Aleviten - Entwicklung und Glaubensvorstellung

Aleviten - Entwicklung und Glaubensvorstellung

Über den Ursprung des Alevitentums gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Theorien und Grundauffassungen. Eine Meinung tendiert dahin, dass es sich um eine Glaubensrichtung innerhalb der Schia (arab.: Partei, im Sinne der Partei Alis) handle.

Eine andere Ansicht vertritt die These, dass der Ursprung des Alevitentums eher vorislamisch sei, vielleicht gar in Mesopotamien liege und in der zoroastrischen Religion wurzelte.

Entstehungsgeschichte des Alevitentums

aleviten3Der wichtigste Entstehungsmythos für das Alevitentum ist die Schlacht von Kerbela am 10. Oktober 680, in der die als Schicksalsgemeinschaft konzipierte Gruppe erstmalig kollektiv Unrecht erfahren haben soll. Im Zuge der Nachfolgestreitigkeiten spaltete sich die islamische Urgemeinde in mehrere Gruppen. Die heute bekanntesten Gruppen waren die Schiiten und die Sunniten. Die Aleviten kann man weit gefasst in den schiitischen Kontext einbetten. Konkretisiert hat sich ihre Auffassung im 13. Jahrhundert aus der Verschmelzung der Schia in Gestalt der Verehrung von Ali ibn Abi Talib mit der mystischen Interpretation des Koran (Sufismus).

Diese Entwicklung wird vor allem auf Hadschi Baktasch Wali und weitere Geistliche zurückgeführt. Unter den Osmanen wurden die Aleviten als Häretiker verfolgt. Wegen der Unterdrückung und der bedrohten Lage der Aleviten unter anderen Muslimen kam es im Laufe der Zeit immer wieder zu blutigen Aufständen. Vom türkischen Staat werden sie bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt.

Lehre und Brauchtum der Aleviten

aleviten6Besonderes Merkmal der Glaubensvorstellung ist die ausgeprägte Verehrung für Ali ibn Abu Talib (daher auch die Ableitung der Bezeichnung Alevite) bzw. für die auch von den Schiiten verehrten zwölf Imame, die – bis auf den zwölften – allesamt ermordet wurden; der 12. lebte im Verborgenen weiter bis zu seiner Wiederkehr. Trotz dieser schiitisch geprägten Vorstellung gibt es doch wesentliche Unterschiede zu den Lehren der Schia, insbesondere in theologischen Auslegungen, etwa zur Gottes- und Glaubensvorstellung, sowie in der Ausübung des Glaubens.

Die Tradition vereint in gewissem Sinne die Schia mit Elementen aus den verschiedensten vorislamischen Religionen Mesopotamiens sowie aus dem Sufismus, der islamischen Mystik. Aleviten beten nicht in Moscheen und legen den Koran nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter den Offenbarungen. Sie leben nicht nach den „Fünf Säulen des Islam“, weil sie diese „Säulen“ als Äußerlichkeiten ansehen. Dem setzen sie ihre Mystik entgegen.

aleviten7Ein zentrales Element der Glaubensauffassung ist der in den Mittelpunkt gerückte Mensch. Die Aleviten gehen mit religiösen Vorschriften, die für orthodoxe Muslime als Pflicht und Voraussetzung gelten, dialektischer um. Nach ihrem Verständnis ist die Scharia bzw. die Oberfläche, das Offensichtliche, in der Religion überwunden, da die Mystik das Fundament bildet. Eine dogmatische Religionsauslegung wird abgelehnt; das Ritualgebet (Salat) wird nicht in der konventionellen Form der Schiiten oder Sunniten verrichtet. Außerhalb des alevitischen Gottesdienstes (Cem) benötigt man für das Gebet keinen speziellen Raum oder eine spezielle Zeit.

Der Glaube ist stark vom Humanismus und Universalismus bestimmt. Im Zentrum steht der Mensch als eigenverantwortliches Wesen in seinem Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist demgegenüber nebensächlich. Die Seele wird als unsterblich gesehen; sie strebt durch die Erleuchtung die Vollkommenheit mit Gott. Die Lehre beinhaltet ebenfalls relevante Elemente aus dem Zoroastrismus. „Rechtes Handeln, rechtes Denken, rechtes Sprechen“. Die vier heiligen Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft entstammen ebenfalls aus dieser Lehre.

Gottesdienst und Gebet

Der Gottesdienst, Cem genannt, findet in einem Cemevi (Versammlungshaus) statt. Es werden Texte rezitiert und rituell Semah getanzt, analog der sufistischen Tradition. Allerdings wird der Tanz, anders als bei den Sufis von Frauen und Männern gleichzeitig und gleichberechtigt ausgeführt. Der Semah ist ein wichtiger ritueller Tanz und gehört zu den 12 Pflichten in der Cem-Veranstaltung. Sein Sinn ist das Einswerden mit Gott und der Natur.

Glaubensvorstellungen

aleviten5Aleviten glauben, dass die heiligen Brüder Hızır und İlyas als Propheten gelebt und das so genannte „Wasser der Unsterblichkeit“ getrunken haben. Diesem Glauben zufolge kommen die Brüder Hilfsbedürftigen zu Hilfe. Sie würden für diejenigen bereit sein und sie retten, die in Not geraten sind und „aus tiefem Herzen“ Hilfe erflehen. Sie bringen den Menschen Glück und Besitz. Jedes Jahr wird in der zweiten Februarwoche das Fest des Hızır gefeiert. Hızır als Begriff nimmt einen wichtigen Platz im Alltag der Aleviten ein. Viele Aleviten geben ihre Gelöbnisse im Namen Hızır und bitten oder erflehen etwas in seinem Namen. „Hızır sei Dank“, „Hızır möge kommen“.

Vorschriften

aleviten8Die Glaubenslehre basiert auf der Entscheidungs- und Glaubensfreiheit des Menschen. Niemand hat eine Verpflichtung, etwas tun oder glauben zu müssen. Die Grundpfeiler der Vorschriften sind in diesem einen Satz "eline beline diline sahip ol" vereint:

elinesahip ol: Beherrsche deine Hände. Es steht für das negative Potenzial, wozu Hände im Stande sind, also: Begehe keinen Diebstahl, zerstöre nicht und nutze Deine Hände für etwas Sinnvolles.

belinesahip ol: Beherrsche deine Lende. Die Lende steht als Synonym für Triebe, insbesondere sexueller Natur.

dilinesahip ol: Beherrsche deine Zunge. Die Zunge steht für Kommunikation und dass sie oft durch Unwahrheiten, aber auch durch unbedacht gewählter Wortwahl missbraucht wird und letztendlich eventuell mehr Leid erzeugen kann als vielleicht ein Schwert (z. B. Meineid, Verleumdung, Rufmord). Die Verbote des Tötens, des Diebstahls, der Verleumdung und des Ehebruchs gelten für Aleviten gegenüber allen Menschen. Damit wollen sie die Menschlichkeit und das Zusammenleben aller Menschen fördern.

Vier Tore

•Das erste Tor ist die Scharia, d. h. die Annahme der Gesetze und Pflichten der Gemeinschaft, in der man lebt.

•Das zweite Tor ist die Kenntnis der individuellen Rechte und Ansprüche, die man selber hat und stellt; d. h. was begehre ich, was ist mein?

•Das dritte Tor ist die Erkenntnis des Nächsten; d. h. was begehrt der Mitmensch, was gehört dem Mitmenschen?

•Das Erreichen des vierten Tores setzt die Beschäftigung mit den Rechten und Pflichten der Gemeinschaft voraus.

Geschichte

aleviten4Aufgrund ihrer Unterdrückung im Osmanischen Reich wurden die meisten Aleviten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst Unterstützer Kemal Atatürks, da ein laizistischer Staat ohne Kalifat ihnen mehr Freiheiten gab. Durch die neuen Gesetze des Staates wurden jedoch auch alle alevitischen Orden und Sekten geschlossen. So wurde das Haci-Bektas-Veli-Tekke in Nevşehir zu einem Museum umgebaut. Trotz der gesetzlichen Besserung kam es in der jüngeren Geschichte der Türkei immer wieder zu Pogromen gegen Aleviten.

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