«
»Oui«, antwortet der Franzose. »Ja, isch war chef de train en Marseille.«
»Na prima, das vereinfacht die Sache. Wir fahren jetzt weiter und ich zeige dir, was du wissen musst. Und wenn ich danach abgesprungen bin, fährst du einfach weiter. Darfst nur nicht anhalten. Wenn ihr ein wenig Glück habt, wird dieser Zug wie gewohnt an den Bergen vorübergeleitet. Außer zufälligen Kontrollen durch SS oder Feldjäger ist kein Halt vorgesehen, aber Kontrollen gibt es immer seltener. Wenn die Kerle euch anhalten, nützt sowieso alles nichts mehr. Wenn ich draußen bin, haltet die Augen offen. In den nächsten Stunden kriegt ihr nur Felder und ab und zu mal ein Dorf zu sehen. Ist eine ganz gemütliche Strecke, die irgendwann an einem relativ breiten Fluss auf der rechten Seite entlangführt. Wenig später macht der Fluss einen Linksbogen und die Schienen auch. Eine Brücke wäre wohl zu teuer gewesen. Dieser Bogen hat zur Folge, dass die Schienen nicht nur an der Grenze vorbei, sondern für ein paar Meter durch eine Landzunge der ehemaligen Tschechei hindurchführt. Ihr müsst höllisch aufpassen! Bis dann ist es nämlich schon duster. Wenn ihr ein Fachwerkhaus mit aufgesetztem Wassertank passiert, erreicht ihr nur ein paar Schritt weiter eine Schranke. Dort halten wir stets um Wasser zu fassen. Die Schranke ist so eingerichtet, dass sie nicht die Straße sperrt, sondern die Ausleger sich über die Schienen senken und die Bahnstrecke sperren. Dort haben die Tschechen vor 1938 gerne Zugkontrollen durchgeführt. Gegen eine Flasche Schnaps durften wir dann weiterfahren. Was hatten wir einen Spaß! In dieser Gegend gibt es keinerlei Grenzkontrollen mehr bis nach Prag hinein. Wieso, weiß niemand. Hat die Führung wohl vergessen. Hier wird auf jeden Fall nicht kontrolliert. Wenn ihr draußen seid, musst du mein Freund«, er klopft dem Franzosen auf die Schulter, »ein Drittel Kraft geben, wie das geht, zeige ich dir und dann selbst abspringen. Der Zug fährt dann im Schritttempo weiter, bis kein Dampf mehr da ist. Dann bleibt er stehen und kein Aas kann feststellen, was passiert ist. So, komm mein Freund, nun fährst du.«
Der Lokführer springt mit dem Franzosen aus dem Waggon. Die Luke bleibt offen.
Carola setzt sich neben mich zu unserem Fahrrad, das durch Stoppen und Anfahren von dem Kartoffelberg gerutscht ist. Sie schaut mir fest in die Augen. »Seit wann hast du eine Pistole, Jakob?«
Ich erzähle ihr, wie ich in den Besitz der Waffe gekommen bin. Carola verlangt, dass ich das Ding sofort wegwerfe. »Eine Schusswaffe ist das Widerlichste auf der Welt. Wenn wir damit erwischt werden, hilft auch der falsche Pass nichts mehr. Jakob, tu mir den Gefallen und wirf das Ding weg.«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Ob wir uns mit der Waffe verteidigen können, weiß ich selbst nicht. Aber die Munition, die im Magazin steckt, würde zumindest dafür sorgen, dass weder du noch ich die Folter zu fürchten hätten.«
»Du würdest mich wirklich erschießen?« Sie schaut mich völlig entsetzt an.
»Bevor du den Kerlen in die Hände fällst. Ja, ich denke schon, dass ich das machen würde. Es sei denn, du möchtest nicht, dass ich das tue.«
»Natürlich möchte ich das nicht, was fällt dir denn überhaupt ein?«, regt sie sich lautstark auf.
»Mir fällt zum Beispiel die wenig appetitliche genitale Verfassung des SS-Mannes von vorhin ein, der wahrscheinlich keinen Einzelfall darstellt. Deshalb stelle ich mir vor, tot zu sein, wird wohl leichter zu ertragen sein. Abknallen würden die Kerle uns hinterher sowieso. Das Ergebnis bliebe das gleiche, allerdings ersparte ich dir dann den Ekel und mir ebenfalls.«
»Hm.«
Carola scheint im Zweifel, ob sie in einem solchen Fall vielleicht doch lieber mittels einer Kugel den Mörderhänden deutscher Ordnungshüter entkommen möchte. Ich stecke die Pistole also wieder in die Manteltasche. Der Zug ruckt und setzt sich in Bewegung. Ob nun der Franzose fährt?
Das schmächtige Mädchen, eingehüllt in den übergroßen schwarzen Ledermantel, wirkt etwas verloren. Sie leert den Inhalt des Brotbeutels auf den Boden. Blutwurst und Sülze kommen zum Vorschein und mehrere Scheiben kräftiges Graubrot.
Ich habe keinen Zeitbegriff. Es beginnt langsam zu dämmern. Manchmal hält der Zug und fährt anschließend weiter. Ob der Lokführer noch vorne im Führerhäuschen steht oder bereits abgesprungen sein mag?
Endlose Felder ziehen an uns vorbei. Ab und zu ein Bauernhof. Die Szenerie wirkt einschläfernd. Carola schläft inzwischen ganz fest. Die anderen wirken eher teilnahmslos. Mich halten die Gedanken wach, was wir tun sollen, wenn der Zug an der Schranke angekommen sein wird. Ich will nicht in die Tschechei. Wir müssen nach München oder zumindest nach Hof. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass wir viel zu lange in diesem Zug festsitzen. Mir fallen allmählich die Augen zu.
»Mervellieux!« Der Franzose steht draußen vor der Luke, hält eine Eisenbahnerlampe in der Hand und beleuchtet das Innere des Waggons. Im Lichtschein kann ich erkennen, dass er grinst. Ich schiebe mich zur Einstiegsluke.
»Was ist wunderbar? Sind wir schon da?«, frage ich ihn leise und schaue nach draußen. Wir stehen neben einem schimmernden Fluss. Die Ufer sind im Schein des Mondes deutlich zu erkennen.
»Non. Aber mussen mir ‘elfen.« Er weist mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen. »Compris?«
»Ach so, ich kapiere, Sie meinen, dass vier Augen mehr sehen als zwei«, flüstere ich.
Er nickt.
»Was flüstert ihr denn da?« Carolas Kopf erscheint im Schein der Lampe.
»Er meint, ich soll mit nach vorn kommen und die Augen aufhalten. Wahrscheinlich sind wir gleich da.«
»Wo?«
»An der Schranke, von der der Lokführer erzählt hatte. Von dort aus sollen die Leute nach Eger gehen.«
»Die Leute. Und wir?«
»Wir wollen nach München, vergiss das nicht, und keinesfalls nach Prag. Wenn die Tschechen befreit sind, werden sie sich verständlicherweise auch kräftig an uns rächen. Da möchte ich nicht gerne dabei sein. Lass uns nachher darüber reden. Ich gehe mit nach vorne. Sobald wir halten, komme ich zurück. Möchtest du zur Sicherheit die Waffe haben?«
»Nein, danke, lass nur. Das Mädchen hat ja eine Waffe. Nimm du deine besser mit und pass auf dich auf, Jankele.«
»Das sollste doch nicht sagen«, rüge ich Carola und folge dem Franzosen zur Lokomotive.
»Marcel«, raunt er mir zu.
»Was Marcel?«, frage ich zurück.
»Meine Nam. Ich ‘eiße Marcel, Monsieur.«
»Sehr erfreut, Marcel. Mein Name ist Jakob.«
»Oui.« Marcel lächelt süffisant. »Jankele.«
Ich werde mit Carola nachher mal Tacheles reden. Sie nimmt das nicht ernst genug. Lachen muss ich dennoch.
»Das ist ein Kosename, ähm, was heißt Kosename auf Französisch?«
»Un nome d’amour, je compris. Oui, Jankele. Tu c’est juif ... Sémite?«
Werde ich gerade dir erzählen, denke ich mir und schweige. Marcel legt mir mitfühlend die Hand auf den Arm. Nicht zu fassen - dieser Mensch kommt geradewegs aus einem Nazilager und bemitleidet mich wegen meiner Abstammung. Also so was.
Mit einem kräftigen Schwung klettert Marcel in das Führerhaus der Lok. Ist gar nicht so einfach für mich, ihm zu folgen. Sportliche Gelenkigkeit fühlte ich noch nie in mir. Marcel drückt mir eine Schaufel in die Hand und fordert mich auf, damit Kohlen in die Feuerluke zu schaufeln. Er selbst kurbelt an Stahlrädern und bewegt mir unverständliche Hebel. Marcel schaut mir zu und beobachtet dann zwei hinter rundem Glas liegende Instrumente. Er gibt der Lukentür einen leichten Schubs mit dem Fuß, hantiert wieder an den mir unerklärlichen Apparaten und die Lok ruckt in Bewegung. Marcel schaut aus dem glaslosen Fenster links am Kessel vorbei. Ich schaue auf der rechten Seite ebenfalls in die Nacht. Kalter Wind bläst ins Führerhaus und lässt die Glut im Ofen vor uns vergessen. Im Mondlicht glitzert das Band der Wassers. Die Sterne über uns funkeln. Wie schön ist die Welt, wenn es nicht schießt und knallt. Der Zug neigt sich leicht, während die Schienen eine Linkskurve beschreiben. Das muss die Stelle sein, wo man sich den Bau einer Brücke gespart hatte. Ich höre Marcel etwas sagen, verstehe ihn aber nicht. Der Zug fährt nun langsamer in eine Rechtskurve, das Wasser scheint zum Greifen nah. Ich schaue voraus und entdecke ein Fachwerkhaus mit einem gewaltigen Fass oder etwas Ähnlichem obenauf, das sich nähert. Das muss das bewusste Ziel sein. Im Schritttempo fahren wir an dem Haus vorbei. Es wirkt ziemlich verwahrlost, die Scheiben fehlen in den schwarzen Fensterhöhlen. Das Dach aus Holzschindeln zeigt manches Loch, ebenso wie das Mauerwerk zwischen den Balken des Fachwerks. Marcel bremst den Zug. Vor uns entdecke ich die Schranke. Marcel stoppt den Zug, wir verlassen die Lokomotive und gehen zum Waggon zurück. Auch unsere Mitreisenden haben den Waggon bereits verlassen. Das Mädchen wirkt hier draußen noch verlorener in dem viel zu großen Ledermantel, den Karabiner am langen Arm.
Marcel geht zwischen den beiden Tschechen, legt ihnen die Arme auf die Schultern, einer rechts, einer links. Die drei entfernen sich ein wenig. Dann umarmen die beiden den Franzosen und laufen eilig zu einem Gestrüpp wohinter sie unserem Blick entschwinden. Und was ist mit dem Polenmädchen?, frage ich mich still und rede zu Marcel, der wieder bei uns steht. »Es sieht so aus, als ob wir auf dem richtigen Weg sind, was, Marcel?«
Er scheint meiner Ansicht zu sein. Ob er denn nicht gemeinsam mit den Tschechen fliehen wolle, frage ich Marcel. Er schüttelt den Kopf und erklärt, dass die Chancen für einen Franzosen in der Tschechei nicht gerade günstig aussehen - immerhin hätten England und Frankreich gemeinsam und erbarmungslos die Tschechen an ›’errn ‘itleer‹ verschachert! Woher kennt der dieses Wort? Marcel spricht ein Gemisch aus französischen und deutschen Brocken, Carola übersetzt, wenn ich gar zu verständnislos wirke.
»Wir marschier nach la Suisse. Une bonne idée«, verkündet Marcel.
»Wer ist wir?«, fragt Carola.
»Lydia natürlich«, lacht Marcel und blickt zu dem Polenmädchen mit den kurzen blonden Haaren um den wohlgeformten Schädel, den tiefgrünen Augen und dem kunstvoll geschwungenen Mund. Als hätte sie ein Stichwort erhalten, stellt Lydia sich neben Marcel und lehnt den schönen Kopf an seine Schulter. Er küsst sie zärtlich auf die Stirn. Lydia schlingt die Arme um ihn und seufzt zufrieden. Eine Liebe in dieser Zeit und noch dazu zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern im Reich des Todes.
Ich lächle dem verliebten Paar zu. »Lasst uns zusehen, dass wir den Teufeln von der Schippe springen.«
Marcel hat inzwischen die Ausleger der Schranke hochgekurbelt.
»Vielleicht sollten wir ein wenig mit dem Zug weiterfahren«, sagt Carola. »Hier durch die Nacht zu laufen kommt mir nicht sehr lustig vor, Jakob.«
»Nein, das halte ich für völlig falsch. Zunächst wissen wir nicht, wo wir uns befinden und dazu kommt, dass wir nicht wissen, wo der Zug hinfährt.«
»Ich denke nach Nürnberg, im Zug soll doch Fressen für die Bonzen sein.«
»Wirklich, Carola. Ein französischer Zwangsarbeiter und seine polnische Freundin, dazu ein deutscher Jude mit seiner arischen Ehefrau, schwer bewaffnet auf der Flucht vor den Nazis, beschossen von den Alliierten tuckern gemütlich in einem geklauten Zug durchs Reich. Unterwegs schlafen wir vielleicht sogar ein bisschen und wenn wir dann in Nürnberg eingetrudelt sind, weckt uns die SS mit einem fröhlichen Liedchen: Achinu Jaacov, Achinu Jaacov, al tischaan, al tischaan? ...«
Unvermutet singt Marcel die zweite Stimme des Kanon. »Frère Jacques, Frère Jacques, dormez vous, dormez vous ...« Mitten in der Nacht singen wir einen Kanon und auch das Polenmädchen stimmt mit ein. »Panie Janie, Panie Janie, rano wstań, rano wstań?« Und zuletzt Carola. »Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch?«
Nein, ich schlafe mitnichten in dieser Freitagnacht zum 16. Februar 1945. Und ich befinde mich auch nicht auf dem Weg ins Schweizerlager, sondern irgendwo im Niemandsland bei Vollmond unterm Sternenzelt, singe dieses Kinderlied und ringsherum versinkt die Welt im sinnlosen Taumel, dem Tod zum Gefallen.
Der Abschied von Marcel und Lydia gleicht einer rührenden Familienszene. Wir haben beschlossen, nicht gemeinsam weiterzugehen, denn die beiden wollen so gut wie möglich zwischen den ehemaligen Grenzen entlang einen Weg nach Österreich finden. Wir möchten nach Hof zu Carolas Tante. Die Stadt vermute ich eher westlich von uns, daher finde ich es sinnlos, mit Marcel und Lydia weiterhin gen Süden zu gehen. Carola und ich haben unser Gepäck und das Fahrrad aus dem Waggon geholt, Marcel den Karabiner, den Esbitkocher und andere Gerätschaften, welche er in eine grüne Zeltplane packt. Dazu noch ein paar Handvoll Kartoffeln. Dann hat er den Zug wieder in Bewegung gesetzt und springt behände aus der Lokomotive. Der Zug dampft nun ganz langsam an der Schranke vorbei aus unserem Blickfeld.
Carola und ich sind nun allein und wandern langsam in die Richtung, in der wir Hof vermuten. Wir schieben das bepackte Fahrrad abwechselnd. Hoffentlich wird es bald hell, und zwar hinter uns, damit wir uns orientieren können. Wenn ich mir ausmale, dass wir uns vielleicht in der Richtung geirrt haben und dann zurücklaufen müssen, werde ich schon jetzt wütend. So gerne laufe ich ja nun nicht gerade in der Gegend herum. Immer häufiger sehe ich mich um, in der Hoffnung, dass es von dort hell wird.
Na, also, endlich erkenne ich hinter uns den Dämmerschatten des Morgens. Die Richtung stimmt und somit kann ich mich ein wenig entspannen. Nicht einmal die feuchte Kälte des Februarmorgens kann mich so wach halten, dass mir nicht dauernd die Augen zufallen.
»Stehen bleiben, Hände hoch!«, herrscht uns eine Stimme von hinten an. Junge, jetzt bin ich aber hellwach. Wir bleiben stehen und heben die Hände. Das Fahrrad lehnt an meinem Bein.
Zwei Feldjäger, die anscheinend ebenfalls auf Fahrrädern unterwegs waren, stehen auf dem Weg hinter uns. Weil ich mich nicht weiterhin umgesehen, sondern stattdessen etwas gedöst habe, habe ich die beiden nicht bemerkt. Carola wohl ebenfalls nicht, sie wirkt genauso verständnislos wie ich.
Einer hält die Fahrräder der beiden, der andere ein Gewehr im Anschlag. »Wer sind Sie, woher kommen Sie und was haben Sie mitten in der Nacht hier zu suchen?«
»Wir heißen Anders. Ja ..., Kurt und Ermine Anders. Wir kommen aus Dresden und sind auf dem Weg nach Hof.«
»Was bedeutet Jakurt?«
»Ich bin so erschrocken, deswegen der Versprecher. Wir heißen Anders. Ja, Komma, Kurt und Ermine Anders, Punkt.«
»Na gut. Wo kommen Sie her?«
»Habe ich doch gerade gesagt, oder sind Sie schwerhörig?« Chuzpe steh mir bei!
»Dann sagen Sie es eben ein zweites Mal, und vor allem nicht in diesem Ton! Wenn ich zwei zwielichtige Gestalten, die in der Nacht durch die Gegend laufen umlege, fragt kein Aas mehr danach. Also!«
»Wir kommen aus Dresden.«
Die beiden Feldjäger grinsen sich an.
»Ach so, ja aus Dresden. Ist ein ganzes Stück Weg von dort bis hierhin. Und zu Fuß ist man da eine ziemliche Weile unterwegs.«
»Wie Sie sehen, haben wir ein Fahrrad dabei.«
»Eben.« Das Gewehr zittert, während der Mann lacht. Der soll gefälligst aufpassen, sonst geht das Ding noch los.
»Wieso eben?«
»Ein Rad. Ihr beiden Komiker seid aber zu zweit. Zudem schwer bepackt.« Das Grinsen gefriert. »Mit Plünderern machen wir ganz kurzen Prozess. Papiere habt ihr natürlich leider in Dresden gelassen, nicht wahr?«
»Nein, wir haben einen Reisepass dabei.«
Die Mündung der Waffe wird gesenkt. »Sie haben was? Einen Reisepass?«
Sehr sonderbar. Als einfacher Bürger wird man gleich geduzt. Hat man einen Pass bei sich, heißt es vorsichtshalber ›Sie‹. Brecht hat recht, der Pass ist das Wichtigste an einem Menschen.
»Ja. Wenn Sie ihn sehen wollen.« Ich ziehe ihn aus der Mantelinnentasche und reiche ihn dem Bewaffneten.
»Ausgestellt in München. Sie sagen, Sie kämen aus Dresden.«
»Richtig. Ich bin nämlich Schauspieler am Staatstheater in Dresden. Das heißt, ich war es. Dresden gibt es nicht mehr seit Dienstagnacht. Die haben alles zerbombt.«
»Wieso gibt es Dresden nicht mehr? Reden Sie keinen Unfug! Man hört zwar dauernd was von irgendwelchem Angriff, aber das passiert doch überall. Mit Miesmache und Schauergeschichten wird es nicht besser.«
»Schauergeschichten ist gut. Und ein Angriff ist sogar noch besser«, mokiert sich Carola. »Alle paar Stunden haben wir mehr als reichlich abbekommen. Dagegen ist der sogenannte Eintausend-Bomber-Angriff von Köln höchstens ein albernes Feuerwerk gewesen. Die haben bei uns zuletzt sogar mit Tieffliegern die Leute gejagt. Uns selbst auch, das ging so schnell, das hört man gar nicht.«
»Mit Tieffliegern? Natürlich, hier tief im Osten. Die müssen quer durchs Reich, um ausgerechnet hier einzelne Leute abzuknallen. Jetzt habe ich die Schnauze voll!« Die Waffe zielt wieder auf uns. »Ihre Märchen können Sie im Revier erzählen. Dort werden ebenfalls die Papiere überprüft, die behalte ich.« Er steckt unseren Pass in seine Manteltasche. »Und wenn die geringste Kleinigkeit nicht stimmt, dann kann ich versprechen, dass so ein Standgericht ganz schnell zusammentritt. So, Sie gehen voran und nun vorwärts und keine falsche Bewegung. Wir folgen dicht.«
Mir steht plötzlich der Schweiß auf der Stirn. Die Pistole. Wie soll ich die unbemerkt loswerden? »Verdammt!«, flüstere ich Carola zu. »Wenn die die Pistole finden, ist es aus. Was soll ich tun?«
Carola nickt beinahe unmerklich. »Das habe ich mir auch schon überlegt. Ich habe keine Ahnung.«
»Ich habe das ungute Gefühl, dass wir nicht heil aus dem ganzen Schlamassel kommen, Carola. Das geht schief.«
»Mein Gott, du tust ja gerade so, als wäre die ganze Welt gegen dich. Weißt du, wie man so jemanden nennt?«
»Ja. Realist! Für einen Pessimisten ist ein Pessimist ein Realist!«
Wie um meine Einschätzung zu bestätigen, dröhnt die Stimme eines der Feldjäger hinter uns. »Was gibt es da zu tuscheln? Sofort aufhören. Schnauze halten und weitergehen!«
»Mein Mann muss mal!«, ruft Carola aufgebracht zurück. »Er traut sich nur nicht, um Erlaubnis zu bitten.«
Hinter uns höre ich Lachen, aber die Idee ist beeindruckend. Wäre ich nie drauf gekommen.
»Toller Mann, dieser Feigling. Na los, Kamerad, geh pinkeln. Dort an dem Baum und keinen Schritt weiter, sonst knallt es! Dann ist deine Braut gleich mit hin!« Wieder lachen die Männer. Zumindest ist es einen Versuch wert. Ich halte Carola den Lenker hin und gehe zu dem befohlenen Baum. Was macht man, wenn man gar nicht muss? Zeit gewinnen. Umständlich bereite ich mich vor und schiebe dabei eine Hand so langsam und unverdächtig wie mir nur möglich in die Manteltasche, um die Waffe hervorzuziehen und möglichst unauffällig fallen zu lassen. Im gleichen Augenblick jault ein Motor und grelles Scheinwerferlicht beleuchtet uns. Ein offenes Fahrzeug mit den aufgemalten Insignien der Feldpolizei spritzt näher, stoppt mit rutschenden Reifen. Das Metallschild vor dem Hals des Beifahrers schimmert silbern. Der Mann steht im Wagen, beide Hände auf das Frontfenster gestützt. »Endlich. Wir suchen euch seit Stunden.«
Unsere beiden Bewacher nähern sich dem Auto. »Was ist los?«
»Schmeißt alles hin, wir müssen weg, los, los, los!« Mit einer Hand winkt der Beifahrer, ins Fahrzeug zu klettern. Ein Bewacher setzt sich bereits in den Fond.
»Aber wir haben hier zwei Verdächtige, die angeblich aus Dresden kommen und nach München wollen. Wir wollten die Papiere überprüfen lassen«, meint der andere Kettenhund.
Der Beifahrer winkt genervt ab. »Scheiß auf deine Figuren. Leg sie um oder lass sie laufen, wir müssen sofort weg!«
Unser Reisepass fliegt vor Carolas Füße und auch der zweite Bewacher steigt in den Wagen, der, Dreck verspritzend, davonschießt.
Carola hebt den Pass auf und kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu.
»Hui«, sage ich und stecke den Pass wieder ein. »Das war verteufelt knapp. Was mag die Kerle so verrückt machen?«
»Jakob, ich will dich.«
»Was willst du mich?«
Carola klammert sich an meinen Arm. Sie zerrt an ihrer Kleidung. Was soll denn das? »Ich will dich jetzt haben.«
»Was ist los? Biste meschugge? Jetzt? Hier?«
Sie hat sich so weit wie nötig entblößt, hält mich fest und beschäftigt sich nun mit meiner Hose, die ich bislang nicht habe schließen können. Für nix hat man hier Zeit, überlege ich. »Du willst jetzt mit mir schlafen? Hier?«
»Wann und wo sonst, wenn nicht hier? Bevor wir verrecken und für alle Ewigkeit tot sind, will ich wenigstens noch ein einziges Mal mit dir schlafen!«
Da versteh einer die Frauen. »Aber das geht doch nicht ...«

Die feuchte Kühle des Februarmorgens lässt alles, was gerade noch in heißer Körperlichkeit gelodert hat, zusammenschrumpfen. »Oijoijoij«, sage ich und hole tief Atem. »Du hast es wirklich nötig gehabt! Trotzdem würde ich vorschlagen, dass wir nicht länger hier auf dem feuchten Boden liegen bleiben, sonst fangen wir uns einen gehörigen Schnupfen ein.«
»Och, friert mein kleines Jüdlein? Mir ist wunderbar warm.«
»Du sollst mich nicht so nennen!«
»Ich weiß, dass ich dich nicht so nennen soll, ich mach’s ja ganz freiwillig. Ja, lass uns aufstehen. Nicht, dass du dir den Tod holst, Jankele.«
»Von holen kann nicht die Rede sein, wir laufen vor ihm fort. Allerdings hast du nicht recht mit deiner Annahme, dass wir für alle Zeit tot sein werden.«
»Wie bitte?«
»Nun, du hast gerade, na gut, vorhin gesagt, dass wir für alle Ewigkeit tot sein werden. Das ist falsch.«
»Ach ja?« Carola setzt sich auf, ein vor Monaten welk gewordenes, trockenes Blatt segelt von ihrem Haar zum Waldboden zurück. Die Haare liegen wüst über die Schultern verteilt. Wenn nun ein Tiefflieger käme und dieses Bild sähe - Carolas Rock und der Schlüpfer wirken reichlich derangiert - würde er sicherlich seine Maschine in die Erde bohren.
»Wieso falsch?«, forscht Carola. »Das Leben ist kurz und der Tod ewig.«
»Eben nicht. Man ist nur so lange tot, wie sich irgendjemand an einen erinnert. Nur in der Erinnerung denkt jemand an deinen Tod. Sobald sich niemand mehr an dich erinnert, bist du ja nie für irgendeinen Menschen da gewesen. Dann ist alles wieder genauso, wie es vor deiner Geburt gewesen war. Nichts, gar nichts ist dann, oder kannst du dich daran erinnern, was vor deiner Geburt war?«
»Selbstverständlich nicht, welch ein Blödsinn. War die Anstrengung für dich gerade vielleicht ein wenig zu kräftezehrend gewesen? Ich meine, weil du so merkwürdig redest. Ganz anders als früher.«
»Vorsicht! Nicht so vorlaut, junge Frau, von wegen merkwürdig und kräftezehrend. Oder ich vergewaltige dich und zeige dir, wie anstrengend ich sein kann.«
»Au ja, bestens, das lass nur meine Sorge sein. Na los, komm schon.«
»Ach lass nur, ich würde viel lieber hier verduften.«
»Typisch. Erst große Versprechungen und dann bleibt nichts als heiße Luft. Mir den Mund wässrig machen und dann den Schwanz einkneifen.«
»Carola, du bist geschmacklos.«
»Das würde ich so nicht sagen. Wo willst du denn überhaupt jetzt so dringend hin?«
»Nun schlägt’s dreizehn. Deine Tante. Na, wir wollen zu deiner Tante nach Hof. Sag nicht, du hättest das vergessen.«
»Doch. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe tatsächlich nicht mehr daran gedacht. Ich war völlig weit weg. Stimmt ja, wir möchten nach Hof. Mal eine Frage, weswegen fahren wir nicht direkt nach München? Je mehr wir uns meiner Tante nähern, desto unangenehmer belasten mich die Erinnerungen. Als wir zu Hause aufgebrochen sind, waren die Gedanken an früher, hinter dem Wunsch aus der Dresdner Hölle zu entkommen, verschwindend, aber dies ändert sich erschreckend. Müssen wir wirklich zu ihr?«
Tränen schimmern plötzlich in ihren Augen. Was um Himmels willen mag ihr bloß in Hof geschehen sein? Die Idee, dort Zuflucht zu suchen, kam von Carola.
»Nein, wir müssen natürlich nicht dorthin.« Was soll ich nun antworten, ohne vorwurfsvoll zu klingen? Ich selbst wäre ja nie auf die Idee gekommen. Mist, ein paar Tage Rast im Schoße der Familie hätten uns sicherlich ganz gutgetan, würde ich am liebsten anmerken. Aber das wäre vielleicht nicht richtig. Was jetzt sagen? Was tun? Warum fällt mir nie etwas Gescheites ein, wenn es mal nötig ist?
»Ach, Jankele. Ich bin nur ein törichtes Weib. Ich habe niemals davon erzählt, weil es mir selbst unendlich peinlich ist. Selbst nach all den Jahren.«
»Was ist geschehen? Oder magst du nicht darüber reden?«
Carola schüttelt den Kopf. »Mir ist kalt, du hast recht. Wir wollen von hier verschwinden. Ja?«
Sie wirkt verletzt. Tief im Innern verletzt. Gerade noch die strahlende Gloria und nun die gepeinigte Ablehnung. Nein, Angst ist das. Blanke Angst in Carolas Gesicht. Was um Himmels willen war damals geschehen? Sei friedlich, Jakob, und halte gefälligst dein Maul. Wenn sie es erzählen will, wird sie es von alleine tun.
Wir befestigen den Koffer wieder auf dem Gepäckständer des Drahtesels, der Rucksack baumelt an der Lenkstange.
»Mensch, Jakob, wir sind doch blöd.«
»Ach ja?«
»Selbstredend. Weshalb benutzen wir nicht eines der zwei Fahrräder von den Kerlen vorhin. Die liegen ohnehin nur rum.«
»Stimmt eigentlich.«
Schweigend schieben wir die beiden Fahrräder und entfernen uns von dem Ort. Carola blickt stur geradeaus. Was mochte bloß in Hof geschehen sein? Ich stolpere über einen Ast und wäre beinahe hingefallen. Mit dem Fuß schiebe ich den Ast beiseite und stutze, das ist ja gar kein Ast. Das ist ein Arm mit einem deutlich erkennbaren Stück Brustkorb und dem Schulterblatt daran. Carola muss wohl auch den Fund bemerkt haben, denn ich höre ihren Schrei, sie drückt die Faust gegen den Mund. Sie wendet den Blick ab und schaut zur Seite. Dann sackt sie leicht rücklings in die Knie. Beinahe wäre sie mit dem Kopf auf einen am Boden liegenden Wehrmachtsstahlhelm gefallen, in dem ein Stück Schädeldecke mit Haaren zu erkennen ist. Ich bugsiere Carola auf die Seite und bemühe mich, sie zu wecken. Sie schlägt die Augen auf.
»Dieser Anblick ist so entsetzlich in dieser Idylle. Hört das denn nie mehr auf?« Carola schaut an mir vorbei in die Luft und schreit erneut. Ich folge ihrem Blick. In einem der Bäume über uns hängt der Torso eines Menschen.
»Nein, schau nicht hin«, fordere ich sie auf, aber wir sehen beide doch hin. Da hängt tatsächlich ein Mensch im Geäst einer Birke. Nein, das ist gar kein Mensch. Das ist nur ein Mantel! Der hängt in etwa drei Metern über dem Boden in den kahlen Ästen.
»Das ist nur der Mantel von dem armen Teufel, Carola. Ich will gar nicht wissen, was hier noch herumliegt. Lass uns weggehen.«
»Ja.«
»So langsam kommt es mir vor, als wenn nicht mehr das Wahrscheinliche geschieht, sondern je abwegiger die Situation ist, desto sicherer wird sich das Unmögliche ereignen.«
Carola hat sich vom Boden erhoben und klopft Blätter und Schmutz von der Kleidung. »Dann lass uns das Vernünftigste tun.«
»Ich kann dir verraten, was das Vernünftigste wäre!« Ich klopfe gegen die Pistole in meiner Manteltasche. »Uns erschießen!«
»Sagte dein Rabbi nicht: Ein Mensch soll leben - schon der Neugierde wegen!«
»Das hast du nicht vergessen?«
»Nein, kann ich gar nicht. Außerdem wäre es eine Todsünde, Jakob.«
»Na, jetzt komm mir nicht mit religiösen Dogmen.«
»Nein, nein, Jakob. Ich meine das anders, Herr Anders. Die einzige Todsünde der Welt ist es, die Hoffnung aufzugeben, den Mut zu verlieren. Wir leben, können unsere Köpfe benutzen, sind überwiegend gesund und solange das so bleibt, wird es irgendwie weitergehen! Und nun lass uns endlich weiterziehen, bis Hof ist’s weit!«
»Du wolltest doch nicht ...«
»Hab’s mir eben anders überlegt. Komm weiter.«
Maul halten, Jakob, denke ich. Es ist das Vernünftigste. Wir schieben wieder die Räder. Aber ich würde schon gern wissen, was da passiert sein könnte. Na, warten wir’s mal ab.
»Ich bin ja mal gespannt«, fährt Carola fort, »was Tante Fanny sagt, wenn wir so unangemeldet dort auftauchen. Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen, seit damals.«
Maul halten, Jakob.
Unvermittelt bleibt Carola stehen und beißt auf die Lippen.
»Es ist inzwischen, ich glaube achtzehn, ja achtzehn Jahre her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Tante Fanny und Onkel Joseph. Die hatten uns besucht, Vater war gerade gestorben. Nach dem Essen hatte Mutter damit begonnen, die Küche in Ordnung zu bringen. Tante Fanny machte ihren obligatorischen Mittagsschlaf und Onkel Joseph interessierte sich für meine Schulbücher. Hatte er zumindest behauptet. Ich saß am Schreibtisch und er stand hinter mir und schaute über die Schulter. Während ich im Hygienebuch blätterte, um ihm die aktuelle Schulaufgabe zu zeigen, hörte ich ihn schnaufen und musste ein wenig darüber lachen. Klar, die Alten kannten so etwas nur aus dem Museum. Mein Lachen hatte er wohl missverstanden, denn plötzlich fasste er mich von hinten an. Erschrocken drehte ich mich zu ihm um und sah, dass er ... dass er seinen ... Dann schlug er mich und zwang mich, ihn ... anzufassen. Es ging alles viel zu schnell, ich konnte gar nicht reagieren, so unwirklich fühlte ich mich. Plötzlich war meine frische Bluse nass - von ihm. Er verlangte von mir, den Mund zu halten. Er drohte massiv, dann verließ er mein Zimmer. Ich saß wie im Nebel, zog endlich die eklige Bluse aus und wusch erst mich gründlich am Waschtisch in meinem Zimmer. Dann säuberte ich die Bluse und zog eine frische an. Ich hörte ihn in der Küche laut lachen, meinen Namen sagen und hörte mehrfach ›Hygiene‹. Ich nahm ein paarmal Anlauf, um in die Küche zu gehen und Mutter alles zu erzählen. Ich schaffte es jedes Mal lediglich bis in den Flur. Dann schämte ich mich, fühlte mich schuldig. Wenn ich ein anderes Buch genommen hätte, warf ich mir ständig vor, wäre vielleicht nichts passiert. Und Mutter so kurz nach Vaters Tod so viel Kummer zu bereiten, wollte ich nicht. Und zudem war Onkel Joseph ja nun auch schon eine ganze Weile bei ihr in der Küche gestanden und hatte geredet, dass sie mir bestimmt nicht geglaubt hätte. Bis Mutter zu Kaffee und Kuchen rief, saß ich am Schreibtisch und starrte auf die gewachste Arbeitsplatte. Ich wusch mich noch mal. Und noch mal. Dann forderte Mutter mich energisch auf, endlich in die Küche zu kommen und ich setzte mich zu den anderen. Schämte mich. Nippte am Kaffee. Pusselte mit zittrigen Fingern am Kuchen. Schließlich schimpfte Mutter mich aus, weil ich zum zweiten Mal am selben Tag eine frische Bluse trug. Sie schimpfte mich ein pietätloses Modepüppchen. Und ausgerechnet Onkel Joseph beschwichtigte sie. ›Lass man, ist bestimmt nur dieses neumodische Hügjene. Solang sie dabei nichts Unrechtes tut.‹ Dann lachten sie und ich schämte mich noch mehr. Seit dem Tag habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Wir müssen nicht unter allen Umständen dorthin«, beruhige ich sie nach einiger Zeit. »Das hast du gar nicht nötig.«
Carolas Blick trifft mich ungewohnt hart. »Doch, gerade das habe ich nötig, dringend nötig. Tante Fanny soll wenigstens wissen, was ihr Joseph für ein Mistkerl ist.«
»Sie wird dir nicht glauben.«
»Oh ja, sie wird. Während ich dir die Geschichte gerade erzählt habe, ist mir eine wesentliche Kleinigkeit eingefallen, hatte ich bisher völlig verdrängt. Nun habe ich sogar beinahe Spaß daran, ihn bloßzustellen.«
»Du willst dich rächen?«
»Ja. Und weißt du, was das Tollste daran ist?«
»Na ja, toll?«
»Jawohl, Jakob. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es mir tut, dass ich das mal jemandem erzählen kann. Bisher habe ich mich damit in meinen Gedanken im Kreis gedreht. Und plötzlich bin ich überhaupt nicht mehr beschämt. Im Gegenteil, ich ärgere mich über mich selbst, dass ich bis zur Stunde geschwiegen habe. Ich fühle mich geradezu völlig abgeklärt, der beste Zustand, um Rache zu nehmen. Rache ist wie Blutwurst - heiß nicht zu genießen. Ich freue mich, dass ich dir das erzählen durfte, Jakob, nun bin ich es endlich einmal losgeworden. Danke.«
»Wäre es nicht vernünftiger, wenn du deine Rache auf die Zeit nach dem Krieg verschöbest. Zunächst sollten wir uns vielleicht lieber ganz dünn machen und versuchen, nicht aufzufallen. Nachher kannst du immer noch zuschlagen.«
»Nein. Ich habe viel zu lange gewartet. Jetzt ist genau die richtige Zeit dazu! Ob nun vernünftig oder nicht. Meinetwegen nimm du den Pass und gehe nach München. Ich gehe nach Hof! Mit dem sauberen Herrn Schreiner werde ich schon fertig werden. Hoffentlich gibt’s den überhaupt noch. Sonst wäre es gemein.«


13.

Gegen Mittag hüllt die Sonne die Gegend in wärmendes Licht und überdeckt uns mit einer angenehmen Müdigkeit. Wenn wir aus der Ferne ein Motorengeräusch vernehmen, suchen wir sofort nach einer geeigneten Deckung, aber es handelt sich glücklicherweise nicht um Tiefflieger. Wir erreichen eine Straße, die den Wald durchschneidet.
»Was nun? Gehen wir auf der Straße weiter oder sollen wir besser dem Waldweg folgen, Carola? Was meinst du?«
»Im Wald sind wir bestimmt sicherer, auf der Straße hingegen treffen wir vielleicht jemanden, der uns sagen kann, wo wir sind und in welcher Richtung Hof liegt. Lass es uns auf der Straße versuchen, Jakob.«
Wir wollen gerade losgehen, als wir ein Auto näher kommen hören. Ein schwarzer Skoda mit zurückgeschlagenem Verdeck nähert sich von rechts. Zwei Uniformierte sitzen darin. Wehrmacht Luftwaffe erkenne ich am Kennzeichen. Kommandeursstander flattern über den Kotflügeln, die weiß abgesetzt lackiert sind. Der Beifahrer, das muss wohl der Kommandeur sein, trägt die Schirmmütze sehr tief in die Stirn gezogen. Er und der Fahrer beachten uns nicht im Geringsten, während sie uns passieren. Als sie vorübergefahren sind, atmen wir erleichtert auf und bemerken entsetzt, dass der Wagen in geringer Entfernung stoppt.
»Komm, Jakob, lass uns lieber dem Waldweg folgen«, flüstert Carola.
»Nein. Das sieht viel zu verräterisch aus und außerdem finde ich es an der Zeit, dass wir mit dem heillosen Weglaufen endlich mal aufhören sollten. Unsere Papiere sind doch nahezu in Ordnung.«
Der Fahrer des Skoda blickt sich zu uns um und legt den Rückwärtsgang ein. Der Wagen rollt langsam rückwärts auf uns zu und stoppt wenige Schritte vor uns.
»Sieg Heil!«, grüße ich laut. Meinetwegen sollen die mich für einen Idioten halten. Der Fahrer lacht laut aus dem weit geöffneten Mund und winkt uns heran. Sonderbar, überlege ich, das Gesicht kommt mir ungeheuer bekannt vor. Aber wegen des beinahe bis an die Nase geschlungenen Schals kann ich den Mann nicht richtig erkennen. Der Offizier schaut uns über die Schulter hinweg ebenfalls an.
Carola greift mir an den Arm. »Das ist unmöglich!«
»Nom de dieu! Frère Jaques!«, johlt der Fahrer, schiebt lässig das Käppi in den Nacken und löst den Schal.
»Marcel!«, rufen Carola und ich gleichzeitig. »Und Lydia. In Wehrmachtsuniform. Das nenn ich mal Chuzpe.«
Marcel steigt aus dem Skoda und küsst Carola nonchalant die Hand. Mir schlägt er natürlich wieder viel zu kräftig auf die Schulter. »Ihr fahren mit uns, non piétons.«
»Das wäre wunderbar, Marcel. Meine Füße tun mir schon weh«, sagt Carola. »Wie seid ihr denn zu dem Wagen und den Uniformen gekommen?«
Lydia hat sich die Schirmmütze nicht wirklich so tief ins Gesicht gezogen, das Ding ist bloß viel zu weit für den zierlichen Kopf der Frau. Ebenso wie die Uniform des Luftwaffenoffiziers nicht annähernd passt. Marcel lädt den Koffer samt Rucksack in den Kofferraum des Skoda und fordert uns auf, in den Wagen einzusteigen. Für die Fahrräder ist kein Platz. Marcel verzieht leicht den Mund. Er würde unseren Drahtesel wahrscheinlich einfach liegen lassen. Das gefällt mir nicht.
»Wir können ja wenigstens ein Rad hinter unseren Rücken an die Rücklehnen der Sitze laden. Nach oben ist Platz genug und wir sitzen dann lediglich etwas unbequemer.« Ich erkläre Marcel meinen Vorschlag pantomimisch. Er schmunzelt und lässt mich gewähren; das Sitzen erweist sich weniger unangenehm als erwartet. Marcel startet den Wagen und fährt los. Der Fahrtwind prickelt recht kühl im Gesicht. Marcel erzählt, dass sie ein paar Stunden, nachdem wir uns voneinander getrennt hatten, von den Insassen des Skodas auf einer Straße zwischen niedrigen Feldern aufgegriffen worden waren. Die hatten auch ursprünglich die Uniformen getragen. Was die Leute zu der Zeit in der Gegend vorgehabt hatten, wusste Marcel nicht. Der Offizier hatte nur militärisch geschnauzt und Papiere zu sehen verlangt, in der sicheren Erwartung zwei Illegale kassieren zu können. Der Fahrer hatte mit einer MP gedroht, die Lydia nun auf ihrem Schoß hielt. Marcel hatte auf das Paket aus Segeltuch gedeutet, dabei »Papier« gesagt und einen weiteren Anschnauzer statt einer Antwort erhalten. Also hatte er das Paket geöffnet, den geladenen und gespannten Karabiner ergriffen, in der Bewegung mit dem Daumen entsichert und den mit der MP bewaffneten Fahrer zielsicher erschossen. Lydia zeigt uns sogar stolz das Loch in der Brustgegend der Uniform, die Marcel nun trägt. Die junge Frau hatte im selben Augenblick geistesgegenwärtig die MP ergriffen und den sprachlosen Offizier in Schach gehalten. Der hatte, sich sofort zu Boden kniend, nur um sein eigenes Leben gebettelt, während Marcel den Karabiner lud. Marcel wiederholt nun im Skoda laut lachend die letzten Worte des Mannes. »Bitte, bitte!«
»Pour le croix de feu«, hatte Marcel gesagt und dann dem Knienden in den Kopf geschossen. Mir war nicht zum Lachen zumute, aber Marcel und Lydia zeigen sich sehr stolz, wenigstens zwei ›sale nazis‹ in den Tod vorausgeschickt zu haben. Sie hatten den Toten die Uniformen ausgezogen und selbst übergestreift. Die Leichen hatten sie dann achtlos in dichtes Gestrüpp gezerrt.
Marcel lacht erneut laut mit zum Himmel erhobenem Gesicht. Dann guckt er wieder auf die Straße und fährt ein wenig langsamer. Er zieht das Käppi tiefer ins Gesicht und bedeutet Lydia, es ihm gleichzutun. »Barrage de police«, zischt er. »Merde!«
Nun sehe ich auch die Straßensperre vor uns auf der Straße. Lydia zieht die MP vom Schoß, bereit, die Männer vor uns einfach zu erschießen.
»Nein, Lydia, nicht schießen, sonst haben wir gleich die ganze Wehrmacht auf den Fersen! Marcel, gib Gas!«, brülle ich. »Tritt auf den Stempel. Was zum Teufel heißt Vollgas auf Französisch?« Man kann nicht alles wissen, aber Marcel versteht wohl besser Deutsch, als ich vermute. »Feste drauftreten«, schärfe ich ihm ein. »Marcel, das einzige und das beste Mittel ist bodenlose Frechheit!«
Der Skoda springt geradezu vorwärts. Zwei bewaffnete Soldaten stehen auf der Fahrbahn. Ein dritter zielt mit einem auf einer Lafette montierten Maschinengewehr in unsere Richtung.
»Jetzt ein bisschen langsamer werden und kräftig hupen, Marcel. Langsamer. Ja, so. Und weiter hupen, nur keine falsche Zurückhaltung. Non, Lydia, non!« Sie hebt die Waffe.
Die Soldaten erkennen die Kommandeurswimpel und Uniform. Dass die viel zu groß ist, bemerken sie hoffentlich nicht. Marcel hupt wie verrückt. Das scheint gehörig Eindruck auf die Soldaten zu machen, denn sie heben die Gewehrläufe, ein Soldat ruft irgendetwas und sie geben uns tatsächlich den Weg frei. Sie grüßen militärisch. Lydia erwidert den Gruß. Zu meinem blanken Entsetzen nicht preußisch, also mit der Handfläche waagerecht, sondern polnisch, mit zwei Fingern, an die Stirn getippt. Wir passieren die Sperre dennoch ungehindert. Marcels Augen im Rückspiegel drücken äußerste Befriedigung aus.
Carola legt den Kopf an meine Schulter. »Du musst die beiden verstehen, Jakob. Sie waren im Lager, KZ vielleicht, da können wir nicht mitreden. Wer weiß, was sie alles haben erdulden müssen. Besonders das Mädchen.«
»Das weiß ich ja, und ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde. Trotzdem gefällt es mir nicht.«
Ein Pferdefuhrwerk kommt uns entgegen. Ich bitte Marcel zu halten. Auf dem Bock des Fuhrwerks sitzt eine Frau in derber Kleidung, ein Tuch um den Kopf geschlungen. Ich winke ihr, neben uns stehen zu bleiben.
»Entschuldigen Sie, sind wir hier auf dem richtigen Weg nach Hof?«
Sie nickt kurz, schnalzt mit der Zunge und der klapprige Gaul zieht das unbeladene Fuhrwerk wieder an.
»Danke für die freundliche Unterhaltung«, schimpfe ich. Sie zeigt keinerlei Regung. »Sind alle Frauen in dieser Gegend ähnlich herzergreifend?«, rufe ich ihr nach. »Fahr einfach weiter, Marcel.«
Vor einem Gasthof an der Straße, die vom Stadtrand nach Hof hineinführt, bitte ich Marcel, den Skoda anzuhalten. Ich schlage vor, eine Pause einzulegen. Marcel zeigt sich wenig begeistert. Er will lieber, so lange noch Sprit im Tank ist, pausenlos weiter Richtung Süden oder Südwesten fahren, denn irgendwann würde das Fahrzeug gesucht werden. Zu der Zeit wollen sie längst als Zivilisten weitermarschieren. Ich habe keine Vorstellung, wie er sich das denkt.
»Alles Gute, Lydia, alles Gute, Marcel. Masseltov. Vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder.«
»Au ja«, ergänzt Carola, »eventuell bei ›Fouquets‹?« Sie spricht zwar französisch, aber so viel verstehe ich.
Marcel klettert hinters Lenkrad. »Oui, c’est bon. Fouquets. Paris. Très bien! Welsch Seit?«
»Ja, welche Zeit?« Ich muss automatisch an ›Hašeks Schwejk‹ denken. Wie war das doch? Ah ja, jetzt fällt’s mir ein und ich sage es mit Schwejk: »Nach dem Krieg um sechs!«
Marcel schaut mich verständnislos an. Carola übersetzt ›Schwejks‹ Worte.
»Non, non, ne pas à quelle heurre. Quelle entrée?«
»Ach so«, sagt Carola. »Marcel meint, an welcher Seite wir uns treffen sollen?« Sie überlegt. »Hm. Champs Elysées oder George V.?«
Marcel zuckt die Schultern.
»Champs Elysées«, schlägt Carola vor. »Dann können wir die Siegesparade sehen.« Sie übersetzt und Marcel lacht. Dann legt er einen wahren Kavalierstart hin, der mir viel zu auffällig erscheint.
»Alles Glück der Welt«, murmelt Carola. »Ich habe Hunger und Durst. Lass uns einkehren.«
Im Gasthof duftet es angenehm würzig nach Sauerkraut. In Dresden hat es auch in so manchem Haus nach saurem Kraut gerochen, nach Armut und Hunger und dort mochte ich den Geruch nicht, doch hier duftet es angenehm nach satter Gemütlichkeit. Gar nicht zu vergleichen. Eine pausbäckige Frau mit kugelrundem Gesicht kniet im Gastraum. Sie hält mit beiden kräftigen Armen einen Scheuerlappen und wischt den Boden. Ein rotes Tuch verdeckt die Haare. Die Kniende schaut uns aus flinken Augen an, nicht eine Falte ist im gut genährten Gesicht zu sehen. Sie mag vielleicht vierzig Jahre alt sein, aber durch die glatte Haut wirkt sie jünger.
»Guten Tag«, grüßen wir.
Sie schnäuzt sich am Ärmel eines Kittels und betrachtet den glänzenden Streifen auf dem Stoff. »Wollen S’ was essen?«
Na, wenn die beim Kochen ebenso handelt, habe ich gleich keinen Appetit mehr. Wenn die in dem Kittel kocht, weiß man nicht, was so alles davon ins Essen fällt.
»Etwas zu essen und zu trinken«, antwortet Carola. Na gut.
»’s Kraut ist noch net fertig und die Haxn muss noch ziehen. Inzwischen können S’ eine Jause haben. Und eine Maß Eigenbräu.« Sie bleibt knien und schnäuzt sich erneut. Pfui Deibel!
»Gerne«, meint Carola. »Ich habe ewig keine Brettljause mehr gehabt. Mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen. Du magst sicher auch, Kurt?«
Hoppla, endlich mal kein Versprecher. Aber trotzdem schon allein die Frage - sie weiß doch, was ich gerne esse.


14.

Carola und ich trafen uns nachmittags nach der Schule, sofern es möglich war, auf der Brühlschen Terrasse. Ich war neben dem normalen Schulunterricht Privatschüler bei Doktor Grünbaum, eines Kriegskameraden meines Vaters. Grünbaum hatte ebenfalls bei Ypern gekämpft und überlebt. Er hatte dort Vaters Brotbeutel und das Koppel gefunden und abgeliefert. Doktor Grünbaum hatte nach dem Krieg die Kosten für mein Schulgeld übernommen und bereitete mein Studium der Rechtswissenschaften samt Promotion vor. Dank seiner Beziehungen war mein Weg zum Doktor jur. nicht nur vorgezeichnet, denn vorausgesetzt, dass ich ordentliche Leistungen zeigen würde, hatte er mir gegenüber stets betont, auch außergewöhnlich kurzfristig erreichbar. Das hatte er wohl vor der Ypernschlacht meinem Vater versprochen. Ich verbrachte nahezu jede freie Stunde mit Doktor Grünbaum und ließ mich unterrichten. Bis ich Carola kennenlernte. Seit dem Moment verlebte ich diese Freizeit möglichst mit ihr. Wir saßen überwiegend zwischen der Akademie der bildenden Künste und dem Albertinum auf unserer Bank, von der aus wir zur Elbe schauen und die vorübergehenden Leute beobachten konnten. Dort verzehrten wir häufig Carolas mitgebrachte Fettbemmen gemeinsam. Ich konnte nur sehr selten etwas dazu beisteuern. Bei Mutter und mir war meist Schmalhans Küchenmeister.
Aber am 9. Dezember 1924, ich kann mich noch heute an diesen Dienstag erinnern, hatte ich bei einem der drei überreich bestückten Marktstände der größten Stollenbäckerei der Stadt, auf dem Striezelmarkt, zwei Stück Christstollen geklaut und Carola mächtig stolz vorgelegt. Wir saßen wie immer auf unserer Bank, fütterten die Spatzen und uns selbst gegenseitig mit dem köstlichen Kuchen und waren schrecklich verliebt. Carola hatte sich dabei zum ersten Mal von mir küssen lassen und ich war glücklich wie ein Prinz nach Hause gekommen. Mutter hatte die im Geflecht der Wollhandschuhe verhakten Kuchenkrümel natürlich sofort entdeckt. Erst als ich den Mantel auszog, bemerkte ich selbst die verräterischen Spuren. Niemals vorher hatte ich Essen nicht mit Mutter geteilt, und nun schämte ich mich dafür. Sie schaute mich nicht mal vorwurfsvoll an, sondern bat mich, in die Küche zu kommen, weil der Haferbrei gleich fertig wäre.
Haferbrei! Und ich hatte Christstollen gehabt, ohne ihr wenigstens ein kleines Stück mitzubringen. Sie fragte mich nicht nach dem Ursprung der Krümel. Sie sprach überhaupt nicht, sondern schaute nur hungrig auf den Tisch. Bis auf die Teller mit dem Brei war der Tisch leer. Wir löffelten schweigend.
Nachdem ich zu Bett gegangen war, hörte ich sie eine Weile in der Küche hantieren. An Einschlafen war nicht zu denken, einesteils wegen der Gedanken an Carola, andernteils wegen meines schlechten Gewissens Mammele gegenüber. Ich wälzte mich hin und her und das Bett knarzte scheltend in die dunkle Stille. Es klopfte. Mutter trat nie in mein Zimmer, ohne vorher anzuklopfen.
»Jankele? Schläfst schon?«
»Nein, Mammele.« Sie öffnete die Tür, Licht fiel durch den Spalt ins Zimmer und ich setzte mich im Bett auf.
»Wir müssen reden, Jankele.« Sie setzte sich neben mich auf die Bettkante. »Ich hab es seit Längerem vermutet, du warst in Gedanken oft sehr weit weg. Es ist nicht schlimm, wenn dir ein Mädchen gut gefällt, schließlich bist alt genug. Bloß, wenn du dein Essen mit einer anderen Frau teilst, ist es ernster, als ich gedacht hatte. Womit hast du das bezahlt?«
»Bezahlt ist nicht ganz richtig, genau genommen habe ich mir den Kuchen sozusagen geborgt. Ach Mammele, morgen werde ich versuchen, einen Kuchen für dich zu bekommen, ja? Für dich ganz allein.«
»Oh weh, Jankele, so was will ich nicht. Was würde deine Schickse dazu sagen?«
»Sie ist keine ... nein! Sie ist furchtbar nett und heißt Carola. Sie ist wunderschön und das Beste, sie liebt mich sogar. Glaube ich zumindest.« Ich strahlte Mutter an.
»Das tue ich auch. Gehört sie zu uns?«
»Ja, Mammele, sie ist wie ich in Dresden geboren.« Ihr Gesichtsausdruck veranlasste mich, nicht weiter vor Freude zu strahlen. Irgendetwas schien nicht zu stimmen.
»Das meine ich nicht, Jankele. Ich möchte wissen, ob sie zu uns gehört.«
»Ach so. Nein, sie ist nicht Jüdin, aber das stört mich nicht im Geringsten. Das ist mir egal. Ich liebe sie.« Vorsichtshalber sagte ich dies mit Nachdruck. Mutter senkte den Blick, schaute seitlich zu Boden und seufzte.
»Es wiederholt sich anscheinend wohl wirklich alles. Als ich deinen Vater kennenlernte, war er etwa so alt wie du. Meine Eltern fanden schnell heraus, dass er ein Goijm war, ein Ungläubiger, und sie haben mich fast ein ganzes Jahr vor ihm weggesperrt, er hat trotz allem nicht lockergelassen. Das hat meine Eltern schließlich sehr beeindruckt. Obwohl Juden nicht missionieren, nährten sie die leise Hoffnung, er würde meinetwegen konvertieren. Denn wer unserem Glauben aus Überzeugung beitreten möchte, darf es tun und wird als ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde anerkannt sein. Diese Hoffnung wurde nicht erfüllt, denn dein Vater liebte den Kaiser, nicht die Kirche. Weil er mich liebte, akzeptierte er meinen Glauben, allerdings unter der Voraussetzung, dass wir unsere Kinder nicht orthodox, sondern traditionell erziehen würden. Dass du nach jüdischer Sitte am achten Tag beschnitten worden bist, hat er mir zuliebe zugelassen. Weiß deine Claudia, dass du beschnitten bist?«
»Mammele! Also weißt du! Außerdem heißt sie Carola. Es wäre lieb von dir, wenn du dir das merken könntest. Und über die Sache haben wir noch nicht geredet. Das finde ich auch nicht übermäßig wichtig. Viel wichtiger fände ich, ob ich sie einmal zu uns einladen darf? Ich würde sie gerne mitbringen und dir vorstellen, Mammele.«
Sie schwieg lange, als hätte sie mich nicht gehört. Dann sprach sie ganz leise: »Ja, Jankele, sag ihr, dass ich sie recht herzlich einlade, um sie kennenzulernen. Verhindern kann ich es ohnehin nicht. Und wenn ich bald sterbe, wird es besser sein, dass eine Frau für dich sorgt. Ich werde sie mir genau anschauen. Aber nicht mehr in diesem Jahr. Dein Vater ist nun seit zehn Jahren tot, ich werde es mit ihm besprechen und dann mag sie kommen.«
»Gut, Mammele, im Januar stelle ich sie dir vor.«
Am 10. Januar war es dann endlich so weit. Mammele hatte entschieden, dass Carola uns an diesem Samstag besuchen sollte. Ich bat Carola darum und sie stimmte mit einem skeptischen Seufzer zu, unter der Bedingung, dass ich ebenso ihr Zuhause besuchen sollte. Ich versprach es für die darauffolgende Woche.
Am Freitag hatte Mutter, wie jeden Freitag zur Feier des Sabbats, zwei Kerzen angezündet. Sie strich mit den Händen erst über die Flamme, dann über ihre Augen und sprach den Segensspruch. Seit ich denken konnte, hatte sie diese Handlung niemals versäumt. Wir verbrachten den ganzen Freitag in stillem Gedenken, obwohl ich zugeben muss, dass ich ausschließlich an Carola und ihren Besuch am morgigen Samstag dachte.
Abends gingen wir in die Synagoge. Anschließend besuchten wir, wie meistens zum Sabbat, Familie Grünbaum und dort wurde der Segen über Brot und Wein gesprochen, der Dank für das tägliche Essen und Trinken. Nur durch diese Besuche wurden wir wenigstens am Sabbat regelmäßig satt. Obwohl ich stets hungrig war, konnte ich an diesem Abend vor Aufregung kaum richtig essen. Ich fühlte mich von den Anwesenden ständig beobachtet, besonders vom Doktor. Dass ich seit mehreren Wochen nicht mehr regelmäßig zu ihm gekommen war, hatte er glücklicherweise verschwiegen. Allerdings schaute er mich manchmal überaus eindringlich an und ich nahm mir vor, ihm am Montag alles zu erzählen.
Den ganzen Samstagmorgen suchte ich nach einer Gelegenheit, etwas Geld zu verdienen, um zum Kaffee etwas Besonderes zu essen zu organisieren. Am Hauptbahnhof schleppte ich für jeweils einen Sechser Koffer, bis mich die Dienstleute davonjagten. Dann überlegte ich mir, dass ich vielleicht am Dampferlandeplatz unterhalb der Brühlschen Terrasse den Gästen der Ausflugsdampfer über den Steg helfen könnte, aber wegen der kalten Jahreszeit fuhren keine Dampfer und somit erwies sich dieses Vorhaben als sinnlos. Enttäuscht wanderte ich völlig gedankenverloren am Elbufer bis zur Albertbrücke entlang. Von dort aus bog ich zur Stadt hin ein und spazierte durch die Sachsenallee, am Elisaplatz vorbei, ging die Gerokstraße lang in Richtung Trinitatis-Friedhof. Dort auf dem Friedhof lagen die Großeltern, die über einen Goijm, einen Ungläubigen als Schwiegersohn zunächst wenig erbaut gewesen waren, wie Mammele mir erzählt hatte. Ich wollte ihnen von Carola erzählen; vielleicht wüssten sie Rat. Ich spürte eine Hand an der Schulter, die mich stehen bleiben ließ.
»Wo drückt denn der Schuh?«, hörte ich Doktor Grünbaum sagen. »Deine Sorgen scheinen ja recht umfangreich zu sein, wenn du sogar dein Studium unterbrichst, Jakob. Bist du nicht mehr an der Jura interessiert? Ich wollte gestern nicht nachfragen, um deine Mutter nicht zu beunruhigen. Können wir reden, oder bist du in Eile?«
»Ich wollte zum Friedhof, die Großeltern besuchen und um Rat bitten.«
»Na, gehen wir gemeinsam, Jakob. Und wer weiß, vielleicht kann dir dein greiser Kollege ein wenig helfen.«
»Welcher Kollege?«
»Ich, mein Junge.«
»Herr Doktor.«
»Du bist zwar jung, Jakob, trotzdem hast du im letzten Jahr mehr gelernt als so mancher meiner Studenten in sechs Semestern. Du bist meines Erachtens sehr intelligent und bisher warst du sehr fleißig. Nur zurzeit bist du irgendwie abgelenkt.«
»Ich bin verliebt, Herr Doktor.«
Er legte mir seinen schweren Arm über die Schultern und atmete hörbar aus.
»Nur verliebt? Gott sei Dank, ich hatte nämlich befürchtet, du hättest die Lust an deiner Ausbildung verloren.«
»Nein, Carola hat leider nur nachmittags Zeit für mich und ich kann mich ja nicht teilen.«
»Nun, dann kommst du eben danach zum Studieren zu mir.«
»Ginge das wirklich? Das wäre wunderbar, Herr Doktor.«
»Abgemacht, Jakob. Noch eine Frage. Weiß deine Mutter von dem Mädchen?«
»Ja, Herr Doktor. Carola wird uns heute zum ersten Mal besuchen. Ich bin schon ganz aufgeregt, und vor allem muss ich etwas zu futtern besorgen. Mir ist da nämlich kurz vor Weihnachten ein Malheur passiert.« Ich erzählte ihm von dem Christstollen-Fauxpas.
»Du kannst doch nicht stehlen, Jakob! Das geht in der Tat zu weit, so etwas möchte ich von dir niemals mehr erfahren müssen. Du kannst arbeiten und Geld verdienen und sonst kannst du dir eben keinen Kuchen leisten. Man stelle sich nur vor, ein Doktor iuris prudentia, der stiehlt!« Er regte sich zusehends auf.
»Ich bin ja kein Doktor, Herr Doktor.«
»Noch nicht. Aber du bist mein Protegé. Und wenn man dich beim Stehlen erwischt, wirst du kein Doktor mehr werden, da könnten wir uns auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln.«
»Ich habe ja heute Arbeit gesucht, um etwas Kuchen oder so kaufen zu können. Bedauerlicherweise finde ich keine.«
»Ach, dein Besuch. Trotzdem. Also gut, wir wollen in der kommenden Woche schauen, ob wir eine Möglichkeit finden, dass du etwas Geld verdienst. Nun, damit du heute glänzen kannst, gewähre ich dir einen Kredit. Sofern du nicht wieder zu stehlen gedenkst, gleich, in welcher Situation du steckst! Zinslos, wohlgemerkt.« Er zog eine Brieftasche aus dem Rock, förderte daraus eine 5-Reichsmark-Banknote zutage und reichte sie mir. »Über die Rückzahlung werden wir in der kommenden Woche verhandeln, Jakob. Und nun geh zum Bäcker und kauf etwas Leckeres.« Er drückte mir den Schein in die Hand. »Halt, erst redest du mit deinen Großeltern! Grüße sie von mir, Jakob.«
Am Grab erzählte ich von Carola und von dem Wunder des Doktor Grünbaum. Mein Besuch dort verlief eher etwas unruhig, weil ich es nun plötzlich ungeheuer eilig hatte. Den zweiten Stein legte ich sogar etwas unvorsichtig auf dem Grabmal ab, beinahe wäre er heruntergekollert. Dann rannte ich zum Friedhof hinaus und in Richtung Altstadt. Unbedingt wollte ich zunächst den geklauten Stollen bezahlen und dann mal sehen, was ich für ein ganz besonderes Gebäck für Carola und Mutter bekommen könnte.
Vor der Bäckerei musste ich erst ein wenig verschnaufen, um nicht atemlos einzutreten. Vor mir wurde gerade eine Kundin bedient, sodass ich die angebotenen Kuchen genau studieren konnte. Eine Stimme weckte mich aus den Überlegungen.
»Bitte schön, was darf es sein?«
Ich blickte auf, schaute die Verkäuferin an und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Es handelte sich um dieselbe Verkäuferin, die auf dem Striezelmarkt vor Weihnachten am Stand bedient hatte, wo ich den Viertel Stollen geborgt hatte. Sie verzog keine Miene.
Ich wollte unbedingt abwarten, bis die andere Kundin den Laden verlassen haben würde, so sehr schämte ich mich. Aber es half nichts, die kaufte den halben Laden leer.
»Nun, junger Mann?«, fragte die Verkäuferin diesmal fordernd.
»Ich möchte zwei Stück Christstollen bezahlen.« Ich verschluckte mich beinahe an meinen Worten. Die Verkäuferin betrachtete mich eindringlich.
»Wie bitte?«
Dämliche Ziege, dachte ich und wiederholte mein Ansinnen.
Die Verkäuferin vor mir schien in sich zu zerfließen. »So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert«, flüsterte sie. »Ich habe dich sofort erkannt und mich über deine bodenlose Unverschämtheit schon geärgert. Und jetzt das?«
»Was gibt es denn?«, fragte ihre Kollegin.
»Nichts. Das geht nur den jungen Mann und mich etwas an.« Selten vorher hatte mir jemand so forschend in die Augen gesehen und ich fühlte mich mies und immer mickriger werden.
»Es tut mir leid, es war eine Notsituation«, versuchte ich zu erklären.
»Sprich nicht weiter, mach den Eindruck nicht mit einer Lüge zunichte. Wichtig ist nur, dass du gekommen bist. Die siebzig Pfennig hatte ich von meinem Verdienst bezahlen müssen - und es war verdammt kalt gewesen, dort zu stehen. Aber dafür wird mir nun umso wärmer, das wiegt den Ärger zehnmal wieder auf.«
Ich reichte ihr den Fünfmarkschein. »Habe ich heute als Kredit bekommen.«
Sie gab mir das Wechselgeld heraus und schüttelte unentwegt leicht den Kopf.
»Zwei Stück Kuchen hätte ich gerne, für Carola und Mutter.«
»Wir hätten gerade Bienenstich im Angebot, drei Stück für fünfzig Pfennig.«
»Au ja, die nehm ich gerne. Was kostet etwas Pulver für drei Tassen echten Kaffee? Carola besucht uns heute das erste Mal und echter Kaffee, das wäre was, oder?«
»Das wird die Wucht in Tüten. Vier Löffel Kaffeemehl - hat bisher noch niemand verlangt«, lachte sie und löffelte das braune Mehl in eine kleine Tüte. »Na, das reicht dicke. Ist für eine halbe Mark, einverstanden? Gut. Hast du jemals Kaffee gekocht?«
»Nein.«
»Man schüttet das Mehl in eine Kanne, gießt so vier oder fünf Tassen kochendes Wasser auf, dann umrühren und die Kanne auf der Platte stehen lassen, bis sich das Mehl gesetzt hat; Kaffee ist nämlich ein Faulpelz, der darf sich setzen. Tee muss ziehen.«
Sie packte die Kuchen sorgfältig ein, schaute mich an und steckte vorsichtig drei Mohrenköpfe in eine Tüte. »Die lege ich dazu. Als kleines Dankeschön, macht eine Mark und siebzig Pfennig.«
Mutter schaute die Kuchen und Mohrenköpfe missmutig an. Beim Anblick des Kaffees wechselte ihre Gesichtsfarbe zu kalkweiß.
»Für mich brauchst du keinen Kaffee und keinen Kuchen zu klauen.«
»Ich weiß, dass du mir diesen Tag verderben möchtest, aber mach dir nur keine Sorgen, es ist alles bezahlt. Ebenso wie der Stollen, den ich vor drei Wochen mit Carola geteilt habe, was dich ja anscheinend bis heute ärgert«, gab ich bissig zurück.
»Ah, mein Herr Sohn ist Millionär geworden.«
»Nein, ich habe von Herrn Doktor Grünbaum einen Kredit bekommen, damit wir mal etwas Anständiges auf dem Tisch haben. Was willst du Carola denn gleich anbieten? Haferschleim?«
Weinend schoss Mutter aus der Küche und tat mir sogar leid. Aber nur weil sie auf mein Mädchen eifersüchtig war, konnte ich nicht versprechen, auf ewig hier zu Hause mit ihr Händchen zu halten und an früher zu denken. In dem Moment empfand ich erstmals intensiv den Wunsch, endlich einmal für mich allein zu sein.
Mutter hatte wohl gehofft, dass ich ihr, wie sonst nach jedem Zwist, tröstend folgen würde, diesmal wollte ich eine Grenze zwischen unsere beiden Leben ziehen und blieb in der Küche sitzen.
Mutter kehrte zurück und ich bemerkte, dass sie eine frische Schürze angelegt hatte. Offensichtlich ein Friedensangebot mit dem Zeichen, dass sie den Besuch zumindest freundlich empfangen wollte.
»Soll ich den Kaffee vorbereiten, wenn du sie abholst?«
»Ja gerne. Du verstehst sicherlich mehr davon als ich.«
Wir vollführten ein unverfängliches Wortgeplänkel miteinander, bis ihre Augen wieder feucht glänzten und sie sich zum Herd wandte. »Ich will gar nicht weinen, mein Junge. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dich zu verlieren. Ich war noch nicht so weit.«
»Warum verlierst du mich, Mutter. Ich bleibe immer dein Sohn. Daran ändert sich nichts.«
»Das ist richtig, aber wenn eine junge Frau den Sohn einer älteren Mutter bezaubert, bleibt für diese lediglich Erinnerung und gutmütiges Mitleid über. Väter haben es da einfacher, die können sich noch lange an der hübschen Schwiegertochter erfreuen. Kann ich nur hoffen, dass bald Enkelkinder kommen, damit ich wieder etwas wichtiger werde. Ist schon vorbei, Jankele. Verzeih deiner dummen alten Mutter und hol die junge Braut ab.«
An diesem Samstag begann es ungewöhnlich früh zu dämmern. Um halb vier Uhr war ich mit Carola an unserer Bank verabredet und das Licht im Westen trübte sich langsam dunkel. Carola trug ihr Sonntagskleid, von dem sie mir zwar erzählt hatte, welches ich jedoch nie an ihr gesehen hatte. Sie wirkte viel erwachsener als ich. Der Hut schien eher für einen Sommerabend geeignet, und er verstärkte diesen Eindruck. Während des Weges hielten wir uns an den Händen und Carolas fühlte sich eiskalt an. Ich öffnete die Haustür und ließ ihr den Vortritt. Im Flur blieb sie stehen.
»Bisher hatte ich mir diesen Moment stets ausgemalt und freute mich sogar darauf. Nun möchte ich am liebsten fortlaufen.«
»Nanu, Carola, willst du denn wirklich den frischen Bienenstich im Stich lassen?«
»Bienenstich? Den esse ich für mein Leben gern. Ich bleibe hier. Weißt du, Jakob, wir nehmen gerade in Geschichte Fürst Leopold I. von Anhalt-Dessau durch, ›der Alte Dessauer‹.«
»Was hat der alte Knabe mit uns zu tun?«
»Na, ich ziehe doch sozusagen in die Schlacht gegen deine Mutter, deswegen muss ich an ihn denken.«
»Schlacht? Welch ein Blödsinn.« Solchen Unfug hatte Carola sonst nie von sich gegeben.
»Der Alte hatte vor irgendeiner Schlacht mal gesagt ›Lieber Gott, du brauchst mir nich zu helfen - aber dann hilf dem ...« Sie flüsterte mir ein Wort ins Ohr. »... da drüben aber ooch nich!‹«
Ich wäre vor Lachen fast umgefallen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht zum Lachen war.
»Carola! Du bist unmöglich.«
»Wieso?« Sie schmollte ein wenig. »Ich habe das schließlich nicht gesagt.«
»Wenn das Mutter hört, fällt sie in Ohnmacht.«
»Siehst du, also doch eine Schlacht.«
Ich schob Carola beinahe in unsere Wohnung. Mutter rief aus der Küche. »Kommt rein, Kinder, ich koche gerade Kaffee!« In der Küche leuchteten auf dem Tisch die beiden Sabbatkerzen.
»Mutter, das ist Carola Tening. Carola, das ist meine Mammele.«
»Guten Tag, Frau Löwenthal. Vielen Dank für die Einladung.«
»Guten Tag, Carola. Jakob hat mir viel von dir erzählt.« Das war eine Lüge, klang allerdings recht nett. »Du bist sogar hübscher, als er gesagt hat.« Das war jetzt eine Gemeinheit, zumindest war das Eis gebrochen. Carola betrachtete den Tisch mit dem Kuchen und den Mohrenköpfen. Mutter hatte das gute Geschirr ausgelegt. Die Kerzen flackerten leicht.
»Kerzenlicht am Samstag«, sprach Carola mit glänzenden Augen. »Das ist so wunderbar romantisch. So was gibt’s bei uns nur zu Weihnachten.«
»Seit ich denken kann«, erklärte ich Carola, »haben wir Freitag und Samstag ausschließlich Kerzen brennen. Setz dich, Carola.«
»Die Kerzen gehören zu unserem Glauben, Carola.« Mutter trat zu uns an den Tisch und nahm die Schürze ab. »Der Kaffee muss sich erst ein wenig setzen.«
»Zu Ihrem Glauben?« Carola schaute mich an.
»Ja«, entgegnete Mutter. »Wir sind jüdischen Glaubens! Hat Jankele das nicht gesagt?«
Womm, dachte ich. Mit dem Holzhammer voll rein. Gleich zu Beginn. Also doch eine Schlacht, befürchtete ich. Hundsfott hatte der ›Alte Dessauer‹ gesagt, hatte Carola unten im Flur mir ins Ohr geflüstert. Hundsfott, dachte ich und schaute Mutter an.
»Nein«, unterbrach Carola meine Gedanken. »Jakob hat mir davon nichts erzählt. Ich weiß gar nicht so richtig, was es bedeutet, Jude zu sein. Ich dachte stets, das wären die bärtigen Männer in den langen schwarzen Mänteln, die immer so nachdenklich miteinander reden und so lustige Löckchen tragen. Kriegst du solche auch? Das fände ich süß, einen Bart hingegen mag ich nicht, das kratzt.«
»Die Löckchen nennt man Peijes«, dozierte ich. »Die könnte ich mir wachsen lassen, aber für einen Rechtsanwalt, der ich sein werde, passt das eher weniger. Doktor Grünbaum ist der gleichen Ansicht. Und einen Bart mag ich selber nicht, der juckt.«
Carola schaute sehnsüchtig auf den Bienenstich. Wir verteilten die Kuchen und Carola aß mit sichtlichem Genuss. Mutter nur langsam, uns stets beobachtend. Ich bekam keinen Bissen hinunter, sondern bot mich an, den Kaffee einzuschenken. Nachdem Carola ihr Stück Bienenstich aufgegessen hatte, bot ich ihr meines als Zugabe an. Sie zögerte.
»Nanu, mein Herr Sohn ist satt? Sehr sonderbar, oder könnte es sein, dass du von der Liebe satt bist?«
Der Gipfel! Chuzpe, Jakob, sagte ich mir.
»Ja, Mammele, ich glaube, du hast recht. Ich war noch nie verliebt und nie so froh. Ich freue mich so sehr, dass du hier bist, Carola, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll.«
»Also weißt du, Jakob«, beschwerte sich Carola und blickte scheu zu Mutter.
»Nein wirklich. Eigentlich habe ich ununterbrochen Hunger. Als ich ein kleiner Junge war, mit sieben Jahren, war der große Krieg und wir hatten nur wenig zu essen, weil es nicht viel gab. Danach gab es beinahe überhaupt nichts mehr und wir futterten, was immer zu ergattern war. Wenn du wüsstest, was man aus Kartoffelschalen alles an Gerichten herstellen kann, was, Mammele? Bis heute hungern Mutter und ich um die Wette. Deshalb wundert sie sich so, dass ich satt bin. Wir sind zwar Juden, aber äußerst hungrige und das bedeutet, dass wir auch Sachen essen, die orthodoxe Juden an und für sich nicht essen dürfen. Schwein zum Beispiel. Hast du schon mal Schweinehaxe mit Sauerkraut gegessen, Carola? Nein, nicht? Das Beste, was es gibt, sage ich dir. Ein Student vom Doktor Grünbaum hat mir mal eine Portion geschenkt, ein Tscheche. Was war das für eine Gabe Gottes, was, Mammele? Eine große Schweinshaxe auf Kraut ...«

15.

»Selbstverständlich, Carola. Erst eine Brettljause mit einer Maß Eigenbräu und nachher eine große Schweinshaxe auf Kraut, das ist das Beste, was ich mir denken kann. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«
»Stani!«, ruft die pausbäckige Wirtsfrau mit dem Scheuerlappen in der Hand, im Gasthof am Ortsrand von Hof, laut über ihre Schulter hinweg. »Komm her, du fauler Zwickel, da san Gäste.« Dann scheuert sie weiter.
Durch eine Schwingtür tritt ein kräftiger junger Mann von höchstens dreißig Jahren in den Gastraum. Er kaut mit dicken Backen und nickt uns zu.
»Servus beieinand.«
»Guten Tag.«
»Aha, Preußen. Seid’s aus dem Osten?«
»Ja. Nein. Wir kommen aus Dresden.«
»Oha!«, murmelt der Mann, kneift ein Auge zu und kratzt sich umständlich den Nacken. »Sauber!«
Die Kniende stützt sich auf den Scheuerlappen. »Der Stani sagt, dass in Dresden alles im Oarsch sein soll?«
»Das ist sehr vornehm ausgedrückt«, bestätigt Carola.
»Und du hast immer behauptet, dass die lügen täten.« Der junge Mann stemmt die Hände in die Hüften und schaut die Kniende herausfordernd an.
»Wer lügt? Wir?«, möchte ich wissen.
»Ach was, Sie doch nicht. Wir meinen ... dös tut hier nix zur Sache. Dös ist eine Angelegenheit zwischen uns, was, Mutter?«
»Du sollst net Mutta zu mir sagen. I bin net deine Mutta! Hast wenigstens wieder zurückgestellt?«
»Freilich. Dös versteht sich ja von selbst, dös musst du net jedes Mal fragen, dös ist klar.« Er schaut freundschaftlich lächelnd. »Aus Dresden san Sie, hat man in den letzten Tagen so einiges im Radio gehört. Dös muss ganz schön schlimm gewesen sein?«
»Im Radio?«, staune ich. »Darüber ist berichtet worden? Das wundert mich. Ach so, wahrscheinlich hat man den heldenhaften Kampf der Luftwaffe begeistert beschrieben und einen ganzen Haufen abgeschossener Flugzeuge bejubelt. Stimmt nicht im Geringsten, war nicht ein einziger Abfangjäger in der Luft und nur ganz vereinzelt hat mal hier und da die Flak einen Schuss abgegeben. Wir sind drei Tage lang nur zwischen Leichen und Trümmern hin und her gelaufen. Dresden gibt es eigentlich nicht mehr. Na, wir sind es ja selber schuld.«
Die beiden schauen sich betreten an. »Sie sollten net so reden. Wir san zwar sauber, aber es gibt genügend Leute, die so etwas nicht hören mögen. Hm. Wozu sich jetzt dös Maul verbrennen? Stimmt’s?«
»Leider ja und Gott sei Dank nein«, sage ich.
»Wie meint der des?«, stutzt die Kniende.
Das Gesicht des Mannes erhellt sich. »Ach so! Also dös haben Sie richtig schön gesagt. Trotz allem sollten wir den Glauben an den sicheren Sieg net verlieren, net wahr?«
Da steht sie, die eisige Wand der Angst zwischen den Menschen. Bloß kein falsches Wort äußern, so etwas kostet leicht das Leben. Wenn ich ein Denunziant wäre, hätte der Mann sich schon sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Ich genauso, denn er ist schließlich hier zu Hause, ich nicht. Warum kann ich denn nicht meinen Mund halten, wenn jemand freundlich zu mir ist? Sieht man ja niemandem an, ob er ein Verräter ist. Und die beiden sind mir sehr sympathisch, was allerdings nichts heißt.
»Tja«, mischt sich Carola ein, »den Sieg wird der erringen, der ihn verdient, hat doch unser Propagandaminister verkündet. So wird es kommen.«
Wir schweigen, das Band der Sympathie ist brutal durch die Furcht vor dem Verrat zerrissen. Schade, denke ich.
»Wird wohl besser sein, wenn wir gehen. Auf Wiedersehen.«
Wir nicken den beiden Wirten zu und kehren zur Tür um.
»Nun warten Sie mal«, meint der Mann. »Wir kennen uns net, Sie schwingen gefährliche Reden und kehren uns dann beleidigt den Rücken, wenn wir net mittun. Woher sollen wir wissen, was Sie vorhaben? Gesundes Misstrauen verlängert dös Leben. Bleiben Sie hier, ich mach Ihnen eine Jause. Döss Sie hungrig san, sieht ein Blinder.«
»Ja, das stimmt. Und durstig.« Wir stellen uns an die Theke.
»Na also, trinken wir einen Begrüßungsschnaps. Einen echten Obstler, selbst gebrannt und dazu eine Maß Eigenbräu, net dies rationierte Dünnbier dös wo grad üblich ist. Einverstanden?«
»Ja, gerne. Danke schön.« Mein Versuch, freundlich zu lächeln, misslingt. Mir kommt eine Idee. »Wir sind einfach friedliche Bürger, aus Dresden hinausgebombt und auf dem Weg zu Verwandten nach Hof. Hier, schauen Sie.« Ich klappe den Kragen meines Mantels auf, damit der Mann sehen kann, dass ich den Parteiknopf auch nicht verdeckt trage. »Gestatten Sie, Ermine und Kurt Anders. Wir sind auf dem Weg nach München, nach Hause. Ich bin Schauspieler am Staatstheater in Dresden. Na ja, ich war’s, als es das noch gab. Ist mittlerweile zerstört.«
»Angenehm, mein Name ist Stani Mayr. Mayr mit Ypsilon und vier Buchstaben. Und dös ist die Lisa, gell, Mutter?«
»I bin net deine Mutta, du ... des mit dene vier Buchstaben passt scho auf dich.«
Plötzlich schwingt Sympathie im Raum. Stani Mayr lacht und gießt den klaren Obstschnaps aus einer durchsichtigen Flasche ohne Etikett in vier kleine Becher aus bemaltem Porzellan und dann dunkles schäumendes Bier aus einem Siphon in zwei Bierseidel. Die schiebt er mit den Bechern zu uns.
»Sehr zum Wohle«, wünscht er, ergreift einen Becher und kippt ihn auf einen Satz mit zurückgelegtem Kopf.
»Gleichfalls, Herr Mayr.«
»Net Herr Mayr. Ich bin der Stani für meine Freunde.« Er füllt seinen Becher erneut.
Das geht verdammt schnell mit der Freundschaft, wundere ich mich und schweige.
»Ist das eine Abkürzung für Stanislaus?«, will Carola wissen.
»Nein. Meine Mutter war eine Verehrerin von Richard Wagner. Deswegen hat sie mich Tristan getauft. Ausgerechnet. Dös war zum närrisch werden, in der Schule haben’s mich andauernd gezwiebelt mit dem Namen. Bei Stani lacht keiner. Hier, Mutter, dein Obstler. Komm, Mutter, trink einen mit uns.«
»Wie oft soll ich dir sogn, dass ich net deine Mutta bin! Rotzbuab!« Sie schimpft mit böser Miene, aber die Augen betrachten den Mann sehr liebevoll. Er nickt. »Genau. Zum Wohl.«
Wir trinken den würzig duftenden Schnaps und ich glaube zu platzen. Das ist kein Schnaps, das muss reine Salzsäure sein! Ich spüle mit dem Bier nach und mag gar nicht mehr aufhören zu schlucken.
Carola schnauft lediglich. »Der ist wirklich stark.« Sie spült allerdings gleichfalls mit dem Eigenbräu nach.
»Natürlich, habe ich selbst gebrannt. Ich hab doch gesagt, es ist ein echter. Noch einen?«
»Später vielleicht«, huste ich.
»Siehst, Mutter, die Preußen wissen net, was gut ist. Ja, ich weiß, ich weiß, du bist net meine Mutter. Ich sag dös so gerne, weil du dich darüber aufregst und dann gefällst du mir noch ein bisschen besser. Ach Lisa, für mich bist wie eine Mutter, sonst wäre ich bestimmt schon lang an der Front verreckt.« Er küsst die plumpe Frau ungeniert auf den Mund. »Sie ist mit dem Oberbazi im Ort sozusagen intim bekannt, deswegen hat der mir eine u.k.-Arbeitsstelle vermittelt. Ich darf hierbleiben und hab Narrenfreiheit. Und wenn Frieden ist, wird geheiratet, was, Mutter? Dös dauert nicht mehr lang.«
»Wie meinen Sie das?«, frage ich.
»Na, hören’s kein Radio?«
»Nein, wir sind ausgebombt und haben gar kein Radio«, antworte ich.
»Mayr, halt die Goschen«, schimpft Lisa.
»Na, wieso denn? Die Wunderwaffen werden dafür sorgen, döss es schnell geht, oder was meinen Sie, Herr Anders?«
»Bei mir dann bitte auch nicht Herr, sondern Kurt. Das ist meine Ermine. Ich habe keine Ahnung vom Kriegspielen.«
»Wenn es mal bloß ein Spiel wäre. Setzt euch an den Tisch. Ich mach flink die Jause und dann erzählt’s ihr von Dresden. Mal sehen, ob die übertrieben haben.«
»Wer soll übertrieben haben?«, hakt Carola nach.
»Halt die Goschen, Saubuab!«, ruft die Wirtin. »Du bringst mich bald ins Grab!«
»Später. Erst kommt der Frieden, dann wird geheiratet, damit der Gasthof auch mir gehört und dann reden wir übers Grab. Hockt euch, ich bring die Krüge, will sie nur rasch voll machen.«
Er stellt die Maßkrüge auf dem Tisch ab.
»Er ist ein verrückter Kerl, aber i mog ihn«, meint Lisa, setzt sich zu uns und schaut ihm nach, während er in die Küche verschwindet. »Wenn der die Jause bringt, fallt’s net gleich um. Wenn der Stani isst, dann frisst er. Und wenn er danach trinkt, dann säuft er. Besser wäre, ihr bleibt die Nacht hier. Wenn der Geschichten erzählt oder erzählt bekommt, find er kein Ende nicht. Und nachher gibt’s ja das Kraut mit die Haxn. Das Zimmer kostet euch nix, dafür müsst ihr von Dresden erzählen. I hob eine Bildkarte mit der Weibskirchen drauf.«
Wir schauen uns an. Was für ein Ding? Sie reicht uns eine Fotokarte der Frauenkirche. »Ach so, die Frauenkirche.«
»Genau. Frauenkirche. Die schaut aus, als wärn nur Madonnen drin. Jesses-Maria, da drin möcht ich gerne mal beten, ’s wär zum narrisch wern!«
»Die gibt es leider nicht mehr.«
Lisas Blick kehrt aus weiter Ferne zurück und fällt auf ihre bereits zum Gebet gefalteten Hände. »Gibt’s nimmer?«
»Nein. Die ganze Altstadt ist in Trümmern. Die Frauenkirche und alles andere.«
»Stani sagt, dass Dresden fei eine schöne Stadt is; und nu is alles hin?« Lisa erhebt sich schwer vom Stuhl, holt die Flasche mit dem Obstler und die Becher, gießt sich einen mit dem Schnaps voll und kippt ihn auf einen Zug. »Und i bin schuld an allem.« Die Augen glänzen feucht.
»Wieso sind Sie schuld, Lisa?«
»Na, weil i den Hitler gewählt hob. Der hot mir gut gefalln und man konnt eahm verstehen, wenn er sprach. All die andern ham so ‘nen brutalen Dialekt! Und nun geht wegen eahm alles zum Teifi.« Sie kippt den nächsten Schnaps. »Wenn man’s bloß geahnt hätte.«
Stani erscheint mit einem Laib Brot, Schmalz, Wurst und Schinken auf einem Tablett gehäuft. Dazu Salz, Senf und saure Gurken. Besonders die Blutwurst fällt mir auf - sonderbar, ich muss automatisch an Dresden denken.
»Nun haut mal schön rein. Habt’s ihr Bier? Noch nix getrunken? Schmeckt euch mein Bier nicht?«
Pflichtschuldig trinken wir, der Stani leert seinen Krug auf einen Zug, füllt den Krug und trinkt auch diesen gleich aus. Der Mensch muss irgendwo ein Loch haben oder schüttet der sich das Bier in ein Holzbein? Er schneidet die Wurstscheiben fingerdick. Während wir essen und trinken, redet Stani beinahe ununterbrochen. Von den lausigen Zeiten, vom Krieg, von seiner Angst, im letzten Augenblick getötet zu werden.
»Vielleicht wäre es besser, wenn man nicht so derbe auf das Regime schimpfen würde.« Irgendetwas lässt mich dauernd aufstoßen.
»Trink nicht so viel«, beschwört mich Carola.
»Jawoll, darauf noch einen. Prost. Vorsichtig ist gut«, mühe ich mich. »Was denn, wenn ich ein verkappter Dezu ... Denjuz ... ein Verräter wäre? Oder Carola?«
»Welche Carola?«
Ich küsse sie auf die Wange. »Die hier.«
»Ach lass das, ist ja eklig«, wischt sie ärgerlich meinen Kuss ab. »Kann der Trunkenbold vielleicht einen Kaffee haben, damit er nüchtern wird? Oder sollen wir ihn direkt ins Bett bringen?«
Stani steht vom Tisch auf. »Ich hab etwas viel Besseres.« Er verschwindet in der Küche und kehrt nach wenigen Augenblicken zurück. »Nimm die, dann bist du in ein paar Minuten in Ordnung.« Er drückt mir eine kleine bräunliche Tablette in die Hand. »In den Mund damit und mit einem Schnaps runterspülen.«
»Was issn das?«, will ich wissen. Das Ding sieht aus wie eine Linse, wie man sie in den Eintopf gibt. Nur etwas größer.
»Ist ein hervorragendes Mittel gegen Besäufnisschwäche. Kriege ich von Lisas Intimus, dem Sepp, unserem Oberbazi, habe ich doch von erzählt. Nun schluck schon runter. Ist in geringen Mengen völlig ungefährlich.«
Fast wäre mir das Ding aus der Hand gerutscht, aber dann ist’s geschluckt. Mir bleibt genauso schwindlig wie vorher. Ich lege den Kopf auf die Tischplatte und höre alles um mich herum wie durch einen Schleier festen Nebels.
»Wird er ohnmächtig?«, fragt Carola von ganz weither.
»Nein, er döst.« Stanis Stimme wirkt beruhigend.
Ich trudel in einem Strudel aus Pastellfarben und wirbel immer schneller durch bunte Phantasmagorien; Dresdens Trümmer setzen sich wieder zusammen, Bombenflugzeuge stürzen zu Tausenden in die Elbe und versinken; Bruno Bierlos steht hinter einer kostbar verzierten Bartheke, winkt mir, zu ihm zu kommen und ruft dauernd: ›Doktor! Kommen Sie, wir trinken einen!‹ Ein neuer Strudel spielt mir ein Kaleidoskop voller Bilder vor: 20. Juli 1944, eine unendliche Kolonne Menschen marschiert vorbei - jeder mit dem verhassten Stern auf der Brust, sie lachen und scheinen sich zu feiern, wie die Sportler beim Einmarsch einer Olympiade; 1930, meinen 23. Geburtstag feiere ich mit Carola in Cannes an unserem Lieblingstisch im gerade neu eröffneten ›Majestic‹ und betrachte die Croisette; 1922, im Hochsommer, liege ich im Heuschober beim ersten Liebesabenteuer mit Carmelita; 2. Februar 1913, ich bin fast sechs Jahre alt und will unbedingt Schaffner werden, weil die Zeitungsjungen die Nachricht über die Eröffnung des größten Bahnhofs der Welt, die ›Grand Central Station‹ in New York ausrufen. Die Farben verschwimmen in dünnes Grau.
Ich schlage die Augen auf und finde mich mit dem Kopf auf einem Tisch liegend wieder. Drei Gesichter betrachten mich. Mit einem Mal erinnere ich mich und schnelle in eine aufrechte Sitzposition. Mein Schädel platzt gleich.
»Ojweh«, atme ich vorsichtig aus. »Habe ich mich danebenbenommen? In meinem Kopf summen Mai- und Junikäfer um die Wette. Und einen Mordshunger habe ich. Und Durst.«
»Du hast Hunger?« Carola starrt mich beinahe fassungslos an. »Und Durst? Ich habe den Eindruck, dass du bereits mehr als genug getrunken hast.«
»Kann gar nicht sein, ich fühle mich wie ausgetrocknet.« Ich erinnere mich. »Was war denn das für eine sonderliche Medizin, Stani?«
»Prima Mittel, werden die Großkopferten auch sofort klar von im Kopf.«
»Wenn das so ist, leuchtet mir so manches ein. Mir brummt der Schädel und der Magen knurrt.«
»Du kannst unmöglich Hunger haben. Nach der Jause?«, fragt Carola.
»Ich könnte einen ganzen Ochsen fressen. Hattet ihr nicht vorhin etwas von einer Haxe und Kraut erzählt?«
»Sollst alles haben. Allerdings muss ich dich warnen, manchmal wird einem dann erst richtig schlecht.«
»Das ist mir egal. Ich habe Hunger. Wenn ich gegessen habe, sehen wir weiter. Mir war schon mein halbes Leben lang schlecht, weil ich zu wenig gegessen habe. Dann werde ich jetzt eben mal ausprobieren, wie es sein wird, wenn ich zu viel gefuttert habe. Und ein Bier bitte.« Ich trinke meinen Seidel leer und kippe einen Obstler drauf. Soll mal einer wagen, mich zurückzuhalten.
»Meinetwegen. Sonst noch jemand? Niemand? Na dann eben nicht. Komm, Mutter, machen wir zwei Portionen zurecht. Ich hab auch Appetit auf eine Haxe.«
Sie brummelt irgendetwas, das wie ›Saubuab, Mutta, sakra‹ klingt und schuffelt hinter ihm her in die Küche.


16.

Wie ich ins Bett gekommen bin, wird mir für alle Zeit schleierhaft bleiben. Und wem der Schlafanzug gehört, den ich trage, weiß ich ebenfalls nicht, und erst recht nicht, wer ihn mir angezogen hat; vermutlich Carola. An das ziemlich zerkochte, würzig und gleichzeitig lieblich schmeckende Kraut und die knusprige Haxe kann ich mich gut erinnern. Ebenfalls an das eine oder andere Bier. Worüber wir geredet haben, liegt hinter einem trüben Schimmer meines Gedächtnisses. Nun liege ich im Bett und wie bei einem Ringelspiel dreht sich der ganze Raum mit dem Fenster, durch das der Mond hell scheint, immer schneller. Festhalten an der Bettdecke nützt nichts, deshalb stemme ich ein Bein außerhalb neben das Bett gegen den Fußboden, um die Drehung anzuhalten. Nie, schwöre ich mir, nie mehr werde ich einen Tropfen Alkohol anrühren. Unvermittelt muss ich an Marcel und Lydia denken. Hoffentlich sind die beiden in Sicherheit. Nachdem er uns mit dem Skoda aufgelesen hatte, reichte er uns zunächst eine Flasche Cognac, die wohl den Vorbesitzern des Skoda gehört hatte. Marcel hatte gesagt: ›L’acool tue lentenent. Alcool macht langsam tot.‹ Dann hatte er gelacht: ›Mais qu’importe, nous ne sommes pas pressés! Was soll’s, wir nischt ‘aben sehr eilig!‹ Dabei hatte er mir kräftig auf die Schulter geschlagen und einen mächtigen Schluck aus der Flasche getrunken. Hoffentlich sehen wir uns mal wieder - oh mein Kopf!
So ist es also, wenn man stirbt, denke ich und höre Carola neben mir ruhig und gleichmäßig atmen. So eine herzlose Gemeinheit von ihr, friedlich zu schlafen und womöglich angenehm zu träumen, während ich mich einem qualvollen Ende nähere. Am liebsten würde ich ja heulen, das mit dem Bein als Bremse nützt nämlich nichts, das Bett bleibt partout nicht stehen. Wenn ich länger liegend Karussell fahre ... Ich klopfe auf Carolas Decke. »Carola.«
Sie dreht sich von mir weg und schmatzt. »Hm?«
»Carola, ich muss zur Toilette!«
»Hmm.«
»Hast du nicht gehört? Ich muss mal.«
»Hmm. Dann geh.«
»Mir ist so schwindlig.«
Endlich dreht sie sich um und schaut mich mit einem Auge an.
»Warum musst du auch so viel Bier und Schnaps in dich reinschütten, wenn du es nicht verträgst?«
»Weil ich gehofft hatte, die Pillen vom Stani ...«
»Ja ja, es sind immer die anderen schuld. Und jetzt? Weswegen weckst du mich? Soll ich dich führen? Na gut, aber abhalten tu ich dich nicht. Das würde viel zu weit führen, du Trunkenbold.«
Carola hilft mir aufzustehen und als ich neben dem Bett stehe, trudelt alles um mich herum weiter im Kreis. »Ich habe das Gefühl zu platzen, Carola. Mir ist so schlecht!«
Sie hält mich am Arm fest und führt mich aus der Kammer bis zur Tür des Abortes.
»Das kommt vom Sauerkraut, obwohl genug Kümmel drin war. So, den Rest schaffst du ja wohl allein. Und mach das Fenster auf. Ich gehe zurück ins Bett. Sieh zu, wie du selbst wieder hinkommst. So etwas hast du noch nie gemacht. Früher warst du solide, erst seitdem du ein Arier bist, zeigst du dich ebenso zügellos. Man fasst es nicht.«
»Was ist da los?« Stani ist anscheinend erwacht.
»Jakob ist schlecht. Vom Bier und vom Schnaps. Und vom Kraut.«
Das war schändlich von Carola, mich bloßzustellen. Vor allem wo ich im Dunkeln auf einem fremden Örtchen sitze, dem Sterben geweiht mit zitternden Knien. Warum habe ich nur das Fenster geöffnet? Kalter Winter fällt auf mich herab. Der letzte Funke Leben weicht aus meinen Gliedern und mir wird geradezu prosaisch.
»Wer ist Jakob?«, höre ich Stani fragen. Stimmt, das war ein Fehler, meine Liebe.
»Ach, ich meine Kurt.«
»Jakob? Kurt? Sind da noch mehr Burschen in deiner Kammer? Wenn du willst, komm ich auch.«
»Du Hallodri, du Stutzer!«, höre ich jetzt Lisa schimpfen. »Gleich kimmst her und machst die Tür zu. Wegen dir kommen wir irgendwann in Teufels Küche!«
»Ich glaube, ich sollte dem Kurt helfen, net dass der auf dem Lokus selig wird.«
»Der kimmt allein klar. Geh, schleich dich her zu uns!«
Ich vernehme das dumpfe Geräusch einer sich schließenden Tür. Wieso uns, denke ich.
Ich erwache mit einem bisher nie gekannten Ölkopf und stelle fest, dass ich mich am Boden hockend neben einer Toilettenschüssel mit hochgeklapptem Sitz befinde. Ich zittere am ganzen Körper. Mein Blick fällt auf das geöffnete Fenster. Kommt mir so vor, als ob ich irgendwelche Glocken aus der Ferne schlagen höre. Zehn, elf, zwölf Schläge zähle ich automatisch mit. Aha, muss Mitternacht sein. Wegen des geöffneten Fensters friere ich mir noch meinen kleinen Jakob ab. Und mir ist saukalt, der Magen hebt sich ständig und mein Schädel dröhnt. Ob hier wohl irgendwo Pyramidon aufzutreiben ist? Wo bin ich überhaupt?, überlege ich angestrengt. Ach so, ja. Beim Stani auf dem Lokus. Ich suche den Boden um mich herum nach Verunreinigungen ab, aber offensichtlich habe ich Bier, Kraut und Obstler ordentlich in die Schüssel befördern können und war dann wohl im Hocken eingeschlafen. Ich stemme mich auf die Beine und öffne den Türriegel.
Der Flurboden schwankt wie ein Ozeandampfer. Das Fenster oder gar die Tür leise zu schließen kriege ich niemals hin, also lass ich sie lieber gleich offen stehen. Stani hat zwar versichert, dass wir die einzigen Gäste sind, aber er und Lisa brauchen ja schließlich ihren Schlaf, deswegen will ich auch möglichst still zurück zu Carola in unsere Kammer. Und die liegt hinter der dritten Tür links, wenn ich mich richtig erinnere. Ich stoße mich von dem Türrahmen des Abortes zum Flur hin ab, schaffe zwei beinahe sichere Schritte und taumel dann gegen die erste Tür rechts. Mit einem Krachen springt sie auf, ich stoße schmerzhaft gegen den Türgriff und schaue in den durch eine Tischlampe mäßig beleuchteten Raum. Um einen Tisch sitzen Stani, Lisa und ein mir unbekannter Mann und halten die Köpfe in die Nähe des Lautsprechers eines rechteckigen Radiogerätes, aus dem durch das Ätherrauschen das Geräusch einer Pauke leise dreimal erklingt und dann noch einmal mit etwas tieferem Ton zu hören ist. Dann wieder Rauschen und erneut die Pauke, nun klarer. Mir läuft eine Gänsehaut den Rücken hinab, das ist eindeutig das Morsezeichen, wie ich es in der Forststraße in Dresden geklopft hatte. Na so was, dann ein drittes Mal die Tonfolge: ›bamm-bamm-bamm - bumm!‹ Die drei Menschen am Tisch starren mich fassungslos an. Eine Stimme erklingt aus dem Apparat durch das Rauschen. »Hier ist England - hier ist England - hier ist England.« Das Kurzwellengezwitscher untermalt die Stimme. »Zunächst die Nachrichten in Schlagzeilen.«
Stani dreht wild am Knopf der Sendereinstellung, Lisa zieht den Kontakt aus der Dose und der fremde Mann zielt mit einer Pistole auf mich. Ein heißer Schlag trifft mich in der rechten Leiste, mein Kopf zuckt gegen den Türrahmen und ich rutsche zu Boden. Den Schuss habe ich nicht einmal gehört.
Liegend sehe ich, dass Stani dem Mann die Waffe aus der Hand schlägt. Lisa presst eine Faust vor den zum Schrei geöffneten Mund.
»Wer ist denn der Idiot?«, fragt der Fremde und bückt sich, um die Waffe aufzuheben, aber Stanis Fuß steht felsenfest darauf.
»Selber Idiot, lass die Pfoten von der Knarre. Ein harmloser Gast ist dös.«
»Harmlos. Von wegen. Wenn der erzählt, dass ich London höre, sind wir so gut wie tot. Der Kerl muss verschwinden. Hoffentlich verreckt der schnellstens. Ich befürchte nur, dass ich nicht anständig getroffen habe. Gib mir die ›Nullacht‹ wieder, damit ich das erledigen kann. Fällt keinem Aas auf, wenn der weg ist, los doch. Lisa, sag deinem Holzkopf, dass wir keine andere Chance haben. Gib mir die Waffe, Kerl!«
»Nix is, Sepp. Die Sauereien, die wo du draußen mochst, san mir wurscht, nur in meiner Hüttn wirst niemanden erschießen, vastehst! Außerdem hot er an Weib dabei.«
»Na und? Dann haben wir eben zwei Tote, meinst du, dafür interessiert sich jemand? Ich habe eine Stange Reservemunition dabei, das reicht für mehr als ein Dutzend Leichen. Willst du vielleicht wegen den Scheißern an den Galgen? Und was heißt hier überhaupt dein Haus? Der Gasthof gehört offiziell Lisa, oder? Und damit zum größten Teil ja wohl mir!« Er blickt fragend zu der Wirtin. »Wenn ich euch nicht in Schutz genommen hätte, wärt ihr längst nicht mehr! Und das alles nur, weil ich früher mal mit Lisa ...« Seinen Kasernenhofton unterbricht eine andere Frauenstimme.
»Da haben wir ja etwas gemeinsam, Lisa. Schau mal einer an, jetzt habe ich endlich mal Zeugen dafür, dass der Kerl schon öfter unter fremden Röcken gewildert hat. Da wird sich Tante Fanny richtig freuen, wenn sie das hört, nicht wahr, Onkel Joseph?«
Die Augen des Angesprochenen weiten sich enorm. »Carola?«
Carola hat mich offenbar nicht bemerkt. Nun schaut sie entsetzt zu mir hinab, dann wieder in den Raum.
»Was ist geschehen? Ich habe irgendetwas laut krachen gehört. Jakob, was ist los mit dir?« Dann entdeckt sie das Blut an der Schlafanzughose. »Um Himmels willen, was ist geschehen? Du bist verletzt?« Sie kniet neben mir und entwickelt ein wenig Hysterie. »Was steht ihr herum wie die Ölgötzen, helft ihm! Oh Gott, schnell, so tut doch irgendetwas!«
Ihr Blick fällt auf ihren Onkel Joseph, der vor Stani kniet und die Waffe unter dessen Fuß hervorzuholen versucht.
»Du hast auf Jakob geschossen? Bist du denn total verrückt geworden, du Scheißkerl?«
»Wie redest du mit mir, ich bin schließlich ...«
Carola winkt angewidert ab. »Was du bist, weiß jeder, der dich nur einmal gesehen hat. Wenn du nicht unverzüglich dafür sorgst, dass mein Mann in ein Krankenhaus kommt, wirst du mich kennenlernen!«
»Dein Mann? Das ist dein Mann? Soweit ich mich entsinne, ist dein Mann Jude?« Er schaut zu mir herunter, die Lider zu schmalen Schlitzen verengt. »Ach so ist das. Ich werde auch gerade einem stinkigen Juden helfen! Arische Gasthöfe sind für Juden strengstens verboten! Das reicht fürs KZ. Und du wanderst gleich mit, Carola! Du wirst mich jetzt mal kennenlernen! Mit euch werden wir ganz schnell fertig!« So leicht ist der Mann nicht zu beeindrucken.
Carola tritt einen Schritt in den Raum hinein und blickt auf den Radioapparat.
»Ich verstehe. Mitternacht. Der linientreue Parteigenosse Joseph Schreiner hört BBC. Da wird sich dein Führer freuen. Wenn ich mich recht erinnere, steht auf das Hören von Feindsendern ebenfalls die Todesstrafe.« Sie lächelt mit eiskalter Miene.
»Dann wollen wir mal sehen, wem man mehr glaubt, einem Israel Löwenthal und seiner in Rassenschande lebende Ehehure oder einem verdienten volksdeutschen Ehrenmann? Los, Stani, gib mir die ›Nullacht‹. Ich werde das hier alles erledigen. Sei doch nicht verrückt. Wenn du auf mich hörst, kann ich uns aus allem raushalten, wir müssen nur das Maul halten! Sei vernünftig, Menschenskind!«
Stani schaut zu mir hinab. »Vielleicht hast du recht, Sepp.« Er bückt sich, nimmt die Waffe unter seinem Schuh in die Hand und hält die Mündung der Pistole auf mich gerichtet.
»Prima, Stani!«, jubelt Carolas Onkel. »Knall des Judenschwein ab, dann ist alles gut!«
Stani blickt zu Boden und gleichsam ins Nichts. Dann hebt er den Kopf und schaut mir geradewegs in die Augen.
»Nix wird gut. Mir können dös nie mehr wiedergutmachen, was mir da angerichtet ham mit der beschissenen Hitlerei. Mir san allweil selbst schuld, weil mir mitgemacht ham, mir alle, weil mir net auf die braunen Geschaftlhubers eingedroschen haben, döss die Fetzen fliegen als noch Zeit dazu war. Besoffen waren mir vom Geschrei und dann sind mir immer schweigsamer geworden. Nix ham mir uns mehr zum sagen getraut. Waren ja auch all die Männer fort beim Kriegspielen. Nur ein paar ganz alte haben sich ab und zu eine Maß einschenken lassen, wenn sie vom Hilfsdienst kamen.« Er lachte. »Und seit Neuestem müssen sogar die Frauen und Mädchen einrücken - Volkssturm, döss ich net lach. Die Knochen der alten Deppen machen ja mehr Radau als ihre Flinten, mit denen sie dös verfluchte Reich retten sollen. Ich hab von allem die Nase gestrichen voll, besonders seit ich London höre. Hätten besser gleich auf die gehört. Und jetzt kriegen mir die Hucke voll. Verdient haben mir’s. Immer kräftig rein in die großen Schnauzen! Aber Leute wie du kriegen ja nie genug. Willst immer noch den Helden spielen. Nur die Konsequenzen dafür zu tragen, dös ist euch unangenehm. Den Kopf sollen fei schön andere hinhalten!«
»Weshalb sprichst du so zu mir?«, frage ich Stani.
Der winkt ab und blickt über die Schulter zu Carolas Onkel. »Fragen kann der stellen.«
Der Oberbazi schiebt mit der Hand eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. »Na, beinahe hätte ich ja gedacht, du meinst mich, Mensch.« Er schüttelt den Kopf.
In einer einzigen blitzschnellen Bewegung hebt Stani die Waffe, zielt und schießt das restliche Magazin in den bis zuletzt zuckenden Körper des Joseph Schreiner.
Lisa fällt ohnmächtig zu Boden.
Pulverqualm wabert durch den Raum. Stani überzeugt sich vom Tod des Mannes, dann tritt er zu Lisa. »Komm, Lisa. Komm wieder zu dir.« Er fächelt ihr mit der Hand Luft zu.
Mit einem Zucken erwacht sie. »Ist er tot?«, fragt sie zögernd.
»Ja. Verzeih mir, ich konnte net anders.«
Sie schaut Stani zärtlich an. »Um den is net schad, aber was nun?«
»Zunächst müssen wir uns um Kurt kümmern.« Er kommt zu uns, Carola streichelt unentwegt meine Hand. »Tut es sehr weh?«, fragt er und betrachtet die Wunde.
»Man kann es aushalten.«
»Wollen mir mal schaun, ob mir net einen Wagen organisieren können, um dich ins Krankenhaus kriegen?«
»Nein, Stani. Nicht in ein Krankenhaus. Auf gar keinen Fall. Dann hätte der Sepp mich gleich erschießen können. Jetzt guck mich nicht so an, als ob ich blödsinnig wäre.« Der schaut mich nämlich genau so an. Wir sehen uns in die Augen.
»Schmarrn. Weswegen denn net in eine Klinik? Du musst behandelt werden. Die Schusswunde können wir erklären, immerhin ist Krieg. Ihr habt doch erzählt, döss ihr einen gültigen Reisepass habt, wo ist da das Problem? Ob du nun Jakob oder Kurt heißt oder sonst wie. Dös interessiert net besonders.«
»Unser Pass ist in Ordnung, darin liegt keine große Gefahr. Das Problem liegt darin, dass ich nackt sein werde, wenn die mich untersuchen.«
»Ja und? Meinst du, die ham noch nie einen nackten Mann gesehen?«
»Doch, natürlich. Aber ich bin nicht so wie die anderen. Du hast ja gehört, wie der«, ich zeige auf den Toten, »mich vorhin bezeichnet hat.«
»Nona, dös habe ich sehr wohl mitbekommen. Mein Gott, wenn du net gerade ›Jude‹ auf der Haut eintätowiert trägst, verstehe ich deine Skrupel nicht. Der wird dich nie mehr so nennen und außer uns hat’s niemand gehört. Meinst du vielleicht, dös ahnt irgendjemand?«
»Nein, ich bin allerdings beschnitten, du Hammel!«
Stani verzieht leicht die Mundwinkel. »Ach so. Habe ich net gewusst. Ich bin ein wenig nervös, Mann. Ist schließlich das erste Mal, döss ich einen Menschen erschossen habe.«
»Mensch finde ich übertrieben«, wirft Carola ein, »war ohnehin nur ein Nazi, ein ekliges Subjekt.«
»Den Eindruck hab ich selbst scho längst g’habt, trotzdem vielen Dank für deine Freundlichkeit, aber kotzen könnt ich doch. Egal. Was machen mir denn jetzt mit Kurt?«
Lisa steht nun neben uns. »Ich könnt mit dem Radl zum Doktor Berthold fahrn und fragen, ob er mal nach’m Roserl schaun tät. Und wenn er kimmt, zeigen mir ihm den Kurt.«
»Lisa, das ist eine saugute Idee. Mach das. Inzwischen schaff ich den Sepp fort. Nachher stellt der Doktor nur lästige Fragen. Kommt ihr beiden Mädel, helft mir den Sepp auf den Ast zu kriegen.«
Nach einiger gemeinsamer Mühe der drei hängt der Tote über Stanis Schulter, wie eine Schweinehälfte über der eines Metzgers.
»Wer ist Roserl?«, will ich wissen.
»Unsere Sau. Die Roserl schenkt uns die Ferkelchen.«
»Ach so, ein Schwein? Und dieser Doktor Berthold ist ein Freund?«
»Sozusagen. Ja. Er ist unser Viehdoktor. War er zumindest früher mal. Er ist absolut vertrauenswürdig und verschwiegen. Er darf eigentlich net mehr praktizieren und tut dös nur noch streng heimlich bei Freunden und ausschließlich gegen Selbstgebrannten. Dem ist egal, welcher Rasse du entstammst.«
»Ich verstehe. Weil gerade jeder Herrenmensch zu mir Judensau sagt, muss mich ja selbstverständlich ein Viehdoktor untersuchen. Oh weh.«
»Nix oh weh, der ist ein prima Viehdoktor, er hat dem Roserl schon mehrmals beim Ferkeln geholfen.«
»Beim Ferkeln? Ah ja. Na, da freu ich mich aber.«
»Genau, außerdem hot der sämtliche Herrenmenschen gefressen, die sogenannten«, grinst Stani mich an und verlässt, Carolas Nazionkel auf der Schulter, den Raum. Lisa folgt ihm, um Roserls privaten Viehdoktor zu holen.
»Jakob?« Carola hockt sich neben mich. Sie schaut mich an, als hätte sie die elende Kugel im Unterleib stecken. »Willst du wirklich einen Viehdoktor an dir herumfummeln lassen?«
»Na ja, was heißt, ob ich will? Die verehrten Jünger des Hippokrates dieser großartigen Nation werden mir ja wohl kaum helfen wollen. Schließlich sind die Herrschaften über alle Maßen mit der Wiederherstellung der großdeutschen Wehrhaftigkeit beschäftigt. Für die zählt ein einzelner Verwundeter lausig wenig. Ich schätze, dass die in ganz erheblich anderen Dimensionen rechnen. Da vertrau ich tatsächlich lieber einem Viehdoktor, dem das Reich am Arsch vorbeigeht.«
»Jakob! Ich mag es nicht, wenn du so redest.«
»Gut. Sag ich es eben anders. Mir hat ein Oberbonze eine Kugel in die rechte Hüfte geschossen, weil ich ihn beim Hören eines Feindsenders überrascht habe. Was meinst du, was die anderen Gesellen mit mir machen, wenn die rauskriegen, dass ich das von einem der ihren weiß. Allein, wenn man mich nun wegen der Verwundung untersucht und feststellt, dass ich beschnitten bin? Dann werden die Herrschaften mich um- und umstülpen. Die Gestapo benutzt nicht gerade Samthandschuhe bei den Befragungen. Dann wird man auch mit dir nicht gerade zimperlich umgehen.«
»Wieso mit mir?«
»Weil du ja vielleicht etwas über mich weißt, oder der Stani oder Lisa. Mit der Verwundung falle ich auf wie ein ... wie ein ... weiß ich jetzt auch nicht so genau. Aber ich weiß, dass ich damit auffalle, wenngleich ich nicht die geringste Ahnung habe, wie es weitergehen soll. Tja. Zunächst kommt erst mal der Arzt vom Roserl und schaut nach mir. Beinahe hätte ich fast ›nach mir Schwein‹ gesagt, dann schaun mer mal, wie man hier sagt.«
»Fragt sich nur, ob wir genügend Zeit haben werden, mal zu schaun. Ich kann mir nicht gut vorstellen, hierzubleiben! Glaubst du nicht, dass die anderen Kerle in ihrer kopflosen Borniertheit ziemlich schnell nach ihrem geliebten Führer im Ort suchen werden? Und wo werden sie ihn jetzt, wo alles zusammenbricht, wohl zuallererst suchen? Wahrscheinlich hier, wo er mit der Lisa verbandelt ist ... oder war. Vielleicht hat er sogar vor diesem oder jenem Bonzen damit geprahlt, London zu hören, um sich rechtzeitig absetzen zu können. Der Stani mag ja meinetwegen glauben, dass keine Menschenseele davon je gehört haben wird, aber ich glaube nicht an Märchen. Irgendein anderer wird wissen, was Onkel Joseph getrieben hat und dies erzählen, um den eigenen Kopf zu retten. Wird von diesem Ort erzählen. Und dann stell dir vor, du liegst mit einer Schussverletzung in einem dieser Zimmer und man wird dich befragen! Du hast gerade selbst davon gesprochen, was dies bedeutet.«
»Und was soll ich tun? Zurück nach Dresden humpeln? Und mich heute«, ich bin mir nicht sicher, »haben wir nicht heute zufällig Freitag? Ja? Mich heute, am Sabbat, zum Vergasen melden? Gehorsamst noch dazu?«
Carola holt mit einer Hand aus, als wolle sie mich schlagen. »Eben nicht melden. Keine Meldung, keine Papiere, kein gar nix. In diesem Land gibt es für dich nur einen einzigen sicheren Ort. Wir müssen dich zu Tante Fanny bringen.«
»Tante Fanny? Biste meschugge? Ins Haus von dem Kerl?«
»Natürlich. Einen besseren Ort gibt es im ganzen Land nicht. Du bist schwer verletzt und brauchst unbedingt einen Arzt, der die Kugel aus deinem Körper schneidet. Das kann der Viehdoktor erledigen, und danach brauchst du dringend ein bisschen Ruhe. Um das festzustellen, muss ich nicht erst Medizin studieren. Für die Rekonvaleszenz werde ich sorgen! Bei Tante Fanny wirst du am sichersten aufgehoben sein, glaube mir. Mittendrin im Löwenbräu ... äh Löwenbau des Herrn Obermistkerls am Ort. Wo würde die Löwenbande seine Beute wohl weniger suchen als in der eigenen Höhle?«
»Du willst mich ernsthaft bei der Witwe des Gauheinis Joseph Schreiner sozusagen in Quarantäne einweisen?«
»Dass sie Witwe ist, weiß sie ja bisher nicht.«
»Richtig.« Ich muss vor Schmerzen den Atem anhalten. »Was ist, wenn sie keine Semiten mag?«
»Wir werden nicht als Ehepaar auftreten, sondern als befreundete Flüchtlinge aus Dresden. Jakob Löwenthal ist bei den Angriffen verschollen. Du bist im Besitz eines arischen Passes. Und immer, wenn du so tust, als wärst du Schauspieler am Dresdner Staatstheater, lassen die Kerle dich laufen. Nun tu mal weiter so. Dir wird zunächst einmal wahrscheinlich nicht viel geschehen. Und ich nehme einfach meinen eigenen Pass aus dem Schuh und bin dann sofort wieder die Frau meines im Dresdener Inferno umgekommenen jüdischen Ehemannes, die bei einer Verwandten bester arischer Gesinnung um völkische Hilfe bittet. Was rede ich hier eigentlich für einen Stuss? Na egal. Wo war ich? Ach ja, kein Aas wird so ohne Weiteres eine eheliche Verbindung zwischen uns konstruieren können. Und wenn der Schweinedoktor dir die Kugel aus dem Leib geschnitten hat, verschwinden wir und fahren zu Tante Fanny.«
Klingt alles ganz einfach. Fast zu einfach.


17.

»Wohin hast du die Leiche gebracht?«, möchte Carola von Stani wissen. Er hält eine Flasche und zwei Gläser in der Hand.
»Dein Onkel Sepp is an einem sicheren Platzerl.« Stani lacht breit.
»Was meinst du mit sicherem Platz? Hast du ihn vergraben?«
»Na net, viel zu viel Arbeit. Für die Gäste der Schankstube gibt es koan modernen Abort. Aber im Hof steht dös Häuserl mit die Grubn. Da isser drin. Ich habe ein bissl gerührt, von dem sauberen Herrn is nix mehr zum sehen. Morgen kimmt eine Schicht Kalk drüber und Feierabend is!«
»Und wenn man ihn sucht?«
»Da gewiss net. Dös Radio kimmt gleich dazu.«
»Weswegen?«, empöre ich mich sofort. »Das Gerät ist nagelneu. Das hat bestimmt acht Röhren, wenn nicht mehr! So ein modernes Radio ist sündteuer. Ich hätte wer weiß was drum gegeben, wenn wir solch einen Apparat mal hätten haben können.«
Stani neigt leicht den Kopf. »Du bist wirklich eigenartig, Kurt oder Jakob oder wie auch immer. In dieser Situation machst du dir Gedanken über den Wert von dös Scheißradio. Ich weiß net genau, wie und was man anhand von dem Apparat rauskriagn kann, und ich will’s gor net wissen. Dös Ding kimmt weg und ich hob niemals nix davon gewusst. Wie soll ich erklären, wo ich dös herhaben tu? Mir san ja keine so reichen Leut, die wo sich solch ein Möbel leisten könnten. Dös ist ein Ding für die Großkopferten. Stell dir vor, die SS sucht nach dem Oberbazi am Ort, weil der futsch ist und ich besitze urplötzlich so ein Gerät und kann net belegen, wo ich es herhob. Die Kerls bitten net lang, sondern langen sofort kräftig hin. Da gibt man glatt Sachen zu, an die host vorher niemals gedacht. Nein, mein Lieber, dös Risiko geh ich net ein.«
Carola streichelt weiterhin meine Hand. »Lass den Geiz, er hat recht. Ich werde nun zu Tante Fanny fahren.«
Stani schaut sie an. »Soll dös heißen, du willst weg?«
»Ja, ich will versuchen, für uns ein unverdächtiges Quartier zu organisieren.«
»San mir denn verdächtig?« Stani scheint fassungslos zu sein.
»Nein«, antworte ich. »Aber es wird besser sein. Denn sollte man hier in den nächsten Tagen nach dem verschwundenen Joseph Schreiner suchen, erinnert ihr euch nur an einen Gast, der behauptet hat, während eines Luftangriffes verletzt worden zu sein und blutete. Ihr habt den Menschen verbunden und eine Nacht ausruhen lassen. Im Meldebuch findet sich der Name Kurt Anders aus München auf dem Heimweg nach Hause. Diese Angaben stimmen. Sobald ich morgen früh verschwunden bin, solltest du die amtliche Gästemeldung abgeben. Und sonst wisst ihr von überhaupt nichts. Die Geschichte habt ihr geglaubt und selbstlos einem Volksgenossen geholfen, der nun weitergereist ist. Kann euch niemand an den Karren fahren. Sobald der Viehdoktor mich versorgt hat, verschwinde ich.« Weshalb ist der nur so enttäuscht? Soll froh sein, wenn wir weg sind.
»Seid’s narrisch?!«, ruft Stani.
»Nona, blöd san mir.« Eine verschnupfte Stimme meldet sich hinter mir aus dem Flur. Der dazugehörige Körper im Wintermantel stapft leicht vornübergebeugt in die Kammer. »Ah, du hast die Medizin schon da heroben, Stani. Sauwetter deutsches«, grantelt der Mann in anthrazitfarbenem Mantel mit breitkrempigem Homburg auf dem Kopf und einer Arzttasche in der Hand. Er tritt zum Tisch, lässt die Tasche zu Boden plumpsen, ergreift die Obstlerflasche, entkorkt sie und trinkt einige kräftige Schlucke direkt daraus. »Die Gesundheit ist doch des Menschen höchstes Gut. Prost.« Er stellt die Flasche ab, wischt sich über den Mund und rülpst leicht. »Wo ist nun die Sau?«
»Die Sau hockt dort.« Stani zeigt auf mich.
Der Doktor schaut mich an. Seine Rosacea beherrscht das vom Schnapskonsum sehr eindrucksvoll geprägte Gesicht. Aber die Augen wirken seltsam nüchtern, vielleicht ernüchtert? »Da schau her. Wo fehlt’s uns denn?« Der Homburg landet auf dem Tisch und das gutmütige Trinkergesicht lächelt mir zu.
»Uns?«, frage ich. »Woher soll ich wissen, was Ihnen fehlt? Mir fehlt nichts, ich habe nur eine Kleinigkeit zu viel im Leib, eine ziemlich schmerzhafte Kugel.«
»Aggressiv noch und noch, aha. Wo ist denn ...«, sagt er und sucht offensichtlich die Flasche Obstler, die Stani ein wenig aus der Reichweite des Mannes hinter den Radioapparat gestellt hat. »Eine Kugel, aha. Halb so schlimm in unserer kämpferischen Zeit; ich muss mich trotzdem erst ein wenig stärken. Gib mir die Flasche, Stani. Ich bin Medizinmann und brauche ein wenig Medizin.« Er trinkt einige kräftige Schlucke und tippt dann mit dem Flaschenboden gegen das Radio. »Teurer Kasten. Schafft spielend interessanteste Frequenzen, nicht wahr?« Er trinkt einen weiteren großen Schluck. »Kommt mein Volksempfänger nicht mit. Mein Schwager hat auch so einen Kasten; und bei dem habe ich mal ... na, wie soll ich sagen?« Noch ein Riesenschluck. »Habe ich mal eine Sendung gehört, in der Thomas Mann gefordert hat, dass jeder deutsche Soldat sich gefälligst gegen das Reich erheben muss! Hat leicht reden in Kalifornien, der Herr; von einem Wehrmachtsgefreiten Thomas Mann, der sich Befehlen mutig widersetzt, habe ich allerdings nie etwas gehört! Na, lassen wir das. Trink ich erst mal ein Schlückchen drauf. Wie steht es mit unserem Tausendjährigen Reich? Wollen wir hoffen, dass neunhundertneunundneunzig Jahre und zehn Monate davon um sind, was! Haha.« Er setzt schon wieder die Flasche an die fleischigen Lippen. Mich schüttelt es angesichts meines Katers. Dieser Mensch trinkt den Schnaps wie Wasser. »Na«, sagt er, sich den Mund abwischend, »wollen wir hoffen, dass uns die letzten paar Tage nicht den Kopf kosten. Wenn sich die Amis bloß ein wenig beeilen würden. Wo willst du denn mit dem Radio hin?«
Stani hat den rechteckigen Apparat nämlich vom Tisch genommen und trägt ihn nun vorm Bauch zur Tür. »Hm. Ist ein wenig kompliziert.«
»Lisa hat mir erzählt, was geschehen ist. Wenn du willst, nehme ich den Graetz zu mir. Man möchte doch wissen, wie es weitergeht. Die Alliierten brauchen sicher Ärzte, um hier klarzukommen. Möglicherweise auch mich. Wenn ich mir vorstelle, dass ich demnächst mit Bourbon bezahlt werde, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Brav, Stani, stell den Röhrenkasten hin. Und lass gefälligst die Medizinflasche in meiner Nähe. Wollen wir uns nun mal um den Patienten kümmern.« Er nickt mir zu. »Legen wir den Herrn erst mal auf den Tisch, zum untersuchen. Vorsichtig, Stani. Warte, ich räum den Kram weg. Ja, so geht’s. Nun strecken Sie sich mal aus. Tut weh, nicht wahr?«
»Das kann ich Ihnen sagen«, bestätige ich gepresst.
Vorsichtig streift der Mann meine Schlafhose von den Hüften und betrachtet die Wunde. Er öffnet seine Arzttasche, entnimmt ihr eine Flasche voll heller Flüssigkeit und einen weißen Stofflappen. Er benetzt den Lappen und säubert die Wunde. Das brennt aber heftig, du liebe Zeit.
»Halb so schlimm, das Ding sitzt nicht tief. Das haben wir ruck, zuck.« Er nimmt ein Etui aus der Tasche, öffnet es und hält ein Skalpell in der Hand. »Nun beißen Sie kräftig die Zähne zusammen, einen ganz kurzen Augenblick wird es nun ein bisschen mehr wehtun.«
»Um Himmels willen«, frage ich ihn entsetzt, »wollen Sie einfach so an mir herumschneiden? Ohne Betäubung?!«
Er hebt die Augenbrauen. »Ich bin Viehdoktor, wie man Ihnen sicherlich erzählt hat. Wir haben in diesem Land nicht einmal genügend Chloroform, um Menschen bei Operationen zu betäuben. Glauben Sie denn etwa, für Operationen an Tieren würde ich solch ein Mittel bekommen? Sie könnten den Obstler trinken, dann kriegen Sie nicht so viel mit. Obwohl es wenig nützen wird, denn die richtigen Schmerzen kommen sowieso hinterher. Es wäre zudem schade um den Obstler. Halt ihn einfach fest, Stani.«
»Und wenn wir’s wie beim Roserl machten?«, fragt Stani, indem er meine Arme wie Schraubstöcke umfasst. Der Doktor kratzt sich mit dem Skalpellgriff hinter dem Ohr und nickt zustimmend.
»Setz dich mal hin, Kurt«, verlangt Stani. »Ich habe ein prima Schlafmittel.«
Gott sei Dank, atme ich auf. Mit Stanis Hilfe gelingt es mir, aufrecht zu sitzen. Ich spüre, dass Stani sich hinter mir bewegt und bin gleichzeitig besinnungslos.
»Er kommt wieder zu sich«, höre ich Carolas Stimme wie durch Watte. Mein Kopf summt wie ein Bienenstock. Etwas Feuchtes berührt meine Stirn und ich schlage die Augen auf. Ich liege immer noch im selben Raum auf dem Tisch. Über mir schwebt Carolas Kopf verkehrt herum. Am Fußende steht Stani und zwinkert mir freundschaftlich zu.
»Was habt ihr mit mir gemacht? Ich fühle mich wie erschlagen.«
»Nun ja«, Stani grinst, »ich hab dir eins mit der Keule verpasst, damit du nix vom Herausschneiden der Kugel merken sollst. Warst auch ganz still.«
»Du hast mir auf den Schädel gehauen, damit es nicht so wehtut? Genialer Einfall. Wo ist denn der Viehdoktor?«
»Längst weg. Die ganze Sach hat kaum fünf Minuten gedauert. Ich sag’s ja, dös is an prima Viehdoktor. So, jetzt wolln mir mal sehn, wie mir dich nach unten bekommen.«
»Wieso nach unten?«
»Tante Fanny erwartet uns«, sagt Carola. »Sie hat einen Wagen für uns besorgt. Du wirst ja schlecht bis dort hinlaufen können.«


18.

Carola hat mir geholfen mich zu waschen und einen frischen Schlafanzug anzuziehen. Mich in das mit sauberer Wäsche bezogene Doppelbett hineinzulegen, hätte ich mich alleine nie getraut. Nun löffel ich, sitzend mit Kissen im Rücken gestützt, einen Teller Brühe, in welchem reichlich Leberknödel schwimmen. Und das am frühen Morgen. Fanny hatte darauf bestanden, erst mal was Anständiges zu essen, dann sollen wir ein wenig schlafen. Ich bin wirklich hundemüde.
»Wieso ist deine Tante so nett zu uns? Ich denke, ihr habt euch jahrelang nicht gesehen? Außerdem hat sie mich bei der Begrüßung Jakob genannt. Ich soll doch hier den Kurt Anders spielen, oder?«
»Ja, das war ein Versehen. Sie meint, das wird ihr nicht wieder passieren. Ich habe ihr vorhin in groben Zügen alles erzählt.«
»Alles? Auch, dass ihr Mann ...«
»Ja.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Ich hatte gedacht, das könne gar nicht wahr sein, so ruhig hat sie mir zugehört. Anscheinend wusste sie ganz genau von seinen diversen Ferkeleien. Wenn ich sie richtig verstanden habe, hat er damit sogar geprahlt. Deine Pistole habe ich Tante Fanny zum Aufbewahren gegeben. Sie darf als Frau OGL so was besitzen, hat sie beteuert.«
»Eine sehr gute Idee, Carola.«
Carola legt sich zu mir ins Bett, obwohl der Morgen dämmert. Plötzlich klopft jemand an die Zimmertür. Kann ja nur Tante Fanny sein. »Bitte?«
»Kurt, Carola? Hier sind zwei Herren von der Polizei, die euch zu sehen wünschen. Seid ihr angezogen?«
»Nein, wir liegen im Bett.«
Mit Gewalt wird die Tür geöffnet. Zwei Männer in Lodenmänteln treten ins Zimmer. Carola setzt sich neben mir auf und zieht die Bettdecke bis zum Hals.
»Sagen Sie mal, wie kommen Sie eigentlich dazu, hier so einfach einzudringen?«, beschwere ich mich mühsam.
Einer der Männer winkt gelangweilt ab. »Wissen Sie, wo Joseph Schreiner ist?«
»Nein«, antworten wir gleichzeitig. »Weswegen?«
»Wir stellen die Fragen. Wer sind Sie?«
»Das ist meine Nichte ...«
»Schnauze!«, herrscht einer der Herren Tante Fanny an und führt sie aus dem Zimmer. Dann schließt er von innen ab. Der andere fordert uns mittels einer Handbewegung auf, zu antworten.
»Ich bin tatsächlich die Nichte von Tante Fanny.«
Mit dem Kinn weist er auf mich.
»Mein Name ist Kurt Anders. Ich bin Schauspieler in Dresden. Wir kommen nämlich gerade von dort.«
Die beiden Männer schauen sich an. »Aus Dresden? Wann ...«
»Wir sind gestern hier eingetroffen. Dresden gibt es praktisch nicht mehr seit Dienstag. Die Schweine haben richtig Jagd auf uns gemacht.«
»Welche Schweine?«, fragt der Mann an der Tür.
»Na, Engländer und Amerikaner, an wen dachten Sie?«
»Habe von der Sauerei gehört. Zeigen Sie mal Ihre Papiere.«
Verdammt, nach welcher Geschichte sollen wir nun vorgehen? Entweder spielen wir das Ehepaar Anders, oder so wie wir es bei Stani besprochen hatten. Wenn die Kerle unser Gepäck kontrollieren, wird das eine wie das andere durchschaubar. Überhaupt war es eine blödsinnige Idee, ausgerechnet hierhin zu kommen. Was nur, wenn ich aufstehen muss? Die Schussverletzung kann ich zwar notfalls wirklich mit Tieffliegern begründen. Aber die Operation? Vor allem bin ich mir sicher, dass die Kerle alles aus mir herausprügeln werden. Ich bin kein Held.
Carola steht für mich aus dem Bett auf, nimmt den Reisepass aus der Manteltasche und reicht ihn dem einen Polizisten. Der blättert und beginnt sofort zu fragen. »Sie haben behauptet, aus München zu sein! Wieso wollen Sie denn dann aus Dresden hierher gekommen sein? Das ist reichlich sonderbar.«
»Gar nicht. Ich bin wie gesagt als Schauspieler am Staatstheater in Dresden engagiert. Aber das gibt es auch nicht mehr. Was soll ich dann dort? Auf die Russen warten?«
Der zweite Polizist kommt von der Tür in schnellen Schritten zum Bett. »Wie meinen Sie das?«
Mist! Verfluchter Idiot, schimpfe ich innerlich mit mir. Chuzpe, bitte, bitte Chuzpe! Irgendwas. Mir fällt komischerweise nur Bruno Bierlos ein, im Keller während des Angriffs vor Silvester. Also los. »Na, Sie machen mir vielleicht Spaß. Gauleiter Mutschmann hat mich persönlich gebeten, aus diesem Grund Dresden schnellstens zu verlassen.«
Die beiden Männer wirken überrascht. Und Carolas Blicke brennen auf meiner Wange.
»Wer?«
»Nun, unser Dresdener Gauleiter Martin Mutschmann. Sagen Sie bloß, von ihm haben Sie nie etwas gehört? Dieser großartige Mensch hat doch innigste Beziehungen zu Ihrem Frankenführer Streicher! Er war noch am Samstag nach der Vorstellung in meiner Garderobe und hat mich erneut vor den Russen gewarnt.«
Die beiden Beamten scheinen urplötzlich sehr beeindruckt zu sein. Ihr Ton klingt gleich viel freundlicher. »Sie sollten nicht so reden. Selbst ein Gauleiter nicht. Man könnte es im leichtesten Fall als Miesmache betrachten. Gut, entschuldigen Sie bitte die Störung. Auf Wiedersehen.«
Nichts wie weiter drauf! Jetzt schnauze ich einmal mit den Kerlen, wie die immer mit uns schnauzen. »In Deutschland wird ordentlich gegrüßt! Vielleicht sollte ich Herrn Ortsgruppenleiter Schreiner, wenn ich ihn sehe, vorschlagen, Sie beide ab sofort in Uniform zu stecken, damit Sie die Gelegenheit finden, sich im Kampfe auszuzeichnen. Sieg Heil!«
Sie erwidern den Gruß markig und verlassen den Raum. Die vergangenen paar Minuten habe ich meine Wunde überhaupt nicht gespürt. Dafür meldet sie sich nun umso kräftiger.
»Du entwickelst dich wahrlich zu einem Schauspieler«, bemerkt Carola. »Ich fürchtete schon, mein Herz bleibt stehen.«
»Tja.«
Es klopft erneut. Was ist denn nun?
Fanny fragt durch die Tür: »Darf ich reinkommen?«
»Sicher.«
Sie betritt das Zimmer.
»Sind sie weg?«, wollen wir beide wissen.
»Die sind beinahe weggelaufen und haben irgendetwas in der Art von ›Drecksau‹ gebruddelt. Was ist denn geschehen?«
Carola erzählt von meiner Dreistigkeit und Fanny lacht schließlich lauthals. »Das ist genau der richtige Ton, den diese Kerle verstehen. Bist du wirklich Jude? Kein Arier?«
Allein die Blödsinnigkeit der Formulierung ärgert mich. »Nicht mal Vegetarier. Was hat das damit zu tun?«
»Nun ja«, sagt sie, »ich habe bisher nie von einem solch frechen Juden gehört, deswegen frage ich.«
»Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr zu kuschen. Ob nun Jude, Moslem oder Christ ist doch nur eine religiöse Standpunktfrage. Meine Mutter war Jüdin und Vater Atheist. Das ist nun auch ein grundsätzliches Problem. Für die jüdische Auffassung ist nur Jude, wer eine jüdische Mutter hat, weil sie das Kind geboren hat. Denk an all die Vertreibungen oder an die unzähligen Vergewaltigungen von Frauen in den letzten Jahrtausenden. Vater könnte ja jeder sein. Aber selbst wenn der Vater katholisch oder evangelisch ist oder wer weiß was, wird das Kind einer jüdischen Mutter automatisch als jüdisch anerkannt. Ich nun wiederum lebe bloß noch, weil für die Nazis eben nur Jude ist, wer einen jüdischen Vater hat. Bei denen stehen halt die Männer im Vordergrund, Frauen sind ihnen wurscht. Mich würde stattdessen viel mehr interessieren, weshalb die beiden Kasperln hier waren?«
»Das kann ich dir erklären, Kurt. Ich habe Joseph als vermisst gemeldet. Er ist gestern nicht nach Hause gekommen, habe ich gesagt, und nun machte ich mir die größten Sorgen. Außerdem habe ich erzählt, dass seine guten Sachen nicht mehr im Schrank hängen und seine Papiere und das Sparbuch seien verschwunden. Man hatte mich gefragt, ob ich irgendwelche Vermutungen hätte. Ja, die hätte ich - mein Ehemann sei gewiss mit seiner Geliebten auf und davon, hab ich geantwortet. Im Handumdrehen haben die beiden Gestapoleute mich in ihr Auto gepackt und hierher gebracht. Die wollten das ganze Haus durchsuchen, da habe ich selbstverständlich sagen müssen, dass ich Besuch habe. Aber dein Auftritt, Kurt, hat die Herren gewiss zunächst einmal abgeschreckt.«
»Zunächst?«
»Wir müssen umgehend die Meldekarte ausfüllen und euch als Besuch bei mir anmelden. Dann müssen wir eure Reisemarken einlösen, damit die Geschichte glaubhaft erscheint. Der Reisepass ist doch hoffentlich wirklich in Ordnung?«
»Auf den ersten Blick ja. Was bei einer genauen Überprüfung herauskommt, bleibt natürlich fraglich.«
Carola macht sich umgehend auf, unsere Meldekarten auf den Namen Anders abzugeben. Ich läge mit einer außergewöhnlich starken fiebrigen Erkältung im Bett und würde mich nach der Genesung persönlich ausweisen, will sie erklären.
Die Schusswunde schmerzt an diesem Morgen entsetzlich. Selbst das Liegen erscheint mir unerträglich. Na ja, trotzdem geht es mir als Getroffenem wesentlich besser als dem Schützen. Fanny hat uns heute Vormittag, bevor Carola mit den Meldekarten losgegangen ist, ausführlich von seiner Gesinnung erzählt. Nach Fannys Worten liegt ihr Mann in der Grube nun vollkommen von dem Stoff bedeckt, der sich bislang reichlich in seinem Kopf befunden hat. Fanny hatte das allerdings ein wenig rauer formuliert. Sie hat Dinge über ihren Mann erzählt, die ich so schnell wie möglich vergessen möchte.
Ich bin noch in diese Gedanken versunken und erschrecke, als Carola mit bleichem Gesicht ins Zimmer stürzt, gefolgt von Fanny, die immer wieder laut protestiert. Den beiden aufgelösten Frauen folgen die beiden Gestapomänner von heute früh.
Ganz instinktiv weiß ich, die Reise ist zu Ende.

 

Fortsetzung am kommenden Wochenende!

 

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