Ziyaret Tepe - Assyrer trauten nicht der Schrift allein

Ziyaret Tepe - Assyrer

"Die Erfindung von Aufzeichnungssystemen sind Meilensteine der menschlichen Geschichte. Jeder Fund, der dazu beitragen kann, diese Meilensteine zu erhellen, sind daher wichtige Hilfen, den Fortschritt der Menschheit nachzuvollziehen", sagt der Forscher John MacGinnis im Cambridge Archaeological Journal, 2014. Was ist der Hintergrund dieses Satzes?

Vor rund 6.000 Jahren unserer Zeitrechnung existierte in Mesopotamien bereits eine Stadt mit mehreren zehntausend Einwohnern, die Uruk genannt wurde. Um diese Metropole mit allem Lebensnotwendigem zu versorgen, war ein immenser Verwaltungsaufwand nötig, tausende von Arbeiten mussten koordiniert, verschiedenste Handelswaren bestellt, gehandelt und abgerechnet werden. Da es noch keine Schriftzeichen gab, behalfen sich die mesopotamischen Beamten mit kleinen Tonmarkern, einer Art von Zählsteinen, deren Form, Größe und Markierungen für bestimmten Waren oder Mengen standen, Tokens genannt.

Ziyaret Tepe, der Fundort im Südosten der Türkei

assyrer schriftzeichen 2Diese Tokens finden sich in Ausgrabungen bis etwa um 3.000 vor Christus. Dann aber breitete sich eine neue Erfindung im Zweistromland aus: die Keilschrift. Mit ihr wurde es erstmals möglich, Güter zu beschriften, Listen zu führen und Transaktionen nachhaltig zu dokumentieren. Von dieser Erfindung profitierten später auch die Assyrer, die bis etwa 600 vor Christus in Mesopotamien und Teilen Anatoliens herrschten. Für sie war Schrift längst selbstverständlicher Teil der Kultur. Die prähistorischen Tonmarken waren dagegen längst vergessen – so wenigstens dachte man bisher.

Ziyaret Tepe, der Fundort im Südosten der Türkei in der Provinz Diyarbakir ist durch den Bau des Ilisu-Staudamms gefährdet und wird bereits seit mehreren Jahren von Teams der Universitäten von Akron (Ohio), Cambridge, München, Mainz und Istanbul (Marmara Universität) in einem gemeinsamen Grabungsprojekt untersucht.

Der Grabungsbereich des Mainzer Teams

assyrer schriftzeichen 3Die Region des Oberen Tigris geriet in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. in den Herrschaftsbereich der Assyrer, die in dem Ort Tuschan ihre Provinzhauptstadt anlegten, das heutige Ziyaret Tepe. Nach historischen Inschriften des assyrischen Herrschers Assurnasirpal II. ist die Errichtung eines Verwaltungspalastes in Tuschan für das Jahr 882 v. Chr. gesichert. Der Grabungsbereich des Mainzer Teams umfasst den Bereich der Akropolis, der einst von diesem Statthalterpalast eingenommen worden sein muss. Teile des privaten Wohnbereichs und eines Hofes konnten bereits freigelegt und erforscht werden. Zur reichen Ausstattung der Haupträume gehören dabei nicht nur farbige Wandmalereien, sondern beispielsweise auch eine Einrichtung für einen Herdwagen. Geflieste Räume beweisen den hohen Wohnkomfort am Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends.

Zu den ungewöhnlichsten Entdeckungen zählen aber insgesamt nunmehr fünf Feuerbestattungen im Bereich eines großen Hofareals, von denen zwei ungestört waren und sehr reiche Beigaben enthielten. In den rund 1,50 m x 2,00 m großen rechteckigen Gruben kamen in einer beträchtlichen Schicht aus Asche verbrannte Knochen sowie zahlreiche Bronzegefäße, reiche Stein- und Elfenbeingefäße, gravierte Elfenbeineinlagen, Siegel und Perlen zutage. Diese Dinge zeigen den hohen Status der hier bestatteten Personen an, bei denen es sich um Palastbewohner gehandelt haben muss. Nächste Parallelen zu diesen Objekten finden sich in den assyrischen Hauptstädten Assur und Nimrud im heutigen Irak.

John MacGinnis von der University of Cambridge

Neben dem diesjährigen Fund der Brandbestattung fand sich zusätzlich unter dem Pflasterziegel des Hofes ein seltener Hortfund von über 20 Bronzegefäßen, darunter ein Kännchen, ein Weinschöpfgefäß, ein Sieb, mehrere Schalen und Becher, zumeist aus getriebener Bronze. Diese warten nun auf einen Restaurator, der ihre reichen Verzierungen freilegt, die unter der Korrosionsschicht bereits sichtbar sind.

Während der Ausgrabungen in dem Ruinenhügel von Ziyaret Tepe im Südosten der Türkei zeichnet sich nun jedoch ein ganz anderes Bild. John MacGinnis von der University of Cambridge in England und seine Kollegen untersuchten die Ruinen der Unterstadt, als sie einen überraschenden Fund machten:

In zwei Räumen eines Verwaltungsgebäudes in Ziyaret Tepe stießen sie nicht nur auf zahlreiche Tontafeln, Siegel und Gewichte, sondern auch auf mehr als 300 Tokens – einige in Form von simplen Kugeln oder Scheiben, andere dreieckig oder in stilisierter Stierkopfform. Datierungen zeigen, dass diese anachronistischen Verwaltungshilfen tatsächlich aus dem neuassyrischen Reich stammen – sie wurden demnach noch gut 2.000 Jahre nach Erfindung der Keilschrift hergestellt und offenbar intensiv genutzt, wie die Forscher berichten. Sie galten eigentlich als seit 5.000 Jahren "ausgestorben".

assyrer schriftzeichen 4Zu welchem Zweck die Assyrer ihre Tokens einsetzten, ist bisher allerdings nicht eindeutig zu belegen. Die Forscher vermuten allerdings, dass sie als temporäre Zählmarken für Vieh oder Getreide dienten: Jeder Bauer oder Viehhändler brachte einen Beutel mit diesen Tokens mit, die seine Waren repräsentierten. Während des Verkaufs wurden die Zählmarken dann von einem Beamten zum nächsten weitergereicht, bis sie schließlich in einer Art Warenausgabe ankamen.

Hatte der Käufer seine Ware erhalten, wurden die Daten endgültig auf Schrifttafeln festgehalten, die Tokens hatten ihre Aufgabe erfüllt. "Die Tokens bildeten ein wieder verwendbares System, mit dem der Stand der Transaktionen modifiziert und aktualisiert werden konnte, ohne dafür Tontafeln zu verschwenden", sagt John MacGinnis.

Die Funde belegen, dass die Assyrer die prähistorischen Ton-Tokens und die Keilschrift parallel nutzten. Im neuassyrischen Reich war die Kombination von Tokens und Schrifttafeln vermutlich Teil eines reichsweiten Administrations-Systems, wie die Forscher erklären. Denn auch in einer des Schreibens mächtigen Gesellschaft könne es sinnvoll sein, Informationen über mehrere Kanäle aufzuzeichnen.

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